«Ich habe den subjektiven Eindruck, dass der Umgang mit den Schulschliessungen den Schulen im Kanton Zürich besser gelungen ist, als beispielweise vielen Schulen in Deutschland», vermutet Niels Anderegg und macht die hohe Autonomie, welche Zürcher Schulleitungen haben, mitverantwortlich dafür.
Neben dem vielen Schrecklichen der Coronazeit gab es auch einige Dinge, welche mich beeindruckt haben. Etwas davon ist die Art und Weise, wie es vielen Schulen im Kanton Zürich gelungen ist, mit dieser schwierigen und unerwarteten Situation umzugehen. Ich habe den subjektiven Eindruck, dass der Umgang mit den Schulschliessungen den Schulen im Kanton Zürich besser gelungen ist als beispielsweise vielen Schulen in Deutschland. Dies hat, so meine Vermutung, mit der hohen Autonomie zu tun, welche Zürcher Schulleitungen haben. Dadurch sind sie sich stärker gewohnt Verantwortung zu übernehmen und konnten über die Jahre diesbezüglich Kompetenzen aufbauen.
Die Schulleitungen im Kanton Zürich und in vielen anderen Kantonen haben eine hohe Autonomie und sind sich gewohnt, dass sie für viele Dinge Verantwortung übernehmen müssen und gestalten können. In den Erzählungen über den Umgang mit der Pandemie habe ich viele Beispiele von Verantwortungsübernahme und Gestalten gehört. Eine Schulleiterin erzählte, dass sie noch am Freitag nach dem Entscheid des Bundesrates, sofort den ICT-Supporter an ihrer Schule angerufen hat. Sie vereinbarte mit ihm, dass in der ersten Woche die Betreuung der Schülerinnen und Schüler seiner Klasse von der Heilpädagogin und einer Fachlehrerin übernommen werden, damit er Zeit hat, um im Bereich ICT Führung zu übernehmen und die Lehrerinnen und Lehrer zu unterstützen. Gemeinsam haben sie über das Wochenende ein Konzept erstellt, welches am Montag im Kollegium vernehmlasst und dann umgesetzt wurde. Der ICT-Supporter hat Führung übernommen und damit die Schulleitung und die Lehrer*innen entlastet.
Eine andere Schulleiterin erzählte, wie froh sie war, dass ihre Schule in pädagogischen Teams organisiert ist. Am Montag hat sie zusammen mit den Leitungen der pädagogischen Teams die Rahmenbedingungen abgestimmt. Danach wurde in den einzelnen pädagogischen Teams gemeinsam Lösungen für das Fernlernen der jeweiligen Stufe erarbeitet. Jeden Abend haben sich die Leitungen der pädagogischen Teams und der Schulleitung kurz über eine Onlineplattform ausgetauscht, offene Fragen geklärt und das weitere Vorgehen koordiniert. «Durch diese Struktur waren wir sehr effizient und gleichzeitig haben wir als ganze Schule agiert», erzählte die Schulleiterin zurecht mit Stolz.
«Wir haben in dieser Zeit viel voneinander gelernt», meinte eine andere Schulleiterin. «Obwohl wir uns nur über den Bildschirm sahen: Wir hatten wohl selten so viele, intensive und auch produktive Diskussionen über pädagogische Fragen. In kurzer Zeit musste Vieles geleistet werden und allen war klar, dass sie dies nur gemeinsam bewältigen konnten. Wir kamen so richtig in den Flow.» Trotzdem ist die Schulleiterin froh, dass langsam aber sicher wieder Normalität in den Schulen einkehrt – und dass nun bald Sommerferien sind.
Der Umgang mit der Coronakrise zeigt einmal mehr, wie wichtig eine gute Führung an Schulen ist. Michael Fullan hat einmal geschrieben, dass Schulleiterinnen und Schulleiter «Learning Leaders» sind. Mit diesem Begriff verdeutlicht er zwei Dinge:
Einerseits hat auch die Schulführung die Aufgabe, das Lernen, die Bildung der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Die wesentliche Frage während der Schulschliessung war nicht, ob und wie Onlineplattformen funktionieren, sondern die Pflege der Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern über die Distanz oder die Sorge um die Förderung und dem Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen, deren Eltern wenig Unterstützung bieten können. Letztlich geht es um den pädagogischen Auftrag der Schule.
Andererseits meint Fullan mit «Learning Leaders» auch, dass die Führungspersonen – und auch die Lehrerinnen und Lehrer – sich als Lernende verstehen müssen. Die Coronakrise hat sehr deutlich gezeigt, dass Führungspersonen immer wieder vor Fragen und Aufgaben stehen, für die es keine Rezepte gibt. Lösungen mussten gesucht, Wege beschritten und evaluiert und Erkenntnisse generiert werden. Führung in diesem Verständnis führt zu einem individuellen, aber auch organisationalen Lernen: Learning Leaders!
Die Coronakrise hat mir wieder einmal deutlich vor Augen geführt, wie wesentlich die Professionalisierung von Führungspersonen in und von Bildungsorganisationen ist. Dabei kennt die Professionalisierung verschiedene Formen:
- Führungspersonen tauschen sich untereinander aus, sei es in einer Lerngruppe, Intervision oder einem Mentoring und lernen voneinander
- Führungspersonen reflektieren ihr eigenes Handeln, sei es für sich selbst oder in einem Coaching und lernen so von sich selbst
- Führungspersonen eigenen sich neues Wissen an, Lesen Bücher, besuchen Tagungen und Weiterbildungsveranstaltungen und lernen so von und mit anderen
Die Formen der Professionalisierung von Führungspersonen sind vielfältig und müssen es auch sein. Führung zu lernen bedeutet eine stetige Weiterentwicklung «on and off the job». Wir sind gerade daran verschiedene Kurzfilme mit Führungspersonen zu drehen, wo wir der Frage nachgehen «Wie und wo lernst du als Führungsperson?» Ich bin sehr gespannt auf diese Portraits und hoffe, dass wir im Herbst ein erstes präsentieren können.
Die Coronakriste zeigte auch, dass Führung mehr als das Agieren der Schulleitung ist. Für einen erfolgreichen Umgang mit der Krise ist es wesentlich, dass viele Personen Verantwortung übernehmen und dies koordiniert geschieht. Ich bin überzeugt, dass dies der Entwicklungsschritt ist, den die Schulen in den deutschsprachigen Kantonen in den nächsten zehn Jahren gehen werden.
Meine Überzeugung hat nicht nur damit zu tun, dass im weltweiten wissenschaftlichen Diskurs Distributed Leadership für das Führen von lernwirksamen Schulen als sehr erfolgreich angesehen wird. Wir haben in den meisten deutschsprachigen Kantonen seit 10 bis 20 Jahren Schulleitungen. Zur Einführung dieser neuen Funktion brauchte es teilweise eine Hierarchisierung des Systems.
Heute, wo Schulleitungen akzeptiert sind und die Qualität einer professionellen Führung geschätzt wird, braucht es diese Betonung der Hierarchien nicht mehr. Führung kann nun sehr viel stärker systemisch betrachtet und auf verschiedene Schultern verteilt werden. Und damit meine ich das Gegenteil einer Schwächung der Schulleitung. Wenn verschiedene Personen in unterschiedlichen Bereichen und Themen Führung und Verantwortung übernehmen, dann kann sich die Schulleitung auf ihre Kernfrage konzentrieren. Sie kann, wie eine unserer Facetten lernwirksamen Schulleitungshandeln heisst, «das Ganze im Blick haben» und dafür sorgen, dass gemeinsam die «gute Schule» jeden Tag gestaltet und weiterentwickelt wird.
INFOBOX Das Zentrum Management und Leadership hat im hep-Verlag die Buchreihe «Führung von und in Bildungsorganisationen» gegründet. Der erste Band erscheint im November 2020 und beschäftigt sich mit dem Thema «Teacher Leadership: Schule gemeinschaftlich führen» und nimmt den in diesem Blogbeitrag angesprochene Diskurs auf. Der Band, der von Nina-Cathrin Strauss und Niels Anderegg herausgegeben wird, will das international diskutierte Thema für den deutschsprachigen Raum greifbar machen.
Zum Autor
Niels Anderegg leitet an der PH Zürich das Zentrum Management und Leadership. In seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit befasst er sich mit dem Zusammenhang von Führung und Lernen. Er interessiert sich für die Frage, was eine «gute Schule» ist und was Führungspersonen dazu beitragen können. Unter anderem leitet er den Lehrgang «Pädagogische Schulführung» und «Schulführung und Inklusion».
Hier geht’s zu einem weiteren Blogbeitrag von Niels Anderegg zum Thema Berufsverständnis: «Chunsch cho bastle?»
Redaktion: Jörg Berger
Titelbild: Needpix.com