Beim Spiel «IQ 110», einem äusserst unfairen Spiel, können die Teilnehmenden Bildungsungerechtigkeit am eigenen Leib erfahren. Jasmin Kolb und Niels Anderegg, welche das Spiel aus dem englischen übersetzt und auf die Verhältnisse an Schulen im deutschsprachigen Raum angepasst haben, erzählen von ihren Spielerfahrungen,warum es für jede Lehrer:in und Schulleiter:in wichtig wäre, das Spiel zu spielen, umüber Bildungs(un)gerechtigkeit an der eigenen Schule zu sprechen und zu schauen, wo die Schule einen Beitrag zu einer bildungsgerechteren Schule leisten kann.
Jessica und Can
Für eine Stunde bin ich (Jasmin) in die Rolle von Jessica geschlüpft. Ich bin sieben Jahre alt, lebe mit meinen Eltern in der Nähe einer grösseren Stadt direkt am See in einem grossen Haus und besuche die erste Klasse. In der Freizeit mache ich mit meinen Eltern viele Ausflüge und mindestens zweimal im Jahr fliegen wir für zwei Wochen in die Ferien. Wir drei sind ein gutes Team. Nun freue ich mich auf das erste Schuljahr.
Ich (Niels) lebe in der gleichen Ortschaft wie Jessica, jedoch nicht am See. Mit meiner Mutter und meine drei älteren Geschwister wohnen wir in einer 3-Zimmer Wohnung. Ich teile mein Zimmer mit einer Schwester, welche fünf Jahre älter ist als ich. Meine Mutter arbeitet in einem Pflegeheim und kommt am Abend häufig müde nach Hause. Während meine Mutter arbeitet, bin ich meistens bei einer Tagesmutter. Am schönsten ist es, wenn meine Mutter in der Nacht arbeitet. Dann ist sie am Nachmittag wach und hat Zeit, um mit mir zu spielen. Auch ich komme in die erste Klasse. Ach, ja: Mein Name ist Can.
Neben uns beiden spielen noch drei weitere Kolleg:innen mit. Wir alle sind in die Rolle von unterschiedlichen Personen geschlüpft. Das Einzige, was uns verbindet, ist unser Intelligenzquotient: Wir haben alle einen IQ von 110, sind also gleich intelligent und werden alle erfolgreich durch die Schule kommen. Oder?
Und los geht es
Das Schuljahr beginnt und wir starten alle motiviert in der ersten Klasse. Mit dem Eintritt in die erste Klasse haben wir die Möglichkeit in der Musikschule ein Instrument zu lernen. Jessica beginnt mit dem Geigenunterricht und hat zum Geburtstag eine eigene Geige erhalten. Für die Mutter von Can sind die Kosten für die Musikschule zu hoch. «Jungs spielen sowieso lieber Fussball» meint der Klassenlehrer zu Can und lächelt ihn an. Leider sind aber auch die Kosten für den Fussballverein zu hoch, so dass Can zu Hause sich die Zeit vertreibt. Zum Glück kann er das alte Handy seiner Schwester benutzen. Sie macht bereits eine Lehre und kann hat sich von ihrem Lohn ein neues gekauft.
Sowohl Jessica als auch Can haben Mühe beim Lesen. Eine Abklärung bei Jessica hat ergeben, dass sie unter einer Legasthenie leidet und erhält seither jede Woche eine Therapiestunde. Can geht zweimal in der Woche ins «Deutsch als Zweitsprache», da seine Mutter nur gebrochen Deutsch spricht. Die Familie spricht zu Hause eine andere Muttersprache.
Das Spiel geht weiter und während Jessica immer mehr grüne Punkte für ihren Schulerfolg gewinnt, türmen sich bei Can die roten Punkte, für seinen Misserfolg. Unterdessen in der Mittelstufe angekommen, stellt sich die Frage, welche Unterstützung die einzelnen Kinder bei der Vorbereitung auf Prüfungen erhalten. Neben grünen Punkten sammelt Jessica unterdessen auch noch gute Noten, während bei Can weiterhin alles im roten Bereich ist.
Selektion in die Oberstufe
Am Ende der Primarschulzeit stellt sich die Frage der Selektion in die Oberstufe. Die vermeidlich «objektiven» Kriterien wie Noten oder grüne oder rote Punkte sprechen eine deutliche Sprache und so ist man sich beim Spiel schnell einige, wer ins Gymnasium geht und wer in einem tieferen Niveau «besser» aufgehoben ist.
Der Unmut in der Spielgruppe wird immer deutlicher spürbar. Irgendwann unterbricht eine Kollegin das Spiel, weil sie es nicht mehr aushält. Zuzuschauen, wie sich bei Jessica die grünen Punke stapeln, ohne dass sie dafür etwas machen muss, und gleichzeitig die roten Punkte vor sich zu sehen und keine Chance zu haben, diese abzuwenden, mache sie einfach nur wütend. «Wenn jetzt noch eine Schulleitung am Übertrittselternabend davon spricht, dass es halt unterschiedlich intelligente Kinder gibt und wir zum Glück ein durchlässiges Schulsystem haben … ich würde ihm an die Gurgel».
In der Gruppe entsteht der Eindruck, dass die Bildungswege der verschiedenen Kinder wie auf Schienen verlaufen und es keine Weichen gibt. Dieses Bild symbolisiert die Schwierigkeit, dass Bildungsgerechtigkeit ein gesellschaftliches Problem ist und von der Schule nicht (alleine) gelöst werden kann.
Zum Glück gibt es aber ab und zu auch Weichen und diese sind auch im Spiel eingebaut.
Glück haben oder gezielt intervenieren
Manchmal braucht man im Leben Glück. Ein solches könnte zum Beispiel sein, dass Jessica und Can sich anfreunden und Can häufig seine Hausaufgaben zusammen mit Jessica bei ihr zu Hause machen kann. Plötzlich werden die Dinge einfacher. Die Mutter von Jessica lobt Can für seine gute Leistungen und trägt dazu bei, dass sein Selbstbewusstsein steigt. Seine Noten werden besser und dass die Mutter von Jessica dem Klassenlehrer erzählt hat, wie intelligent Can sei, war sicher auch nicht zu seinem Nachteil. Ausserdem kann er mit Jessica Geige üben.
Wären wir in einem Hollywood-Film, würden die beiden gemeinsam für die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium üben, diese knapp, aber erfolgreich meistern und die Welt erobern. Hollywood widerspiegelt jedoch selten das Leben und so ist es wahrscheinlicher, dass die Freundschaft bald wieder abflacht – oder gar nicht entsteht – da man doch eher im eigenen Kulturkreis verkehrt. Ausser – und hier kommt die Chance für die Schule – man fordert das Glück hinaus.
Gelingt es innerhalb einer Klasse oder Schule ein gemeinsames Miteinander zu erzeugen, bei welchem soziale Zugehörigkeiten sekundär sind, steigen die Chance für eine Freundschaft zwischen Jessica und Can und einem Happy End.
Die Schule hat aber auch andere Möglichkeiten direkt zu intervenieren und für einzelne Kinder allenfalls etwas mehr Bildungsgerechtigkeit zu erzeugen. Welche? Diese Diskussion muss innerhalb der Spielgruppe kreativ geführt und entschieden werden. Wie auch in der Schule, gibt es auch im Spiel keine Patentrezepte.
IQ110 Das wirklich unfaire Spiel
Das Spiel IQ110 wurde von Studierende und Dozierende der Fachhochschule im Amsterdam entwickelt und herausgeben. Niels Anderegg hatte das Glück, das Spiel im Rahmen einer Studienreise kennengelernt und mit in die Schweiz gebracht zu haben. Gemeinsam mit Jasmin Kolb wurde das Spiel sprachlich und kulturell übersetzt und in verschiedenen Spielrunden weiterentwickelt. Verschiedene wertvolle Hinweise von Kolleg:innen der Hochschule und Schulleitenden haben das Spiel schrittweise bereichert.
Am Symposium Personalmanagement bieten Jasmin Kolb und Niels Anderegg ein Forum an, in welchem das Spiel gemeinsam gespielt und Bildungsungerechtigkeit am eigenen Leib spürbar wird.
Später soll das Spiel bei einem Verlag veröffentlicht werden, so dass möglichst viele Menschen in und ausserhalb von Schulen dieses Spielen spielen und gemeinsam über das Thema ins Gespräch kommen. Dies in der Hoffnung, dass sowohl Jessica als auch Can ihrem IQ entsprechende Bildung erhalten.
INFOBOX
Wer Lust hat mitzuspielen hat die Möglichkeit am Symposium Personalmanagement, bei welchen Jasmin Kolb und Niels Anderegg ein Forum dazu anbieten. Das Symposium Personalmanagement findet am Freitagnachmittag, 23. Mai 2025 an der Pädagogischen Hochschule Zürich direkt neben dem Hauptbahnhof statt. In diesem Jahr steht die Tagung unter dem Thema «Bildungsgerechtigkeit». Mittels verschiedener Referate, Foren und Geschichten erwartet die Teilnehmenden ein vielseitiges, anregendes Programm, welches auf Führungspersonen von Bildungsorganisationen zugeschnitten ist. Der abschliessende Apéro bietet zudem eine gute Gelegenheit zur Vertiefung mit Kolleg:innen und Vernetzung. Aud Grund des Themas findet das Symposium in diesem Jahr in Kooperation zwischen der PHZH, dem Institut Unterstrass und dem Verein Surprise statt.
Zu den Autor:innen

Niels Anderegg leitet das Zentrum Management und Leadership an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Leadership for Learning, Teacher Leadership und Professionalisierung von Führungspersonen von und in Bildungsorganisationen.

Jasmin Kolb hat pädagogische Psychologie an der Universität Fribourg studiert und arbeitet im Zentrum Management und Leadership als wissenschaftliche Assistentin. Sie beschäftigt sich vor allem mit wissenschaftlichen Evaluationen und der Weiterentwicklung der Schulleitungsausbildung.
Redaktion: Jasmin Kolb
Titelbild: Ausschreibungsbroschüre DAS Schulführung PH Zürich