Text: Stefanie Dernbach-Stolz
Zielgruppenorientierung: ein (zu hinterfragendes) Konzept für die Programm- und Angebotsplanung in der Weiterbildung
Schreibt ein Weiterbildungsanbieter einen Kurs mit dem Titel «Pilates in der Schwangerschaft» aus, dann ist klar eingegrenzt, an welche Zielgruppe das Angebot adressiert ist. Bei «Deutsch für Migrant:innen» oder «Make-up/Schminken für die reife Frau» ist weit weniger klar, an welche potentiellen Teilnehmenden sich die Angebote richten. Sogleich stellen sich Fragen: Ab wann ist man eine reife Frau? Oder: An welche Migrant:innen richtet sich der Kurs genau? Reichen doch Migrationserfahrungen von Flucht bis hin zu wohlsituierten Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Karriere migrieren. Dennoch wird wie selbstverständlich von Bildungsarbeit mit Älteren, Migrantinnen, Studierenden, etc. gesprochen (Bremer 2010), obwohl eine differenzierte Perspektive auf die Zielgruppen notwendig wäre.
Was bedeutet Zielgruppenorientierung?
Doch was genau versteht man unter Zielgruppenorientierung und wie grenzt sich diese von den ebenfalls häufig verwendeten Begriffen der Teilnehmenden- oder Adressatenorientierung ab? Ein Blick in die Literatur zeigt, dass sowohl in der Theorie als auch in der Praxis die Begriffe unterschiedlich definiert und teils synonym verwendet werden (v. Hippel 2019). Ein praktikables Verständnis unterscheidet wie folgt zwischen den Begrifflichkeiten:
- Adressatinnen und Adressaten sind die Personen, die generell durch Erwachsenenbildung erreicht werden sollen.
- Unter der Zielgruppe versteht man die Adressat:innen, die sich durch gleiche soziodemographische bzw. -strukturelle Merkmale (bspw. Alter, Lebensphase oder berufliche Situation) zusammenfassen lassen.
- Die Teilnehmenden sind die Personen, die eine Weiterbildung besuchen.
(Faulstich & Zeuner 1999, v. Hippel 2019)
Das Konzept der Zielgruppenorientierung ist nicht neu, denn bereits seit den 1960er Jahren wurde sich sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis der Erwachsenenbildung verstärkt damit auseinandergesetzt. Bis heute bildet es ein essenzielles Element der Programm- und Angebotsplanung. Die Idee dahinter ist, dass durch die Bildung von Gruppen, wie Ältere, Frauen, Arbeitslose, Migrant: innen, Arbeiter:innen, Eltern, etc. den Bildungsbedürfnissen der Weiterbildungsteilnehmenden besser entsprochen werden kann. Den nach soziodemographischen und soziostrukturellen Merkmalen gebildeten Zielgruppen werden aufgrund ihrer Lebenssituation bestimmte Bedürfnisse und auch Benachteiligungen zugeschrieben, aus denen ein spezifischer Bildungsbedarf definiert wird (Bremer 2010). Die Bildung von Zielgruppen ermöglicht es Weiterbildungsanbietern möglichst passgenaue und bedarfsorientierte Bildungsangebote zu planen.
Wie die oben aufgeführten Beispiele von Kurstiteln bereits verdeutlichen, können Zielgruppenzuschreibungen den potenziellen Teilnehmenden bzw. deren Bildungsbedürfnissen nur zum Teil gerecht werden. Auch darum, weil diese Zuschreibungen auf äusseren Merkmalen beruhen, von denen nicht auf die innere Haltung und Bildungsaffinitäten der Individuen geschlossen werden kann (Bremer 2010). Dementsprechend können Weiterbildungsanbieter nicht von einer fest definierten Zielgruppe ausgehen, zumal sich die Lebensverhältnisse und auch Bildungsbedürfnisse immer weiter ausdifferenzieren und individualisieren. So lässt sich die Zielgruppe «Ältere» nur schon oberflächlich betrachtet bspw. in Senior:innen mit/ohne Hochschulabschluss oder mit/ohne körperliche Beeinträchtigungen unterteilen, womit unterschiedliche Weiterbildungsbedürfnisse einhergehen.
Milieuorientierte Planung von Weiterbildungsangeboten
Eine differenziertere Betrachtung der Zielgruppen ermöglicht der Ansatz der sozialen Milieus, der weniger sozialdemografische Faktoren berücksichtigt, sondern auf das Alltagshandeln und -einstellungen der Individuen fokussiert. Unter Milieus werden Gruppen von Menschen in vergleichbarer sozialer Lage, Lebensführung und Alltagspraxen verstanden. Sie teilen ähnliche Wertehaltungen, Vorlieben und Einstellungen zur Gesellschaft, Arbeit, etc. (Barth et al. 2018).
Die verschiedenen Milieus, Bremer (2021) unterscheidet bspw. nach oberen, respektablen und unterprivilegierten Milieus, haben mit Blick auf die Teilnahme an Weiterbildung unterschiedliche Motivationen, Bildungspraxen und Zugänge zu Bildung, wie die folgende Tabelle in vereinfachter Form aufzeigt:
Grundmuster der Bildungsmotivation | Bildungspraxis und Zugang zu Bildung | |
Obere Milieus | Selbstverwirklichung und Identität | Selbstsicher und aktiv suchend |
Respektable Milieus | Nützlichkeit und Anerkennung | Pragmatische Horizonterweiterung Teilnahme über soziale Netzwerke |
Unterprivilegierte Milieus | Notwendigkeit und Mithalten | Bildung als Bürde Unsicherheit «aufsuchende Bildungsarbeit» |
Die Motivation zur Teilnahme an, die Erwartungen an und die Zugänge zu Weiterbildung unterscheiden sich je nach Milieuzugehörigkeit. So ergänzt der Ansatz der sozialen Milieus das Konzept der Zielgruppenorientierung durch eine wertvolle Perspektive. Innerhalb einer Zielgruppe wie bspw. den Migrant:innen erfordert es auf das jeweilige Milieu bezogene spezifische Strategien der Ausgestaltung, Ansprache und Bewerbung, die bei der Planung eines Angebotes mit berücksichtigt werden müssen. Möchte man bspw. einen Sprach- oder Bewerbungskurs für eher bildungsungewohnte Migrant:innen anbieten, braucht es einen sehr niederschwelligen Zugang, um die Teilnahme an Weiterbildung zu ermöglichen. Konzepte wie Lernstuben oder die «aufsuchende Bildungsarbeit» bieten eine solche Möglichkeit.
INFOBOX
CAS Weiterbildungsdesign
Die Planung von Weiterbildungsangeboten wird immer anspruchsvoller. Die Ansprüche der Zielgruppen wandeln sich und die Bildungsbedürfnisse der Teilnehmenden werden immer heterogener. Die damit verbundenen, veränderten Lehr- und Lernkonzepte fordern eine diversifiziertere Programm- und Angebotsplanung.
Der CAS Weiterbildungsdesign befähigt Sie dazu, als Fachspezialist:in für Weiterbildungsdesign zeitgemässe und wirksame Bildungsprogramme in der Weiterbildung zu konzipieren. Behandelt werden sowohl grundlegende Anforderungen als auch innovative Tendenzen in der Programmplanung und Konzeptentwicklung. Ein eigenes, von Expert:innen begleitetes Bildungsprojekt ermöglicht es Ihnen zudem, neue Entwicklungen in Ihrem Kontext zu erproben und umzusetzen.
Der Lehrgang startet am 25. September 2024, gerne dürfen Sie sich bis 25. August anmelden. Hier geht es zur Anmeldung.
Infoveranstaltungen zum CAS Weiterbildungsdesign
- Dienstag, 16. Juli 2024, 17–18 Uhr, online
- Mittwoch, 21. August 2024, 17–18 Uhr, online
Einzeln buchbare Module
Oder interessieren Sie sich für spezifische Fragen zur Planung von Weiterbildungsangeboten? Die folgenden Module aus dem CAS Weiterbildungsdesign sind auch einzeln buchbar, vielleicht sind sie von Interesse für Sie:
- Weiterbildungsbeteiligung und Lernen Erwachsener – Förderliche Bedingungen und Barrieren: 23.10.–5.12.2024
- Angebotsentwicklung – Didaktische Gestaltung von Bildungsangeboten: 13.1.–14.3.2025
Zur Autorin
Stefanie Dernbach-Stolz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Sie ist Co-Leiterin des CAS Weiterbildungsdesign.