Christina Caprez ist Soziologin und Historikerin, war Redaktorin beim SRF 2 Kultur und arbeitet nun als freie Journalistin und Autorin, unter anderem zum Thema Sexualität. In ihrem Buch «Queer Kids – 15 Porträts» porträtiert sie 15 Stimmen von Kindern und Jugendlichen, welche von ihrer persönlichen Lebensrealität rund um das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und Identität erzählen. Dabei wird schnell klar, dass dies ein brennendes Thema ist, welches die heutige Generation beschäftigt. Eine Buchrezension von Jasmin Kolb.
„Wenn queere Jugendliche in der Schule ein Ort hätten, an dem man ihnen zuhört, wäre das eine grosse Hilfe“ – Yaro, 20 Jahre
Das Thema der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt ist unter Jugendlichen heute aktueller denn je. Kinder und Jugendliche sind informierter als früher und queere Schüler:innen wagen häufiger ein Coming-out. In der letzten Zürcher Jugendbefragung waren es sogar 26% der weiblichen und 9% der männlichen Jugendlichen in der neunten Klasse, die sich immer mehr als nicht oder nicht ausschliesslich heterosexuell identifizieren. Studien über das Wohlbefinden von Schweizer LGBTQ+ -Jugendlichen in Schulen sind bisher nur vereinzelt vorhanden. Die Studie SOGUS beispielsweise konnte zeigen, dass sich über die Hälfte (58.4%) der queeren Jugendlichen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihrem Geschlecht oder Geschlechtsausdruck unwohl an der Schule fühlten (Ott et al., 2024). Dies besonders in Bezug auf Orte wie Umkleideräume, Toiletten, den Sportunterricht sowie durch individuelle Diskriminierung, das Fehlen von trans- und nicht-binär-sensibler Infrastruktur oder homofeindlichem Sprachgebrauch. Im Vergleich dazu fühlten sich 34.8% aufgrund keiner der befragten Gründe unwohl (Ott et al., 2024). Die Erfahrungen sind demnach divers.
Was es genau bedeutet als queerer Teenager in einer heteronormativen Gesellschaft aufzuwachsen, dem ging Christina Caprez nach. Sie hat über unterschiedliche Portale und Aufrufe 15 Kinder und Jugendliche aus einer Bandbreite von Lebensentwürfen – von der Grundschule bis zur Berufsschule oder dem Gymnasium, von Zugehörigkeit zur queeren Community bis hin zu Personen ausserhalb dieser, vom Leben auf dem Land bis in die Stadt oder vom Aufwachsen mit unterschiedlichen Sprachen und Religionen – gefunden und ihre Auseinandersetzung mit dem Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und Identität porträtiert. Zu Beginn der berührenden Portraits werden Eckdaten zum Treffen mit den Jugendlichen gegeben. Anschliessend kommen die Jugendlichen selbst zu Wort. Sie sprechen von ihren Erfahrungen mit der Selbstfindung, dem Coming-out, der ersten Liebe oder auch Beschimpfungen und Mobbing im Umfeld und der Schule. Beispielhaft wird am Ende des Beitrags ein Auszug dem Buch zu Benicio, 15 Jahre alt, gegeben. Benicio identifiziert sich als non-binär und benutzt das Pronomen They.
Weitere Portraits von Lia, die seitdem sie denken kann, ein Mädchen ist, obwohl sie als Junge geboren wurde, Corsin, der sich in seinem Bergdorf alleine fühlt und deshalb einen queeren Treffpunkt gründet oder Samira, die zum ersten Mal verliebt ist, können im Buch nachgelesen und empfunden werden. Das Buch bietet eine Gelegenheit sich mit dem Lebenswelten der queeren Jugendlichen auseinanderzusetzen und herzhafte sowie ehrliche Einblicke in ihre Erfahrungen zu bekommen. Ergänzt werden diese mit drei Expert:innengespräche, welche die persönlichen Geschichten in gesellschaftliche, psychologische und pädagogische Dimensionen eingebettet. Christina Caprez hat es meiner Meinung nach geschafft, die Geschichten authentisch und ehrlich für sich sprechen zu lassen.
Auszug aus dem Buch, S. 72ff.
«Es gibt viele Wege, wie man sich non-binär fühlen kann.»
Kommentar der Autorin: Auf der Suche nach einer non-binären Person mit einem männlichen Geschlechtseintrag meldet sich Benicio. They schreibt mir auf WhatsApp eine Nachricht auf Englisch. Das WhatsApp-Bild zeigt ein junges feminines Gesicht mit kinnlangen, blondierten Haaren. Die Augen sind dunkel geschminkt, die Schminke verläuft. Wir schreiben ein paarmal auf Englisch hin und her, ich denke, vielleicht ist Benicios Muttersprache Englisch, oder they sprich nicht so gut Deutsch. Dann stellt sich heraus, dass Benicio mit Schweizerdeutsch aufgewachsen ist, im Alltag aber viel Englisch schreibt und spricht. […]
Benicio: Die Linien zwischen Mädchen und Jungen waren unsichtbar. Ausser im Sport und im Aufklärungsunterricht, dort wurde die Klasse zweigeteilt. Mit uns Jungs haben sie über die Themen gesprochen, die uns betreffen. Themen wie Menstruation oder Schwangerschaft hat man mit uns nicht angeschaut. In der sechsten Klasse haben wir auch einmal über Queerness gesprochen. Da ging es um sexuelle Orientierung und transgender Identitäten, aber Non-Binarität war kein Thema. Davon habe ich erst in den sozialen Medien erfahren. Während der Pandemie wurden diese Themen auf TikTok gross. Ich sah Videos von queeren Menschen, die viele Begriffe erklärten. Das hat natürlich sehr geholfen. Als ich zum ersten Mal den Begriff «non-binär» hörte und dachte, das könnte ich sein, habe ich begonnen, viel zu recherchieren. Ein Gedanke war: Was, wenn ich mich gar nicht so fühle und das alles nur mache, um interessanter zu sein? Denn damals hiess es, das sei nur ein Trend. Darum habe ich viel gelesen, über Monate hinweg, um mir sicher zu sein, dass ich nicht einem Trend folge. Zuerst glaubte ich, dass «non-binär» ein sehr spezifischer, genauer Begriff sei. Jetzt aber denke ich, es gibt viele Wege, wie man sich non-binär fühlen kann. Es ist okay, wenn ich mich auf meine Art fühle. Ich kam zum Schluss: Ich muss nicht so lange darüber nachdenken, welches Label für mich funktioniert. Es beschreibt mich irgendwie, und ich mag es! Ich nehme es einfach!
«Es gibt die Vorstellung: Wenn man seinen Körper nicht verändern will, kann man nicht wirklich trans oder non-binär sein.»
Am Anfang war es wichtig für mich, Wörter zu haben, um mich zu beschreiben. Aber das Ding mit den Labels ist: Sie verändern sich immer, auch im inklusiver zu werden. Man muss gefühlt sehr up to date sein. Gleichzeitig sind Definitionen generell sehr schwammig, denn sie bedeuten für jede Person etwas anderes. Ich glaube, es gibt keine genaue Definition von Identitäten. Zugleich spüren einige Leute das Bedürfnis, unbedingt ein Label zu haben. Andere wiederum wollen gar keins. Es ist beides sehr okay. [...]
INFOBOX
Fach- und Führungspersonen, die sich für die Entwicklung einer LGBTQIA+-freundlichen Schule interessieren, können sich im Modul «Queer Kids – wie geht es ihnen und was brauchen sie?» mit den queeren Lebensrealitäten und Bedürfnissen von Jugendlichen auseinandersetzen und lernen durch die Autorin Christina Caprez selbst Grundsätze sowie praktische Anwendungsbeispiele für eine diversitätssensible Schule kennen. Die Anmeldung kann über folgenden Link bis zum 22. Mai 2026 gemacht werden.
Zu den Autorinnen

Jasmin Kolb hat pädagogische Psychologie an der Universität Fribourg studiert und arbeitet im Zentrum Management und Leadership als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Sie beschäftigt sich vor allem mit wissenschaftlichen Evaluationen und der Weiterentwicklung der Schulleitungsausbildung.

Heike Beuschlein leitet das Zentrum Schule und Entwicklung. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt in der Weiterbildung und Begleitungen von Schulleitungen und Schulteams in Entwicklungsprozessen. Sie ist in verschiedenen Projekten engagiert und in Beratungen von Führungspersonen tätig.
Redaktion: Jasmin Kolb
Titelbild: Christina Caprez und Judith Schönenberger
Literaturverzeichnis:
Caprez, Christina. Queer Kids: 15 Porträts. Zürich: Limmat Verlag, 2024. Mit Fotografien von Judith Schönenberger und Interviews mit den Fachpersonen Ad J. Ott (Forschung zu LGBTQ+ an Schulen), Lydia Staniszewski (Schulsozialarbeit) und Dagmar Pauli (Medizin im Umgang mit jungen trans Menschen).
Ott, Ad J., Janine Lüthi, Christa Kappler, Monika Hofmann, und Michèle Amacker. Die Situation von LGBTQ+ Jugendlichen in Deutschschweizer Schulen: Forschungsbericht des Projektes SOGUS – Sexuelle Orientierung, Geschlecht und Schule. Bern: Universität Bern; PHBern; PH Zürich, 2024. https://doi.org/10.48350/190611