ChatGPT und KI im Bildungswesen – Disruption, Revolution oder hatten wir alles schon?

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Text: Barbara Getto und Selina Valdivia Rojas

Mischt KI (Künstliche Intelligenz) jetzt das Bildungswesen auf? Zumindest hat es zurzeit den Anschein, als ob sich mit der neuen Technologie ChatGPT eine erdbebengleiche Erschütterung durch die Bildungslandschaft zieht. Zu Recht? (Zu) oft schon hatten wir die Hoffnung – oder Befürchtung –, das Aufkommen einer neuen Technologie würde die Bildung grundsätzlich verändern. Zeit für eine Einordnung. Gerade weil es sich um ein teilweise so schwer greifbares Thema handelt und die Implikationen so tiefgreifend scheinen, ist der Diskurs darüber so wichtig. Uns interessiert hier insbesondere die Frage, was die neue Technologie für die Hochschulbildung bedeutet.

Beginnen wir mit einer begrifflichen Einordnung.

«Schreibt wie ein Mensch»

Was ist denn eigentlich eine «Künstliche Intelligenz» (KI)? Eine KI ist nichts anderes als ein menschgemachtes statistisches Modell. Jeder KI liegt eine Auswahl von Daten sogenannten Trainingsdaten zu Grunde. Anhand dieser Trainingsdaten und einem Input berechnet der Sprachgenerator das statistisch wahrscheinlichste nächste Wort, damit den statistisch wahrscheinlichsten nächsten Satz und somit einen statistisch wahrscheinlichen Text. Eine KI ist höchstens so gut wie ihre Trainingsdaten. Ein Beispiel: Wenn eine KI mit Daten bzw. Texten trainiert wird, in denen auf das Wort «ich» oft das Wort «bin» folgt, wird diese KI Texte produzieren, in denen «bin» oft auf «ich» folgt. Dieses Konzept ist nicht neu; Autokorrektur, die mehr oder weniger sinnvoll korrigiert, findet sich seit einigen Jahren auf jedem Smartphone.

Ein Student spricht mit einer KI. (Quelle: Adobe Stock)

Was ist denn so neu an ChatGPT? GPT steht für «Generative Pre-trained Transformer», also generativ vortrainierter Transformator. Diese Sprach-KI wurde mit Textdaten aus dem Internet mit insgesamt etwa 500 Milliarden Wörtern (das wäre fast 20’000 Mal die gesamte Brockhaus Ausgabe)  darauf trainiert, selbst Texte zu generieren – und zwar möglichst menschenähnliche. ChatGPT nutzt einen sogenannten Transformer, ein neuronales Netzwerk, das 2017 von KI-Spezialistinnen und -Spezialisten sowie Programmierer:innen bei Google entwickelt wurde. Bisher gelang es keinem Chatbot, derart menschenähnliche Texte zu produzieren. Wörter werden in Tokens zerlegt. Die Zerlegung in Tokens basiert auch auf der Semantik eines Wortes und nicht nur vor allem auf der Syntax wie bei bisherigen «autocomplete» Systemen. Die Texte sind auf einem sprachlich sehr hohen Niveau und beeindrucken mit perfekter Grammatik. ChatGPT kann darüber hinaus sein Register anpassen und wie bestimmte Personen schreiben. Das lädt zu interessanten Spielereien ein, so kann man zum Beispiel ChatGPT Gedichte über die Digitalisierung im Stil von Goethe verfassen lassen (Stichworte: Shakespeare, 1. Jahr Bachelorstudentin, Kind).

Goethe hat keine Gedichte über die Digitalisierung geschrieben; ist das also neu, was ChatGPT produziert?  Es sind keine genuin neuen Texte, die hier entstehen. Ein Text von ChatGPT ist eher vergleichbar mit einem Mosaik aus 1.000.000 Teilen, die immer wieder neu zusammengesetzt werden. Allein die Menge der Trainingsdaten erweckt den Anschein, dass ChatGPT neue Sachen produziert. Die Konversation mit dem Chat-Roboter beeindruckt.

Ist die aktuelle Aufregung angebracht?

Das Aufkommen neuer digitaler Technologien ist nichts Neues und das Potenzial von KI-basierten Tools und Diensten für die Bildung ist (eigentlich) bekannt. Warum also die Vielzahl an Beiträgen, Diskussionsrunden, verunsicherte Lehrpersonen, Hochschulen, die mit Verboten reagieren, etc.?

Hier zeichnet sich ein bekanntes Reaktionsmuster im Kontext der Digitalisierung ab, das auch im Bildungsbereich sichtbar wird: Neuen Technologien wird (positiv oder negativ) eine enorme Wirkung zugeschrieben. Diese emotionalen Reaktionen variieren naturgemäss zwischen Euphorie und Angst. So wird ChatGPT eine enorme Zerstörungskraft vorhergesagt und mit starken Bildern untermalt: «ChatGPT kommt wie ein Erdbeben über uns», oder: «Die zermalmende Macht des KI-Konformismus – ChatGPT ist eine trojanische Bombe». Auf der anderen Seite wird Fortschritt und Verbesserung prophezeit: «ChatGPT und Schule: Hausaufgaben werden sich grundlegend ändern» oder gar «ChatGPT kann zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen».

Ob sich diese Hoffnungen und Befürchtungen bewahrheiten werden, werden wir sehen. «Abwarten» möchten wir hier sehr bewusst nicht empfehlen. Ein massentaugliches dialogbasiertes KI-System wie ChatGPT demonstriert einer breiten Öffentlichkeit, was KI alles kann. Damit eröffnet sich auch die Chance (und die Notwendigkeit!) über die Implikationen, Risiken und Potenziale zu sprechen.

Was bedeutet ChatGPT für die Hochschulbildung?

Die Stimmung an den Hochschulen schwankt entsprechend zwischen Begeisterung über die Leistungsfähigkeit der KI-Bots, der Verwunderung über die neuen Möglichkeiten bis zur Sorge um eine Plagiatsmaschine. Innerhalb von weniger als einem Jahr seit der Veröffentlichung hat der mit künstlicher Intelligenz gesteuerte KI-Bot die Wissenschaft aufgeschreckt. Wie also damit umgehen? Was heisst das für die Wissenschaft? Was heisst das für die Lehre? Wie sollen wir mit Prüfungen umgehen?

Dozenten und Dozentinnen sowie Lehrer:innen sind besorgt. Mit ChatGPT verfasste Texte lassen sich nicht mehr als Plagiate erkennen. Wie soll zukünftig Eigen- von Fremdleistung unterschieden werden?  Einige Hochschulen haben bereits mit Verboten reagiert. Aber ist das wirklich die Lösung?

Schließlich sollen die Hochschulen die Absolventen ja auf die Digitalisierung verschiedenster Bereiche der Gesellschaft vorbereiten und sie nicht künstlich behindern. Die KI-Textgenerierung aber hat ein Schlaglicht auf die mangelnde Digitalisierung der Hochschulbildung geworfen. KI zwingt Hochschulen zu Veränderungen: Schriftliche Arbeiten werden anders aussehen, als wir sie jetzt kennen.

In vielen Studiengängen ist das Schreiben-Können ein basales Bildungsziel – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung und Ausprägung je nach Fachdisziplin.

ChatGPT trifft damit in zumindest eines der Herzen der akademischen Welt. Die Fähigkeit, gut zu schreiben, die eigenen Ideen klar und prägnant zu formulieren, ist bislang ein zentrales Ziel vieler Studiengänge. Schreiben dient, so die bisher verbreitete Auffassung, nicht nur dazu, die eigenen Gedanken anderen gegenüber schriftlich auszudrücken, sondern auch das eigene Denken zu schärfen und Verständnis für komplexe Sachverhalte zu entwickeln. Schreibend eignen wir uns Themen auf eine ganz andere Art und Weise an, als wir das lesend tun (Gabi Reinmann, 2023). Werden Schreibaufträge an ChatGPT delegiert, besteht die Gefahr, dass die Schreibfähigkeit ganzer Generationen verkümmert oder sich gar nicht erst ausbildet.

Was also tun? Ein Zwischenfazit

Im aktuellen Diskurs über die Implikationen für die Hochschulbildung konzentrierte sich das Gros der Stimmen schnell auf das Thema Prüfungen: Einigermaßen vorhersehbar galt die erste Sorge den Täuschungsmöglichkeiten bei schriftlichen Leistungen, die ohne Aufsicht erbracht werden und demnach relativ einfach an ChatGPT delegiert werden könnten. Diese pauschale Befürchtung aber erscheint ebenso unangemessen wie die Hoffnung auf immer bessere werdende KI-gestützte Systeme, mit denen sich nicht-erlaubte KI-Nutzung aufdecken lässt. Gegen Misstrauen, Kontrolle und daraus resultierende Ängste hilft nur der Versuch, die neuen KI-Systeme mit wissenschaftlichem Blick und Verantwortung zu explorieren und offen darüber zu sprechen – gerade in der Lehre.

Statt sich gegenseitig darin zu überbieten, mit dem Einsatz von Chatbots die Gestaltung von Lehre effizienter und/oder origineller zu machen, könnten wir die aktuelle Aufregung über ChatGPT auch als Anlass nehmen, unsere Prüfungskultur und/oder den Sinn von Massenuniversitäten in Frage zu stellen (Gabi Reinmann, 2023).

Wer ein selbstbestimmtes Leben führen will, muss ein Verständnis für das Digitale haben. Er oder sie muss verstehen, dass es um Vernetzung und um Software, die Daten verarbeitet, geht. KI verspricht Entlastung von Routine- und Standardaufgaben auch in der Lehre: So können Lehrpersonen ChatGPT nutzen, um wiederkehrende Anfragen von Studierenden zu beantworten und Essays zu bewerten, Anregungen geben lassen für Formulierungen und für Standardtexte sowie Fälle/Fallbeispiele. Zentral ist, mit den Studierenden über die Technologie und ihre Implikationen zu sprechen. Sie zu informieren und vor allem mit ihnen zu diskutieren (z.B. Was ist kritisch, was ist vorteilhaft, was sind ihre Erfahrungen?). Was ist am Text gut gelöst, was nicht, was stimmt nicht? (Z.B.: Wie erkenne ich, dass Quellen nicht stimmen?)

Klar könnten Hochschulen auch versuchen, mit Verboten zu reagieren. Zielführender wäre es unserer Ansicht nach, sich mit dem ChatGPT zu befassen und in den Diskurs mit Lehrenden und Lernenden einzusteigen. Eine Aufgabe von Bildungseinrichtungen ist doch, Studierende zu befähigen, sich mit digitalen Medien auseinanderzusetzen. Akteure und Akteurinnen an Hochschulen sind aufgerufen, die Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Entwicklung von Bildungsorganisationen zu erkennen und sie strategisch weiterzuentwickeln. Dazu gehört auch, dass sie die Implikationen der Veränderungen verstehen und eine verantwortungsvolle Haltung hinsichtlich kultureller und ethischer Fragen des Digitalen entwickeln.

Die Abschlussworte stammen von ChatGPT. Wir haben sie gebeten, ein Gedicht zur Digitalisierung im Stil von Goethe zu verfassen.

Das Netz, es spinnt sich um die Welt,

Und durch die Schranken dringt es schnell.

Doch was ist mit dem Menschen selbst,

Der immer mehr im Netz verfällt?

ChatGPT (Mai 2023)
INFOBOX

CAS Bildungsmanagement im Digitalen
Im CAS Bildungsmanagement im Digitalen entwickeln und vertiefen Führungskräfte ihre Kompetenzen im Management von Bildungseinrichtungen im Kontext des Digitalen. Dies betrifft die Entwicklung von Strategien für die Digitalisierung, die operative Planung und Umsetzung entsprechender Projekte und Angebote sowie die kulturelle Begleitung des organisationalen Wandels.

Infoveranstaltung
Am Dienstag, 20. Juni 2023 findet von 17 bis 18 Uhr eine Informationsveranstaltung zum CAS Bildungsmanagement im Digitalen statt. Jetzt anmelden

Zu den Autorinnen

Barbara Getto ist Professorin für Medienbildung mit dem Schwerpunkt Hochschul- und Erwachsenenbildung an der PH Zürich. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich Bildung und Digitalisierung. Gemeinsam mit Gabriel Flepp leitet sie den CAS Bildungsmanagement im Digitalen.

Selina Valdivia Rojas ist Studentin im Bachelor-Studiengang Primar an der PH Zürich, wo sie auch als studentische Mitarbeiterin tätig ist. Sie interessiert sich für Wörter, Zahlen und Menschen und ist sehr gespannt darauf, wie wir in zwanzig Jahren schreiben, denken und leben.

Zwischen Technologie und Menschlichkeit

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Text: Dominic Hassler und Monique Honegger

Wenn wir als Bildungsfachleute Curricula und Unterricht im Kontext von KI weiterentwickeln, sollten uns die Stärken und Schwächen von Künstlicher Intelligenz (KI) und von Menschen bewusst sein. Tools wie etwa ChatGPT erzeugen Texte, die solchen von Menschen gleichen. Allerdings produzieren sie Texte auf andere Weise. Vorliegender Beitrag ergründet, u.a. mit Bezug auf Ausführungen von Floridi (2014), worin dieser Unterschied besteht. Abschliessend identifizieren wir Fragen für professionelles Handeln zwischen Technologie und Menschlichkeit.  

Wir bauen keine Roboter, die wie ein Mensch Hemden bügeln und falten. (Quelle: Youtube)
Stattdessen bauen wir eine Kleiderfaltmaschine.
(Quelle: Facebook)

Menschen bauen Maschinen nicht mit dem Ziel, dass die Maschinen Aufgaben auf dieselbe Weise lösen wie Menschen. Andernfalls müsste ein Roboter am Spülbecken stehen und das Geschirr mit Schwamm oder Bürste reinigen. Stattdessen bauen wir einen Geschirrspüler (Luciano Floridi, 2014). Das Ingenieurwesen nennt dies «Enveloping» (dt.: umhüllen). Der Geschirrspüler fungiert als Hülle für die Maschine, die unser Geschirr reinigt. In dieser Hülle erledigt die Maschine ihren Job effizient und effektiv. Entsprechend ist eine Autobaustrasse eine grossformatige Hülle für Maschinen, die Autos zusammenbauen. Solche Umgebungen sind für Maschinen gemacht, nicht für Menschen. 

Diese «Hülle» ist nicht für Menschen gemacht. Rätsel: Wo ist der Mensch?
(Quelle: Adobe Stock)

Ähnlich verhält sich der Transfer von menschlichem Schreiben und einem Tool wie ChatGPT. Wenn ein Mensch einen Text verfasst, erfordert dies Intelligenz sowie für eine angemessene Performance als Erwachsener rund 20’000 Stunden Übung (vgl. Linnemann 2014, S. 27, Kellogg 2008, S. 4). Schreibt hingegen ChatGPT einen Text, braucht es beträchtlich Speicher und Rechenpower.  

Zahlreiche Prozesse unserer Welt sind automatisiert dank Maschinen, also in Envelopes gehüllt. Jeden Tag werden mehr Daten gesammelt, gibt es mehr Geräte, die miteinander kommunizieren, Tools, Satelliten, Dokumente, RFID, IoT – in einem Wort: mehr Enveloping. Darum kann es manchmal so aussehen, als ob Maschinen zunehmend «intelligenter» und Menschen «dümmer» werden. 

Beziehung zwischen Menschen und Technik

Stellen wir uns ein Menschen-Paar mit zwei unterschiedlichen Charakteren vor. Die eine Person ist fleissig, unflexibel und stur. Die andere Person ist faul, anpassungsfähig und nachgiebig. Ihre Beziehung funktioniert, weil sich die faule Person der fleissigen Person anpasst. Derzeit hüllen wir als Teil eines Paars (Mensch-Technik) immer grössere Teile unserer Umgebung in smarte ICTs. Mitunter prägen diese Technologien unsere physische und konzeptionelle Umwelt. Schliesslich ist KI die arbeitssame, aber unflexible Paarhälfte, während Menschen intelligent, aber faul sind. Es passt sich demnach der faule Part an, wenn eine Trennung keine Option ist (vgl. Luciano Floridi 2014, S. 150). Mensch und Maschine als gleichwertiges Paar auf Augenhöhe zu denken, entspricht einer Handlungslogik. Es gibt jedoch auch eine Sehnsuchts- und Angstlogik, respektive eine emotionale Interpretation, die medial weit verbreitet ist: diese geht von einer Dominanz des anderen Paarteils aus.

Mediale Omnipräsenz von «allgemeiner künstlicher Intelligenz»

In Filmen und Literatur und finden sich mächtige «allgemeine künstliche Intelligenz» als fiktionaler Alltag: von Olimpia im Sandmann (ETA Hoffmann) bis zu HAL 9000 in A Space Odyssey oder Skynet in Terminator. Gleichzeitig warnen und warnten Persönlichkeiten wie Stephen Hawking oder Elon Musk davor, dass eine künstliche Intelligenz sich irgendwann über die Menschheit erheben könnte. Ingenieur:innen von Microsoft verkündeten kürzlich, «Experimente mit ChatGPT 4.0 hätten einen Funken von allgemeiner KI gezeigt». Daraus liesse sich folgern, dass die Menschheit auf dem Weg ist, eine mächtige «allgemeine KI» zu entwickeln und aktuelle Schreibroboter wie ChatGPT der nächste Schritt auf diesem Weg sind. Ist diese Folgerung gerechtfertigt? Oder wir können auch anders fragen: Haben KI wie ChatGPT heute oder morgen das Potenzial etwas Bedeutungsvolles zu kreieren? 

Tippende Affen und unendlich viele Daten

Theoretisch kann KI etwas Neues oder Innovatives kreieren, wie das Infinite Monkey Theorem zeigt. Stellen wir uns eine unendliche Anzahl von Affen vor, die auf Schreibmaschinen tippen. Irgendwann verfasst ein Affe per Zufall Goethes Faust. Allerdings versteckt sich der Faust-Text in Galaxien von zusammenhangslosen Zeichen und Texten. Die tippenden Affen realisieren nicht, wenn ein für die menschliche Kultur bedeutsames Werk erschaffen wird. Kurz: Es gibt viel Produziertes, aber den produzierenden Affen entgeht der kulturelle, intellektuelle oder diskursive Wert des jeweiligen Textes. 

Bild einer papierüberquellenden Galaxis (Annäherung).
(Quelle: Adobe Stock)

Die schreibende Affenhorde lässt sich mit ChatGPT vergleichen: ChatGPT beherrscht die Syntax unserer Sprache fast perfekt. Daher entstehen keine Texte mit Schreibfehlern auf der Textoberfläche (Grammatik, Orthografie) und ChatGPT arbeitet etwas weniger zufällig als die unendlich vielen Affen. Gleichwohl müsste ChatGPT unzählige sinnfreie Wortkombinationen verfassen, um zufällig ein Kulturgut wie Faust zu kreieren. Aufgrund des Mooreschen Gesetzes (alle ca. 18 Monate verdoppelt sich die Leistung neuer Computerchips) können KIs bereits heute nahezu unendlich viele Texte kreieren. 

KI versteht jedoch nicht, was sie schreibt. Sie kombiniert aufgrund statistischer Werter, welche Worte zueinanderpassen. Etwas Bedeutungsvolles schafft sie per Zufall, ohne es zu merken. Diese Unbewusstheit der KI schmälert keineswegs ihr enormes Leistungspotenzial. Nützlich ist, dass KI auf Knopfdruck in riesigen Datenmengen weitere Worte und Begriffe findet, die zu einer Suchanfrage passen und daraus Text produziert. Die Resultate erinnern an Texte, welche fleissig sammelnde Lernende für die Schule verfassen. Nebenbei: oftmals ist es unabdingbar, solchen Lernenden zu feedbacken, dass ihr Text einen Fokus, eine diskursive Position sowie eine Verknüpfung der dargestellten Inhalte benötigt. 

Die Existenz solcher KIs wirft Fragen auf für die Bildungswelt, insbesondere für Schreibaktivitäten. Sinkt etwa die Motivation dafür, weil KI schreiben kann (PHSZ)? Oder erhöht sich die Performanz beim Schreiben dank KI-Unterstützung? Dies ist nicht nur eine Frage von Sprachunterricht, bekanntlich findet Lernen nicht ohne Sprache statt. Ebensowenig funktioniert eigenständiges Denken ohne Sprache (Honegger/De Vito/Bach 2020). Umgang mit KI betrifft Denkförderung und Sprachförderung.

Es folgt eine Auswahl von weiterführenden Fragen für den Unterricht und das Lernen in allen Fächern:

A) Lehrende

  1. Wie integriere ich als Lehrende KI-Tools sinnvoll in den Unterricht (→ Beispiel)?  
  1. Wie gestalte ich motivierende Schreibaufgaben und baue die Leistungsfähigkeit von KI in Lernprozesse ein? 
  1. Wie begleite ich einzelne Lernende mit oder dank KI effektiv? 
  1. Was bedeuten Lösungsansätze wie «mehr mündlich» oder «mehr prozessorientierte Lernbegleitung» (siehe bspw. PHSZ) konkret für meinen Unterricht? Gezieltes wirksames Feedback und wirkungsvolle Reflexion. Dies impliziert eine Änderung in methodischen Settings (vgl. Hassler/Honegger 2022

B) Schulleitungen und Schulteams 

  1. Wie nutzen wir KI-Tools im Unterricht als Werkzeug und gewährleisten dabei den Datenschutz? → eine Möglichkeit
  1. Welche Richtlinien und Freiräume brauchen wir für den Einsatz von KI im Unterricht und an Prüfungen (inklusive Projektarbeiten)?

C) Prüfungen

  1. Welche Rahmenbedingungen gelten für Prüfungen und Projektarbeiten?  
  1. Inwiefern sind Inhalte und Kompetenzen anzupassen? (Siehe bspw. Müller/Winkler 2020 für eine Einordnung des Grammatikunterricht)  

D) Weiter- und Ausbildung von Lehrenden 

  1. Inwiefern sind aktuellen Kompetenzbeschreibungen und -modelle anzupassen (Kröger 2021)? 
  1. Welche Kulturkompetenzen (Schreib- oder Lesekompetenzen u.a.) brauchen Menschen in Zukunft?  
  1. Welche Inhalte sollen vermittelt, welche Kompetenzen trainieren werden? 

Lehren und Lernen in einer von digitaler Technik geprägten Welt ist Balancieren zwischen faul und schlau:  Die Beziehung zwischen Mensch und Technik steuern.

INFOBOX

Angebote
Mehr über die Chancen und Herausforderungen von KI und anderen aufkommenden Bildungstechnologien wie VR oder Learning Analytics erfahren Sie im Modul Emerging Learning Technologies am 25.8. und 15.9.2023 am Campus PH Zürich.

Prägnante Aufgabenstellungen für Lernende effizient formulieren
Blitzkurs online, 25.5.2023, 17.30–19 Uhr

Podcast
Hören Sie mehr zum Thema ChatGPT und KI im Gespräch zwischen Rocco Custer (FHNW) und Dominic Hassler (PHZH) im Podcast #12 «Resonanzraum Bildung – ChatGPT, Chancen und Risiken in der Berufs- und Hochschulbildung».

Zu den Autor:innen

Monique Honegger ist Senior Teacher, ZFH-Professorin an der PH Zürich. Beratend, entwickelnd, weiterbildend und bildend. 

Auf dem Rollenkarussell: Bewusst und besonnen Rollen wechseln

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Text: Simone Heller-Andrist

Zum Einstieg in den Tag nehme ich an der Teamsitzung teil. Danach folgt ein Telefonat mit einer Weiterbildungsteilnehmerin: Ich begleite sie in ihrem Praxisprojekt, welches sie gemeinsam mit ihrem Praxispartner durchführt. Nach dem Mittagessen steht eine Fachberatung an, bevor ich eine Informationsveranstaltung zu meinem Studiengang leite, für welche ich eine Informationslandschaft auf dem online-Whiteboard gestaltet habe. Ich agiere im Wechsel zwischen Teamkollegin, Fachexpertin, Beraterin, Leitungsperson – ich beurteile, begleite, unterstütze, vertrete und gestalte.

Die Rolle, so die sozialpsychologische Definition nach Mirjam Kalt, ist ein Bündel von Verhaltensweisen, für die wir uns als Antwort auf Erwartungen in einem bestimmten Kontext entscheiden (2010, S. 239). Unsere Rollengestaltung ist idealerweise das Resultat aus erwarteter Verhaltensweise, dem Role-Giving unseres Gegenübers, und dem, wie wir die Rolle ausfüllen möchten, dem Role-Taking (vgl. dazu Weil 2020). Unablässig, jeden Tag von morgens bis abends, werden mir also Rollen gegeben, die ich aktiv ausfülle. Sie sind mir alle bekannt, manche schon länger, einige, wie bspw. diejenige der online-Architektin, etwas weniger lang. Die Rollen sind alle gleichzeitig da. Ich wechsle sie situativ, teils in schneller Abfolge, und finde meinen Platz.

Das Bild der Auswahl und des Platznehmens in einem dynamischen Umfeld lässt sich mit Fahrten auf einem Karussell vergleichen. Dieses dreht sich unablässig, während wir unseren Platz wählen. Die Platzwahl – oder eben das Einnehmen einer Rolle – erfolgt nicht zufällig und lässt die anderen Plätze oder Rollen nicht verschwinden. Ganz im Gegenteil: sie sind alle zeitgleich da – machen Wechsel möglich und ein Rollenbewusstsein nötig.

Vom Rollenstrauss zum Rollenkarussell

Das Bild des Rollenkarussells knüpft an Geri Thomanns Bild des Rollenstrausses an. Man stelle sich dabei nicht einfach das traditionelle Karussell vor, in welchem man abwechslungsweise mit dem Pferd, dem Feuerwehrwagen, dem Schwan oder der Vespa unterwegs ist. Man stelle sich eher jene Bahn vor, die an drei Armen zusätzlich drehende Kabinen mit sich führt: Mit viel Schwung und hohem Tempo zeigt sich der stete Rollenwechsel. Auch wenn wir den privaten Bereich ausblenden und auf unsere Tätigkeit an der Hochschule fokussieren, gestaltet es sich als anspruchsvoll, Rollenklarheit zu bewahren. Es empfiehlt sich dabei, den Übergängen zwischen den Fahrten und vor der eigentlichen Platzwahl besondere Aufmerksamkeit zu schenken und sich darauf zu besinnen, dass es eine grosse Bereicherung und ein Ausweis für einen Reichtum an Kompetenzen ist, in so vielen Rollen unterwegs zu sein.

In Geri Thomanns Darstellung des Rollenstrausses von Lehrenden an Hochschulen – hier übernommen und erweitert fürs Karussell – werden die Erwartungen der Studierenden an die Dozierenden als Pfeile dargestellt. Die Erwartungen führen nicht nur zur Wahl der Rolle, sondern auch zu einer Entscheidung dazu, wie die Rolle ausgefüllt wird:

Abb. 1: Rollenkarussell, basierend auf dem Rollenstrauss nach Geri Thomann (2019) und ergänzt um die Rollen der Regisseurin, des Architekten etc., die insbesondere der digitalen Organisationsform geschuldet sind.

Zu Thomanns Rollenstrauss sind zahlreiche weitere Rollen dazugekommen: So hat die digitale Organisation Lehrende zu Architektinnen gemacht, die mit Konferenztools Räume bauen und mit digitalen Lernlandschaften bespielen. Sie produzieren Lernvideos und fungieren darin manchmal in der Regie, manchmal als Darsteller. Während Thomann konstatiert, dass sich die Rolle von Dozierenden schwerpunktmässig von Inhaltsvermittelnden zu Begleitenden im Lernprozess verschiebt, erleben wir heute die Erweiterung zu Lehrenden als Navigierenden und Orientierung Vermittelnden, in einem Studium, dessen Räume und Landschaften zu grossen Teilen digital gebaut sind. Diese werden von den Studierenden auch asynchron, also in Abwesenheit der Lehrenden, genutzt.

Bezugsfelder und Rollen

Mirjam Kalts Definition der Rolle weist uns darauf hin, dass wir für Rollenklarheit zuerst einmal Kontextklarheit benötigen. Folgendes Modell von Scherrer et al. definiert drei Bezugsfelder, in welchen sich Dozierende bewegen und in welchen Rollenerwartungen an sie gerichtet werden. Nehmen wir bspw. eine Dozentin Fachdidaktik Englisch Zielstufe Sek I an der Pädagogischen Hochschule: Sie braucht fachwissenschaftliche und fachdidaktische Kompetenzen in Englisch, die sie aufgrund institutioneller Rahmenvorgaben wie Curriculum und gemäss definierten Prozessen auf ihre Lehre zuschneidet (organisationale Kompetenzen) und mit den aktuellen Anforderungen des Berufsfelds an die künftigen Lehrpersonen Sek I in ihrem Fachbereich abstimmt (berufsfeldbezogene Kompetenzen):

Abb. 2: Kompetenzbereiche in Modell nach Scherrer et al. als Bezugsfelder für die Rollengestaltung (Scherrer, Heller-Andrist, Suter & Fischer, 2020)

Die Kompetenzbereiche als Bezugsfelder implizieren ein jeweiliges Gegenüber, welches Erwartungen an die Rollengestaltung im jeweiligen Feld hat, und dessen erwartetes Verhalten wir in der Rollengestaltung mit unseren Gestaltungsvorstellungen abgleichen. Die Fachdidaktikerin sieht sich also je nach Bezugsfeld anderen Personengruppen gegenüber: in ihrer Lehre den Studierenden oder dem Fachkollegium, in der Organisation bspw. einem Team, im Berufsfeld ihren Praxispartner:innen:

Abb. 3: Bezugsfelder und zugehörige Gegenüber, die Rollenerwartungen an Dozierende richten (Heller-Andrist auf der Basis von Scherrer, Heller-Andrist, Suter & Fischer, 2020)

Während die Rollen von Dozierenden in oben abgebildetem Rollenkarussell umfassend, wenn auch nicht abschliessend, aufgeführt sind, sind die Rollen im organisationalen Kontext in mannigfaltigen Modellen zugänglich. Dazu gehören bspw. die Rollen im Team (vgl. z.B. Teamrollen nach Belbin), diejenigen gegenüber einer vorgesetzten Person, gegenüber verschiedenen weiteren Stellen, die Erwartungen äussern wie bspw. die Verwaltung mit Prozessen und institutionellen Vorgaben. Die Rollengestaltung gegenüber unseren Partnern und Partnerinnen im Berufsfeld ist insofern komplex, als sie stark zielabhängig, und insbesondere im Kontext der Weiterbildung abhängig vom Lerngegenstand ist.

Expert:innen im Austausch

Um Aus- und Weiterbildungsangebote wissenschaftlich fundiert auf die Bedürfnisse der Berufspraxis auszurichten, um praxisrelevante Forschung zu betreiben und um die Studierenden adäquat auf ihre künftige Berufspraxis vorzubereiten, ist der Bezug zum Berufsfeld unablässig. Die Rollengestaltung in der Zusammenarbeit mit dem Berufsfeld kann dabei durch Muster in der eigenen Berufsbiografie, also bspw. die eigene oder die aus einer Aussenperspektive wahrgenommene Dozierendenrolle in der Ausbildung von Lehrpersonen, geprägt sein. Hatte ich in der Ausbildung der jetzigen Praxispartner:innen eine leitende und beurteilende Rolle inne, war ich die Inhaltsexpertin und mein Gegenüber ein:e Lernende:r, so stehen wir uns nun in anderen Rollen gegenüber.

Umso wichtiger ist die Rollenklärung in der Zusammenarbeit mit meinen Praxispartner:innen. Führt man bspw. ein gemeinsames Projekt durch, gehen beide Seiten in die jeweilige Expertenrolle: Die Hochschulangehörigen agieren als Expertinnen und Experten der Wissenschaftspraxis, also der Praktiken an der Hochschule, und bringen ihre Expertise ins Projekt ein. Die Partner:innen der Berufspraxis hingegen sind Experten der Berufspraxis. So können die jeweils anderen Praxen zum Lerngegenstand der einzelnen Beteiligten werden, ein Austausch auf dieser Basis erfolgen und Projektprodukte mit beiden Praxen abgestimmt werden. Die Rollengestaltung in einer solchen Zusammenarbeit könnte folgendermassen abgebildet werden:

Abb. 5: Rollengestaltung als Expert:innen in der Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Berufsfeld (Heller-Andrist auf der Basis von Scherrer, Heller-Andrist, Suter & Fischer, 2020)

Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist abhängig von der Rollengestaltung der beteiligten Personen. Überlegungen dazu, wie ich eine Rolle einnehmen möchte, eine besonnene Erwartungs- und Rollenklärung sowie die zugehörige Rollenverhandlung sind dabei zentral.

Das Rollenkarussell dreht auch im CAS-Studiengang zur Stärkung des Berufsfeldbezugs

Im CAS-Studiengang «Den Berufsfeldbezug stärken!» befassen sich die Teilnehmenden intensiv mit ihren Rollen an der Hochschule: Abgestimmt auf ihre jeweiligen Aufgaben an der Hochschule, beispielsweise in der Lehre (Rollen in der Lehre), bearbeiten sie konkrete Fragestellungen zusammen mit Partnerinnen und Partnern im Berufsfeld (Rollen in der Berufspraxis). Dies erfolgt gerahmt durch die organisationalen Bedingungen, in Absprache mit den direkten Vorgesetzten bzgl. der Laufbahnmöglichkeiten an der eigenen Institution (Rollen in der Organisation).

Der CAS beruht auf einer Kooperation von elf Pädagogischen Hochschulen (Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik HfH, PH Bern, PH Fachhochschule Nordwestschweiz, PH Graubünden, PH Luzern, PH St. Gallen, PH Schaffhausen, PH Schwyz, PH Thurgau, PH Zug, PH Zürich). Während im Studiengang der Austausch mit Teilnehmenden anderer Hochschulen zentral ist, findet er auch an verschiedenen Durchführungsorten statt: Reisend und kreisend – so dreht das Rollenkarussell im und um den CAS-Studiengang «Den Berufsfeldbezug stärken!».

INFOBOX

CAS Berufsfeldbezug stärken
Der CAS-Studiengang startet erneut im September 2023, alle Informationen dazu finden Sie auf unserer Webseite. Bei Interesse am CAS sind Sie herzlich eingeladen zu den online Informationsveranstaltungen vom Donnerstag, 20. April, oder Dienstag, 16. Mai 2023, jeweils von 17–18 Uhr. An den Veranstaltungen geben ehemalige Teilnehmende des CAS Einblick in ihre Projektarbeiten im Berufsfeld.

Zur Autorin

Simone Heller

Simone Heller-Andrist arbeitet am ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich als Projektleiterin für Entwicklungs- und Weiterbildungsangebote im Hochschulbereich. Sie leitet den CAS Hochschuldidaktik «Winterstart» sowie den CAS «Den Berufsfeldbezug stärken!».

Kreatives Schreiben und Life Skills

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Text: Peter Holzwarth

«Wenn du deine Rolle in der Welt besser verstehen willst, dann schreib. Versuche deine Seele ins Schreiben zu legen, auch wenn niemand es liest, oder, was schlimmer ist, jemand es liest, obwohl du es nicht wolltest. Der einfache Akt des Schreibens hilft uns, Gedanken zu ordnen und klar zu sehen, was uns umgibt. Ein Stück Papier und ein Kugelschreiber können Wunder bewirken – Schmerzen heilen, Träume in Erfüllung gehen lassen, verlorene Hoffnung wiederbringen.
Im Wort liegt Kraft.»

(Paolo Coelho 2007, S. 52)

«Ohne zu schreiben, kann man nicht denken; jedenfalls nicht in anspruchsvoller, anschlussfähiger Weise.»

(Niklas Luhmann 1992, S. 53)

«Schreiben heißt: sich selber lesen.»

(Max Frisch [1950] 1985, S. 19)

Der folgende Beitrag zeigt verschiedene Möglichkeiten auf, kreatives Schreiben mit der Entwicklung von Lebenskompetenzen zu verbinden.

Das Konzept Life Skills wurde von der World Health Organisation (WHO) eingeführt. Life Skills werden folgendermassen definiert:

«Life skills are abilities for adaptive behaviour that enable individuals to deal effectively with the demands and challenges of everyday life» (World Health Organisation 1997, S. 1).

Es werden zehn zentrale Skills definiert: Decision-making (Fertigkeit, Entscheidungen zu treffen), Problem-solving (Problemlösefertigkeit), Creative thinking (kreatives Denken), Critical thinking (kritisches Denken), Effective communication (Kommunikationsfertigkeit), Interpersonal relationship skills (Beziehungsfähigkeit), Self-awareness (Selbstwahrnehmung), Empathy (Empathie/Einfühlungsvermögen), Coping with emotions (Gefühlsbewältigung) und Coping with stress (Fähigkeit zur Stressbewältigung).

Über kreative Schreibprozesse können Life Skills angeeignet und weiterentwickelt werden. Im Folgenden ein paar Beispielszenarien:

  • Ein Teenager wird sich seiner ambivalenten Gefühle bewusst, indem er ihnen in Form eines kleinen Gedichts ästhetische Gestalt verleiht. (Self-awareness, Coping with emotions, Coping with stress)
  • Eine junge Lehrerin hat sich angewöhnt, jeden Tag drei Dinge aufzuschreiben, die gut gelaufen sind bzw. die ihr Freude bereitet haben (vgl. Beitrag «Ehemalige Tutorin Antonia Rakita im inside 2/2022» im SchreibBLOGzentrum). (Coping with stress, Coping with emotions)
  • Eine Schülerin schreibt einen kurzen Text aus der Perspektive einer Figur in einem Spielfilm. (Empathy)
  • Ein Heranwachsender verfasst einen Liebesbrief an sich selbst, in dem er all das würdigt und zum Ausdruck bringt, was er an sich mag. (Self-awareness)
  • Eine Schülerin lernt das Prinzip der Wiederholung von Textstellen kennen und empfindet Selbstwirksamkeit in Bezug auf das entstandene eigene Gedicht.
  • Eine Weiterbildungsteilnehmerin entdeckt eine spannende ästhetische Interaktion zwischen einem selbstgemachten Foto und einem selbstgeschriebenen Text.

Lernprozesse können auf mehreren Ebenen stattfinden:

  • Sich selbst besser kennen lernen (Selbstreflexion, Inneres Erleben durch Schreiben nach Aussen bringen und es dann mit Abstand betrachten können (Veräusserung und Resubjektivierung))
  • Phänomene der Welt besser deuten können (sich über Schreibprozesse einem Gegenstand annähern und schreibend verstehen)
  • Literarische Aspekte kennen lernen (z. B. das ästhetische Prinzip der Wiederholung, das Prinzip der kreativen Aneignung von Vorlagen im Sinne eines Remakes)
  • Stolz empfinden in Bezug auf das eigene Produkt (Selbstwirksamkeit, den Mut haben, den eigenen Text einem Publikum zu präsentieren, Anerkennung von anderen bekommen, sich selbst wertschätzen können)
  • Über Kritik und Feedback lernen und sich weiterentwickeln (z. B. Kritik und Feedback von anderen können helfen, den eigenen Text aus einer neuen Perspektive zu sehen (z. B. andere Lesarten), sich der eigenen Leserlenkungspotenziale bewusst zu werden und den eigenen Text noch besser zu machen)
  • Zusammenhänge von Denken, Fühlen und Schreiben ausloten (vgl. Eingangszitat von Niklas Luhmann oben)

Im Folgenden werden ausgewählte Projektideen aus dem Buch «Life Skills mit Medien» (Holzwarth 2022) vorgestellt:

Fotogedicht «Vergnügungen»

Ein Remake zum Gedicht «Vergnügungen» von Bertolt Brecht wird produziert und mit einem Foto kombiniert (Leis 2019, S. 130 u. 131; Holzwarth & Maurer 2014).

Brecht zählt in seinem sprachlich sehr einfachen Gedicht alltägliche Dinge auf, die Vergnügen bereiten können, wie z. B. der erste Blick aus dem Fenster am Morgen oder das Wiederfinden eines alten Buchs. Das Verfassen eines Remakes hilft den Schreibenden, sich ihrer «Alltagsschätze» bewusst zu werden: Man braucht nicht auf das große Glück zu warten, weil der Alltag bereits sehr viele kleine Reichtümer enthält. Man muss sie nur entdecken und bewusst machen.

«VERGNÜGUNGEN

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein»

(Bertold Brecht, Suhrkamp Verlag 1990, S. 1022)
Abbildung 1: «Vergnügung» (Schulprojekt)

Fotogedicht «Rondell»

«Poesie macht einem die schwierigen Zeiten erträglicher.
Und Poesie macht die schönen Seiten noch schöner und strahlender.»

Heinz Rhyn, Pädagogische Hochschule Zürich, «PH Goes Poetry», 23.9.2021 (Übertragen aus dem Berndeutschen)

Die Gedichtform «Rondell» lebt von bestimmten Wiederholungen. Die Zeilen 1, 4 und 7 sind identisch und Zeile 2 ist gleich wie Zeile 8.

Ein Gedicht kann 8 Zeilen lang sein oder mehrere Strophen von 8 Zeilen hintereinander haben. Die folgende Darstellung visualisiert die Wiederholungsstruktur des «Rondells»:

Abbildung 2: Struktur «Rondell»

Was mein Leben reicher macht

«Beim Schwimmen im kühlen Badsee untertauchen und das eigene Herz schlagen hören.
Anita Chasiotis, Osnabrück»

(Lechner 2012, S. 63)

«Was mein Leben reicher macht» ist der Titel eines Buches, in dem Beiträge von Lesenden aus einer Kolumne der Zeit zusammengetragen wurden (Lechner 2012). In Anlehnung an diese Serie werden die Teilnehmenden gebeten aufzuschreiben, was ihr Leben reicher macht und den Text mit einem Bild zu kombinieren. Es muss sich dabei nicht um eine exakte Visualisierung des Geschriebenen handeln. Auch abstrakte Bilder können eine Rolle spielen. Weitere Projektideen zum kreativen Schreiben, sowie Ideen für Fotografie, Videoproduktion und Medienreflexion sind in Holzwarth 2022 zu finden.

INFOBOX

Schreibmodule
Unter dem Motto «Dem eigenen Schreiben auf der Spur» bieten Prof. Dr. Daniel Ammann, Erik Altorfer und Dr. Martina Meienberg zwei Module zum literarischen Schreiben an, die separat oder kombiniert gebucht werden können.

Das erste Modul «Biografisches Schreiben – das Leben erzählen» bietet Anfänger:innen wie Fortgeschrittenen Gelegenheit, sich im Schreiben mit Erlebnissen, Erinnerungen und persönlichen Lebenserfahrungen zu beschäftigen, um daraus eigene Prosatexte und Geschichten entstehen zu lassen.

Das zweite Modul «Literarisches Schreiben – Wege zum eigenen Schreibprojekt» widmet sich dem fiktionalen Schreiben und vermittelt Methoden des realistischen und fantastischen Erzählens.

In beiden Modulen erhalten Sie in Präsenzveranstaltungen und individuellen Coachings Anregungen und Impulse zum literarischen Schreiben und lernen Techniken der kreativen Textarbeit kennen.
Beide Module sind für den CAS Beraten im Bildungsbereich anrechenbar und sind mit je 1 ECTS dotiert.
Das erste Modul startet am 26. April 2023. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!

Workshop
Workshop des Schreibzentrums zum Thema:
Kreatives Schreiben leicht gemacht: Das motivierende Prinzip «Remake»,
Peter Holzwarth, Mi. 3. Mai 2023, 17.30–19 Uhr

Zum Autor

Peter Holzwarth ist Dozent für Medienpädagogik an der PH Zürich. Er leitet das Fachteam Medienpädagogik, arbeitet im Schreibzentrum und im Digital Learning (DLE). Ausserdem ist er Berater bei der Stelle für Personalfragen (SteP). 

Das reguliert sich nicht von selbst! – Was es braucht, damit selbstreguliertes Lernen an Hochschulen gelingt

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Text: Franziska Zellweger

Selbstreguliertes Lernen – Woher kommen wir?

Es war einmal die Zeit der Bologna-Reform. Vor ziemlich genau 20 Jahren hat die Universität St. Gallen mit der Umsetzung dieser Reform versucht, ein didaktisches Leitbild des «mediengestützten Selbststudiums» umzusetzen. Die Präsenzzeit des Kernstudiums wurde um 25% reduziert zugunsten von didaktischen Formaten, die verstärkt auf aktives und selbstreguliertes Lernen setzten. Es war keine Sparübung – die Bemühungen aller Akteure waren ernsthaft und für mich als Doktorandin ein kreatives Spielfeld mit Enttäuschungspotenzial.

Selbstreguliertes Lernen (SRL) hatte sich zu der Zeit in der pädagogisch-psychologischen Forschung längst als Forschungsfeld etabliert. SRL bezieht sich darauf, wie Lernende systematisch ihre Kognitionen, Motivationen, Verhaltensweisen und Affekte aktivieren und aufrechterhalten, um ihre Ziele zu erreichen wie Schunk und Greene im Handbook of Self-Regulation of Learning and Performance schreiben. Es hat sich ein zyklisches Modellverständnis etabliert (vgl. die Erläuterungen von Maria Theobald ab Min. 3, für einen Modellüberblick siehe Panadero, 2017).

Zyklisches Phasenmodell nach Zimmermann & Moylan (2009) adaptiert von Panadero (2017)

Warum ist selbstreguliertes Lernen ein hochschuldidaktisches Thema?

Warum ist SRL heute noch ein relevantes Thema, um sich in zwei Webinaren zusammen mit Jan Vermunt und Maria Theobald vertieft damit zu beschäftigen? Mir schien, dass nach der Pandemieerfahrung über hybrid, blended oder flipped Settings nachgedacht wurde, ohne im Blick zu haben, wie voraussetzungsreich diese bezüglich der Anforderungen an die Selbstregulation sind.

Die beiden Expert:innen beantworten die Frage nach der Aktualität auf unterschiedliche Weise:

Maria Theobald macht in ihrer Forschungsarbeit deutlich, dass auch auf Hochschulstufe nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Studierende in der Lage sind, ihr Lernen zielführend zu regulieren. In einer Studie zeigt sie eindrücklich auf, dass Studierende, die sich während des Semesters regelmässig begleitend zur Vorlesung mit Selbsttests und Podcasts auseinandersetzten (sog. distributed practice) an der Prüfung erfolgreicher waren.

SRL sagt Prüfungsnoten voraus, vgl. Theobald et al. (2018) und Video (ca. Min.14:20)

Jan Vermunt (ca. Min. 0:35) setzt in seiner Argumentation grundsätzlicher an und verweist auf neue Anforderungen:

Ziele von Hochschulen

Um diese Ziele zu erreichen, sei eine Abkehr von einem Lehr-Lernverständnis nötig, das Lehren als die Übertragung von Expert:innenwissen an die Lernenden versteht. Jan Vermunt betont die Bedeutung von Lernüberzeugungen der Lernenden, von Lernmotivation, Selbstregulation und Lernaktivitäten für ein vertieftes Lernen (vgl. ab Min. 5:30).

Lernmuster als Perspektive für studentisches Lernen, vgl. Vermunt & Donche (2017)

Wenn wir über Selbstregulation sprechen, sind Lernüberzeugungen, also die dahinterliegenden Vorstellungen und Motive von besonderer Bedeutung. Deshalb interessieren mich Lernkonzeptionen der Studierenden, also Unterschiede ihrer Vorstellungen davon, was Lernen ausmacht und welche Rolle sie dabei sich selber und den Dozierenden zuweisen. Jan Vermunt skizziert Learning Patterns (vgl. ab Min. 7:40) und damit verbundene Vorstellungen von Lernen:

Drei AusprägungenBeispiel Item zur Erhebung von Lernkonzeptionen
Intake of knowledge
teacher is responsible for learning
Ich mag es, wenn man mir genaue Anweisungen gibt, wie ich eine Aufgabe lösen oder einen Auftrag erledigen soll.
Construction of knowledge
agency, own responsibility
Für mich bedeutet Lernen, dass ich versuche, ein Problem aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
Use of knowledge
shared responsibility
Lernen bedeutet für mich, Wissen und Fähigkeiten zu erwerben, die ich später in der Praxis anwenden kann.

Implikationen für die Hochschullehre

Welche Konsequenzen sind nun für die Hochschullehre zu ziehen, wenn die Fähigkeit zur Selbstregulation eine so bedeutsame Stellung einnimmt? Ich schlage vor, drei Aspekte besonders in den Blick zu nehmen.

  1. Lehren und Lernen im Curriculum zur Stärkung der Selbstregulation

Jan Vermunt fordert eine Abkehr von reproduktionsorientierter Lehre und formuliert ausgehend vom an der Eindhoven University of Technology propagierten Modell des Challenge-based Learning Prinzipien zur Stärkung der Selbstregulation auf (ab Minute 37:15). Im Kern sollen anknüpfend an die Interessen der Studierenden Raum und Aufgaben gestaltet werden, die es erforderlich machen, dass Studierende ihre Lernprozesse selber regulieren. Dies soll auch in den Prüfungsformaten wertgeschätzt werden.

  1. Explizite Förderung von Lernstrategien

Die aktive Thematisierung von Lernstrategien ist an vielen Hochschulen (z.B. Uni Bern) gängige Praxis. In einem Review Artikel hat Maria Theobald die Wirksamkeit von Programmen zur Stärkung von Lernstrategien zusammengetragen und auch ein Förderprogramm untersucht, das Studierende zum täglichen Monitoring ihres Lernens anhielt, indem es nach dem Effekt verschiedener Formen von automatisiertem Feedback fragte.

Beide Forscher betonen die Bedeutung von Feedbacks. Ein zentraler Forschungsdiskurs dreht sich denn auch um die Co-Regulation durch Peers und Dozierende, also regulative Unterstützung durch andere. (Vgl. Blogbeitrag zum Onlinefeedback).

  1. Verständigung über das Lernen selbst

Ein wichtiger Schlüssel liegt in der Verständigung über das Lern- und Rollenverständnis. Über Lernen zu sprechen ist jedoch eine abstrakte Angelegenheit. Ich halte es für vielversprechend, dies in Bildern oder Metaphern zu tun, wie in diesem Blogbeitrag aufgezeigt wird. Ob Metaphern tatsächlich Lernkonzeptionen offenlegen, wird auch in der Forschung diskutiert. Eine Diskussion, ob Lernen beispielsweise mit einem Videospiel zu vergleichen sei oder eher dem Füllen einer Werkzeugkiste gleichkommt, kann der Verständigung zwischen Dozierenden und Lernenden nur zuträglich sein.

Wie erreichen wir den nächsten Level?

Die Forschung zum selbstregulierten Lernen unterstützt das Verständnis von Lernprozessen als komplexes Zusammenspiel von Kognitionen, Emotion und Motivation ausgerichtet auf ein Ziel in einem spezifischen Kontext. In der praktischen Umsetzung «innovativer» Lehrmethoden stellt dabei Selbstregulation paradoxerweise gleichzeitig die Voraussetzung, das Ziel und den Weg dar. Dabei werden die Kompetenzen der Studierenden tendenziell überschätzt. Lernsettings, die Studierende aktiv in die Verantwortung für ihr Lernen nehmen, sind auch auf Hochschulstufe keine Selbstläufer. Es stellen sich wichtige Fragen:

  • Welche Angebote sind im Studienstart sinnvoll, um Studierende in ihrem Lernen zu unterstützen?
  • In jedem Setting sind zudem die Rollen und Erwartungen explizit zu thematisieren. Was ist die Aufgabe und Rolle der Studierenden, welchen Beitrag leisten die Dozierenden?
  • Wie werden Aufgabenstellungen formuliert, um unterschiedliche Studierende in der selbstverantwortlichen Erarbeitung zu unterstützen und welche Formen der Co-Regulation sind sinnvoll?

Letztlich geht es auch um die Arbeit an unseren eigenen Bildern. Selbststudium ist nicht gleichzusetzen mit Lernenden, die alleine zu Hause an ihren Tischen sitzen und ein dickes Skript wälzen, sondern mit Studierenden, die über einen angemessenen Spielraum verfügen, um selbstverantwortlich und im Austausch mit anderen ihre Lernprozesse bewusst zu gestalten. Dazu gehört auch das Scheitern, ermutigt werden wieder aufzustehen, den nächsten Schritt zu tun, um wie in Videogames neue Levels zu erklimmen, mit Zugang zu neuen Zaubersprüchen, Vehikeln und Werkzeugen.

INFOBOX

Webinar-Reihe: Researching Higher Education

Diese Webinar-Reihe gibt Einblick in relevante Forschungsprojekte von Wissenschaftler:innen aus aller Welt und bietet Dozierenden, Leitenden, Forschenden an Schweizer Hochschulen wie auch weiteren Interessierten Raum und Fragen zur Diskussion. Neben der Präsentation von Forschungsprojekten sind die Diskussion zwischen Forschenden und Praktikern in Kleingruppen und im Plenum zentraler Bestandteil dieser Anlässe.

2021 zum Thema «Student Engagement»
2022 zum Thema «Self-regulated Learning»

Mehr Informationen zur Webinar-Reihe finden Sie hier.

Zur Autorin

Franziska Zellweger ist Professorin für Hochschuldidaktik am Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich

Gelassen und mutig entscheiden

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Text: Dagmar Engfer

Der Blogbeitrag «Entscheidungsprozesse an Hochschulen: Entscheiden lassen – Entscheide steuern – Entscheide bewirken» thematisierte die Beratungstätigkeit mit lateral Führenden. Diese Führungspersonen stellten u.a. in Landkarten der Macht dar, wie Entscheidungsprozesse funktionieren. Jetzt wenden wir uns der Frage zu, wie Führungspersonen Entscheidungsprozesse erleben. Wir ergründen diese mit Prof. Dr. Christine Böckelmann, Direktorin der Hochschule Luzern – Wirtschaft und Prof. Dr. Matthias Briner, Leiter Zentrum für Ausbildung und Studiengangleiter MSc Angewandte Psychologie, FHNW.

Kein Tag ohne Entscheiden

Führungspersonen an Hochschulen fällen täglich Entscheide auf verschiedenen Ebenen, mit kurz- bis langfristiger Tragweite und auf unterschiedlichen Flughöhen. Die Folgen von Entscheidungen lassen sich, so Böckelmann, oft nur schwer abschätzen, da die Sachlage oft mehrdeutig und die Prognosen entsprechend unsicher sind. Das Risiko von Fehlentscheidungen ist gross und Entscheidungsprozesse können sich hinziehen; Betroffene müssen Unsicherheiten oft lange aushalten.

Entscheidungen sind oft schwierig, jedoch notwendig. (Bildquelle: Adobe Stock)

Sollen Mitarbeitende in Entscheidungsprozesse einbezogen werden? 

Führungspersonen in Expert:innenorganisationen sind oft mit der Erwartung der Mitarbeitenden konfrontiert, ihre Expertise einzubringen. Darin sieht Briner sowohl eine Herausforderung als auch eine attraktive Chance.

Böckelmann regt an, zwischen der Partizipation am Entscheidungsprozess selbst und dem Fällen des Entscheides zu unterscheiden. Diese Differenzierung kann helfen, die Frage des Einbezugs von Mitarbeitenden sinnvoll zu klären.

Entscheide an Hochschulen gestalten sich dann besonders anspruchsvoll, wenn divergierende Erwartungen berücksichtigt werden müssen und verschiedene Organisationseinheiten oder gar die gesamte Organisation betroffen ist, wie etwa bei strategischen oder strukturellen Weiterentwicklungen einer Hochschule.

Böckelmann betont: «Kollektive Entscheidungen sehe ich vor allem in überschaubaren Arbeitsteams und Gremien. Betrifft die Entscheidung eine grössere bzw. komplexe Organisation als Ganzes, kann es bei kollektiver Beschlussfassung zu einer Mehrheitsentscheidung kommen, welche die Anliegen und Bedürfnisse kleinerer Einheiten kaum berücksichtigt und möglicherweise auch den strategischen Zielen der Organisation widerspricht.»

Vom Unterwegs in Partizipation bis zum Mitdenken von Risiko

Briner unterstreicht ebenfalls die Relevanz der Gesamtorganisation. Die Breite der Abstützung ist je nach Grösse der Tragweite einer Entscheidung unterschiedlich. Es bereichere Entscheide, wenn die Perspektivenvielfalt verschiedener Involvierter berücksichtigt werde. Nötig dafür sei, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Gleichzeitig erhöht sich dadurch die Komplexität, Prozesse werden schwerfälliger und es wird anspruchsvoller, die gewünschten gemeinsamen Ziele zu verfolgen. Ein mögliches Vorgehen in solchen Situationen ist, in grösseren Gremien Stimmungsbilder abzuholen, nach Mehrheitsbildern zu suchen, Interessen zu erfragen und daraus eine Auslegeordnung als Entscheidungsgrundlage zu erstellen. Es lohnt sich, die Opportunitätskosten abzuwägen und sich zum Beispiel zu fragen: «Was passiert, wenn…?», «Wie sieht es mit der Balance zwischen Aufwand und Ertrag aus?». Entsprechend gehört zu Entscheiden grösserer Tragweite ein Abwägen von Chancen und Risiken.

Betreffen Entscheidungen die Arbeitssituation Mitarbeitender substanziell, sollte Partizipation am Prozess der Entscheidungsfindung eine Selbstverständlichkeit sein, so Böckelmann. Voraussetzung dafür ist, zu Beginn zu definieren, welche Fragen partizipativ bearbeitet werden und was aufgrund von Vorgaben oder Zielen der Gesamtorganisation nicht verhandelbar ist. Pseudopartizipation frustriert alle Beteiligten.

Entscheiden unter Zeitdruck

Noch ein Blick auf Nicht-Entscheide und Entscheide, die in Eile gefällt werden (müssen).

In Expert:innenorganisationen gehört der wissenschaftliche Diskurs zum Alltag. Das damit verbundene Vorgehen wirkt mitunter in Entscheidungsprozessen jedoch hemmend. So wäre es manchmal besser abzuwarten und noch nicht zu entscheiden, merkt Briner an. Doch geht dies nicht in jedem Fall. Im Nachhinein hätten es wohl alle besser gewusst. Beide Vorgehensweisen – Abwarten oder schnell Entscheiden und allenfalls einen Fehlentscheid in Kauf nehmen – haben ihren Preis. Ein Entscheid ist selten 100% richtig. Er lässt sich nur fällen aus der aktuellen Situation und mit Blick auf die bekannten und antizipierten Bedingungen. Zentral ist darum eine offene Fehlerkultur: allfällige Fehler offenlegen, daraus lernen und weitergehen. Deshalb ist Vertrauen für Briner eine relevante Basis, um tragfähige Entscheide zu fällen.

Zum Umgang mit schnellen Entscheiden meint Böckelmann: «Müssen Entscheidungen von grösserer Reichweite in Eile getroffen werden, dann ist in der Organisationsentwicklung vermutlich etwas schiefgelaufen oder wir haben es mit einer akuten Krisensituation zu tun.
In Krisensituationen müssen Führungspersonen unter Umständen schnell entscheiden können. Je nachdem ist dann eine Partizipation nicht möglich, oder sie muss sich z.B. auf eine kleine Gruppe beschränken, die stellvertretend für verschiedene Gruppen von Fachpersonen als «Sounding-Board» zur Verfügung steht. Liegt keine Krisensituation vor, dann dürfte es sich lohnen, darüber nachzudenken, warum man in eine Situation geraten ist, in der eine Entscheidung von grosser Reichweite eilt. Möglicherweise lassen sich Prozesse so verändern, damit dies – hoffentlich – ein Ausnahmefall bleibt.»

Briner teilt Böckelmanns Ansicht, dass Entscheide in Eile eher direktiver werden. Dennoch sei es zentral, mit jemandem zu reflektieren und einen Schritt zurückzutreten. Wenn ein Entscheid noch nicht reif ist, könne es wichtig sein, Zeit zu gewinnen.

Es hilft zudem, einen Entscheid in sinnvolle, bewältigbare Portionen zu segmentieren und damit eine zeitliche Staffelung herbeizuführen. Eine weitere Strategie ist, den Entscheid in einem grösseren Ganzen zu verorten und vielleicht zu relativieren – dies ermöglicht eine einigermassen zuversichtliche Gelassenheit.

Gelungene Entscheidungsprozesse sind nicht immer logisch 

Abschliessend wenden wir uns der Frage zu, was für Entscheidungsprozesse typisch ist und wie sie gelingen können.  

Böckelmann meint dazu: «Charakteristisch scheint mir, dass Entscheidungsprozesse in der Regel nicht so ‹wohl-sortiert› und in logisch strukturierten Schritten ablaufen, wie man sich das zu Beginn vorgestellt oder geplant hat. Dies liegt unter anderem daran, dass Organisationen von unterschiedlichen Rationalitäten geprägt sind. Je nach Rolle und Funktion, die jemand hat, werden Dinge unterschiedlich gewichtet und bewertet. Man hat je eigene Interessen, Denk- und Sichtweisen sowie entsprechend unterschiedliche Problemwahrnehmungen. Damit wird der Prozess selbst durch verschiedene Perspektiven mitgesteuert.» Auch Briner erlebt sich oftmals in einer Vermittlungsposition. Für ihn ist zudem charakteristisch, dass Entscheide einen «vorbereiteten Acker» benötigen.

Konkrete Tipps für Projektleitende und Studiengangleitende

Welche Haltung und Handlungskompetenzen brauchen Projektleitende und Studiengangleitende, um Entscheidungsprozesse mitzugestalten, vorwärtszubringen oder zielführend zu unterstützen?

  • Prozesse vorausschauend planen mittels einem ausgereiften Projektmanagement.
  • Offenheit und Toleranz für unterschiedliche Positionen; diese wahrnehmen und würdigen, selbst wenn nicht alles berücksichtigt werden kann. Somit auch über den eigenen Schatten springen können und Ideen anderer annehmen.
  • Kommunikatives und diplomatisches Geschick sowie strategische Zusammenhänge verstehen, um mit unterschiedlichsten Stakeholdern zu verhandeln.
  • Ein gutes Mass an Frustrationstoleranz, um Zusatzschlaufen und ungeplante Interventionen von Vorgesetzten «auszuhalten», und sich davon verabschieden, es allen recht machen zu wollen.
  • Geduld, Bescheidenheit und Gelassenheit.
  • Mut, mit bedachtem Risiko etwas wagen.

«Entscheide erfordern auch Mut; Mut, etwas zu tun.», bilanziert Briner: «Begeisterte Gelassenheit – gelassene Begeisterung»

INFOBOX

Der CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen ermöglicht massgeschneidert und laufbahnbezogen rollenspezifische Kompetenzen in Führung, Management und Planung zu entwickeln. Er richtet sich an Verantwortliche in Projekten, Studiengängen und Querschnittsfunktionen in Aus- und Weiterbildung an Fachhochschulen, Universitäten, Pädagogischen Hochschulen, höheren Fachschulen sowie weiteren Bildungsinstitutionen. Die nächste Durchführung startet am 28. März 2023. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!

Zur Autorin

Dagmar Engfer ist Coach, Organisations-beraterin, Teamentwicklerin und Führungs- und Laufbahnberaterin BSO, stellvertretende Leiterin sowie Verantwortliche Beratung und Dozentin am Zentrum Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich. Zudem ist sie Co-Leiterin des Lehrgangs CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen.

Unterstützen im Berufsfindungsprozess – eine besondere Aufgabe

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Text: René Schneebeli

Die erste Berufswahl

Die Aussicht, nach der Schulzeit eigene Wege zu gehen, Selbstständigkeit zu erreichen, eigenes Geld zu verdienen und nur noch zu lernen was einen interessiert, kann für viele Schulabgänger:innen motivierend sein.

Die richtige Anschlusslösung zu finden, ist aber ein Prozess, der manch einem vieles abverlangt. Die eigenen Stärken, Schwächen, Fähigkeiten und Interessen müssen mit den unzähligen Angeboten der Berufs- und Schulwelt abgeglichen werden. Dabei sind Entscheidungen zu fällen, die sich nachhaltig auf die weitere Berufskarriere auswirken. Dieser anspruchsvolle Prozess fällt zudem in eine Zeit, in der die Jugendlichen stark mit sich selbst beschäftigt sind. Darüber hinaus beeinflussen Zufälle, Gelegenheiten und ausserschulische Vorkommnisse diese sensible Phase.

Dass laut der Juvenir-Studie 2.0 der Jacobs Foundation (2013) trotz diesen vielen Unsicherheiten das Zustandekommen der Wunschausbildung der Jugendlichen der Regelfall ist, erstaunt dann doch immer wieder. Insbesondere wenn man bedenkt, dass im Frühjahr des Abschlussjahres erst etwa zwei Drittel der Lehrstellensuchenden eine zugesicherte Lehrstelle haben (gfs.bern, Nahtstellenbarometer März/April 2022).

Ein Berufswahlfahrplan (Quelle: PH Thurgau)

Wenn die Unterstützung durch Eltern und das reguläre Schulangebot nicht ausreicht

Zu verdanken ist das Finden einer Lehrstelle primär der Beteiligung der Eltern, die Werte vermitteln, Interessen wecken, Informationen vermitteln und emotionale Unterstützung bieten. Sie haben den grössten Einfluss aller Involvierten und sind verantwortlich für die Erstausbildung. Unterstützend wirken auch die Lehrpersonen, die im Fach «Berufliche Orientierung» die Jugendlichen ab der 2. Sekundarschule in diesem Findungsprozess systematisch begleiten. Weiter können Peergruppen und die Berufsberatung Einfluss nehmen.

Wo Eltern über nicht genügend Ressourcen für die Unterstützung verfügen oder wo das reguläre Angebot der Schulen für Jugendliche mit schwierigen Voraussetzungen oder aussergewöhnlichen Berufswünschen nicht genügt, fällt spezialisierten Fachpersonen eine besondere Aufgabe zu. Sie begleiten die Jugendlichen individuell bei der Entwicklung und Umsetzung von Lebens- und Laufbahnperspektiven.

Für diese Berufsrolle hat sich seit längerem die Bezeichnung «Berufswahl-Coach» etabliert. Im schulischen Umfeld sind es besonders die Fach- oder Lehrpersonen der Sekundarstufen I und II oder aus Brückenangeboten sowie aus der Schulsozialarbeit, die diese Funktion einnehmen. Ausserschulisch sind es Fachpersonen aus der Sozialarbeit, Job-Coaches, Mentor:innen oder Case-Manager:innen die hier aktiv sind. Sie alle unterstützen Jugendliche im Berufsfindungsprozess im jeweiligen Kontext.

Professionalisierung der Berufsrollen

Im Zug der Professionalisierung dieser Berufsrolle haben sich spezialisierte Weiterbildungen bewährt, welche mittlerweile von einzelnen Kantonen für die Übernahme dieser Funktion voraussetzt werden.

Neben der FHNW bietet die PHZH zusammen mit der PHTG einen CAS Lehrgang zum Berufswahl-Coach an. In weniger als einem Jahr werden wissenschaftlich fundiert, aber auch stark an der Praxis ausgerichtet, die wesentlichen Inhalte vermittelt. Neben dem Coaching-Handwerk, das einen zentralen Stellenwert in der Weiterbildung einnimmt, geht es um die vertieften psychologischen Hintergründe des Berufswahlprozesses bei Jugendlichen und um verwertbares Wissen zum Schweizer Bildungssystem und Arbeitsmarkt. In den teilweise organisierten Praktika lernen die Studierenden die regionalen Betriebe und Berufsberatungsstellen kennen und erhalten Einblicke in wichtige Schnittstellen wie Sozialversicherungen, Bildungsämtern und anderen Anlaufstellen.

Wer sich als Lehrperson im Rahmen der Schule und des Unterrichts noch weiter spezialisieren will, kann, aufbauend auf dem CAS Berufswahl-Coach, den Lehrgang CAS Fachlehrer:in Berufswahlunterricht absolvieren. Im Fokus stehen die Inklusion und insbesondere die Fachdidaktik. Absolvent:innen sind verantwortlich dafür, innerhalb der eigenen Schule den Berufswahlunterricht zu koordinieren und zu übernehmen. Zu ihren Kernaufgaben gehören das Entwickeln und Umsetzen von Berufswahlkonzepten, die Qualitätssicherung, das Beraten der Schulleitung und des Schulteams wie auch die Weiterbildung von Lehrpersonen.

Die Ausbildung ist von der EDK zertifiziert und entspricht dem Profil für die Zusatzausbildung «Fachlehrerin/Fachlehrer Berufswahlunterricht» vom 25. Oktober 2007. Absolventinnen und Absolventen dürfen den Zusatz «EDK anerkannt» im Titel ausweisen.

INFOBOX

Der CAS «Berufswahl-Coach», eine Kooperation der PH Thurgau und der PH Zürich, startet im Oktober 2023. Am 17. Januar 2023 und am 6. März 2023 finden dazu Online-Informationsveranstaltungen statt. Hier können Sie sich anmelden.

Zum Autor

Rene_Schneebeli_sw

René Schneebeli arbeitet im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung an der PH Zürich. Er ist Dozent und Co-Studiengangsleiter des CAS Berufswahl-Coach der PHZH.

Life Writing – Schreiben als Leben?

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Beitrag von Daniel Ammann

«Wer ist berechtigt, seine Erinnerungen zu schreiben?», fragte Mitte des 19. Jahrhunderts der im Exil lebende Philosoph und Autor Alexander Herzen. Seine Antwort hat nach wie vor Gültigkeit: Jede und jeder. Schliesslich sei niemand verpflichtet, sie zu lesen. Es genüge, «einfach ein Mensch zu sein, der etwas zu erzählen hat».

Alle können ihre Erinnerungen aufschreiben. (Quelle: Adobe Stock)

Zwischen Fakten und Fiktion

Die Wirklichkeit ist ein unförmiger Brei. Auf unsere Wahrnehmung ist kaum Verlass. Auf die Erinnerung schon gar nicht. Also stülpen wir der Realität Geschichten über, die wir irgendwann für die Wirklichkeit halten. Wir verknüpfen Episoden und Fragmente und verwandeln das Chaos mit narrativen Mitteln in ein zusammenhängendes Sinngebilde. Wenn wir die Welt schon nicht begreifen, bietet sich vielleicht die Möglichkeit, im Kleinen zu beginnen und schreibend dem eigenen Leben auf die Spur zu kommen. Hier setzt das Life Writing an.

Life Writing hat viele Facetten. Egodokumente und Selbstzeugnisse gibt es als Tagebucheinträge, Bekenntnisse, Reiseberichte, Briefe oder Memoiren schon lange. In den letzten Jahrzehnten hat das autobiografische Schreiben jedoch mit einer neuen Spielart den Markt erobert. Die Rede ist von Autofiktion, einer Mischung aus Autobiografie und Erfindung. Gegenstand und Erzählanlass dieser Geschichten sind Vorkommnisse und Erinnerungen aus dem Lebensumfeld der Autorin oder des Autors, die im Text selber als Romanfigur und Erzählinstanz vorkommen.

Autofiktion ist eine neue Spielart des autobiografischen Schreibens. (Quelle: Adobe Stock)

Annie Ernaux, die kürzlich mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, gilt als Meisterin dieses schillernden Genres und wird gelegentlich als Begründerin der Autofiktion gehandelt. Bereits die dänische Autorin Tove Ditlevsen (1917–1976) hat in ihrer (wiederentdeckten) Kopenhagen-Trilogie und dem Roman Gesichter die Grenzen zwischen Autobiografie und Fiktion ausgelotet. Max Frischs Erzählung Montauk liefert ebenfalls ein frühes Beispiel: «Ich möchte nichts erfinden», heisst es dort, «ich möchte wissen, was ich wahrnehme und denke, wenn ich nicht an mögliche Leser denke.»

Autofiktion ist im besten Fall mehr als Selfie-Literatur oder eitle Selbstbespiegelung. Die Autor:innen gehen über die faktische Rekonstruktion von Vergangenheit hinaus und betreiben eine Art von «Autoethnografie». Sie arbeiten mit zeitlichen Perspektivenwechseln und richten den forschenden Blick auf soziale wie kulturelle Kontexte. Schreiben stellt dabei den Versuch dar, Lebensereignisse und persönliche Erfahrungen nicht nur getreu wiederzugeben, sondern in der Rückschau zu analysieren und prägende Muster offenzulegen. In der Form des Romans nutzen die Schreibenden den Spielraum der Fiktion, um kreativ und mit erzählerischer Eindringlichkeit mehr «Wirklichkeit» oder Wahrhaftigkeit zu schaffen.

Geschichte(n) erzählen

Fiktionale Darstellungen bedienen sich raffinierter Tricks, um einen Realitätseffekt zu erzeugen. Mit diesen Verfahren arbeitet auch die Geschichtsschreibung. Der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White hat in diesem Zusammenhang schon auf die «Fiktion des Faktischen» hingewiesen und nachgewiesen, dass historisches Erzählen immer durch Formen der Plotstrukturierung und der Argumentation gestaltet wird. In gleicher Weise spielen in der Nachrichtenberichterstattung heute Storytelling und Narrative eine bedeutende Rolle.

«Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt.»

So formuliert es der Schriftsteller Christoph Ransmayr im Vorwort zu Atlas eines ängstlichen Mannes.

Das Leben als Roman

Wenn früher das eigene Leben für eine Geschichte Modell stand, sprach man einfach von autobiografischen Bezügen – gelegentlich von einem Schlüsselroman, falls sich das fiktionale Personal trotz Tarnnamen als fadenscheiniger Abklatsch der privaten Realität erwies oder gar mit pikanten Details aus dem Alltag der Autor:innen aufwartete.

Beim Schreiben gehe es darum, so Stephen King, eine Geschichte so unbeschädigt wie möglich aus dem Boden zu heben. (Quelle: Adobe Stock)

Der Protagonist in Ian McEwans aktuellem Roman Lektionen zeigt sich überrascht und enttäuscht, dass er in den biografisch gefärbten Romanen seiner Ex-Frau überhaupt nicht vorkommt. Als er sich Jahrzehnte später in ihrem neusten Buch dann doch endlich als Figur erkennt, ist er wiederum schockiert, dass sie ihn als Tyrannen und gewalttätigen Ehemann dargestellt. Die Verfasserin reagiert auf seinen Vorwurf mit grösstem Erstaunen: «Das ist ein Roman. Keine Autobiografie.» Ob nun als Autobiografie oder Fiktion – authentisches Schreiben nimmt wenig Rücksicht auf Empfindlichkeiten. Es stellt sich alten Verletzungen und spürt «Schmerzkerne» auf. «Der Hintergrund und Antrieb jeden literarischen Schreibens», hat Urs Widmer in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen betont, «ist ein Leid, ein blinder Kern, in dem es sich – vom Schreibenden begrifflich nicht zu fassen – hochkonzentriert und zur Explosion bereit verbirgt.» Ein ähnliches Bild beschwört Erfolgsautor Stephen King in Das Leben und das Schreiben herauf, wenn er von Fundstücken oder Fossilien spricht. Beim Schreiben gehe es darum, eine Geschichte so unbeschädigt wie möglich aus dem Boden zu heben. «Manchmal legt man ein kleines Fossil frei: eine Muschel. Manchmal ist es riesengross, ein Tyrannosaurus Rex mit gigantischen Knochen und grinsendem Schädel.»

Life Writing als Entdeckungsreise

Wenn junge Autor:innen heute vermehrt den unspektakulären Alltag als Rohstoff für ihre Geschichten nutzen, illustriert dies, dass wir alle ein Produkt unserer Lebensumstände sind und beim Erzählen aus dem Persönlichen schöpfen. Das Vertraute wie etwas Fremdes zu betrachten und literarisch zu ergründen, mag auch all jenen Mut machen, die weit davon entfernt sind, ihre Memoiren zu publizieren und Privates in die Öffentlichkeit zu tragen. Denn Life Writing gehört allen. Um herauszufinden, ob der Zeitpunkt passt, fängt man besser früher als später damit an.

Wohin geht die literarische Reise? (Quelle: Adobe Stock)

Man muss nicht Erfinder, Nobelpreisträgerin, Olympiasieger, Künstlerin oder Staatsoberhaupt sein. Dieser einzigartige Prozess der Sinnfindung und Gestaltung steht allen offen. Wer flüchtige Einfälle im Tagebuch festhält, Vergangenes dokumentiert, Erlebnisse und Empfindungen zu einer persönlichen Geschichte formt, schafft einen Raum für Reflexion und Entwicklung. Lifelong Writing bedeutet Lifelong Learning.

Allen sprichwörtlichen Behauptungen zum Trotz: Das Leben erzählt keine Geschichten. Der Mensch – homo narrans – ist das erzählende Wesen. «Wir alle sind Fiktion», so Doris Dörrie in Leben, schreiben, atmen: Eine Einladung zum Schreiben, «aber das glauben wir nicht, weil wir uns mitten in ihr befinden wie in einem Fortsetzungsroman.»

INFOBOX

Unter dem Motto «Dem eigenen Schreiben auf der Spur» bieten Prof. Dr. Daniel Ammann, Erik Altorfer und Dr. Martina Meienberg zwei Module zum literarischen Schreiben an, die separat oder kombiniert gebucht werden können.
Das erste Modul «Biografisches Schreiben – das Leben erzählen» bietet Anfänger:innen wie Fortgeschrittenen Gelegenheit, sich im Schreiben mit Erlebnissen, Erinnerungen und persönlichen Lebenserfahrungen zu beschäftigen, um daraus eigene Prosatexte und Geschichten entstehen zu lassen.
Das zweite Modul «Literarisches Schreiben – Wege zum eigenen Schreibprojekt» widmet sich dem fiktionalen Schreiben und vermittelt Methoden des realistischen und fantastischen Erzählens.
In beiden Modulen erhalten Sie in Präsenzveranstaltungen und individuellen Coachings Anregungen und Impulse zum literarischen Schreiben und lernen Techniken der kreativen Textarbeit kennen.
Beide Module sind für den CAS Beraten im Bildungsbereich anrechenbar und sind mit je 1 ECTS dotiert.
Das erste Modul startet am 26. April 2023. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!

Zum Autor

Daniel Ammann ist Dozent für Medienbildung, Mitarbeiter des Schreibzentrums der PH Zürich sowie freier Literaturkritiker (SRF-Bestenliste, NZZ, Buch & Maus) und Autor. Seine Schwerpunkte sind literarisches und wissenschaftliches Schreiben, Filmbildung und narrative Kinder- und Jugendmedien. 

Handlungskompetenzorientierung – Perspektiven für die Höheren Fachschulen

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Text von Reto Wegmüller

Die Positionierung der Höheren Fachschulen ist in der Bildungslandschaft und insbesondere im internationalen Kontext seit geraumer Zeit unscharf. Dies führte in den vergangenen Jahren zu einem Verlust an Renommee und an Attraktivität gegenüber den Fachhochschulen. Verschiedene Akteure versuchen, dem im Rahmen der Initiative «Berufsbildung 2030» entgegenzuwirken. Zudem setzte in den vergangenen Jahren eine vermehrt wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Höheren Fachschulen ein. In diesem Zusammenhang ist auch die neuste Publikation der Pädagogischen Hochschule Zürich zu verstehen, in der unterschiedliche Akteure aus der Praxis und der Wissenschaft Beiträge zu den Herausforderungen und Perspektiven der Höheren Fachschulen beisteuern.

Aktiv positionieren als Bildungsanbieter:in

Das Kaufmännische Bildungszentrum Zug (KBZ) verfügt seit rund 30 Jahren über die Höhere Fachschule für Wirtschaft Zug (HFW Zug), an der die beiden Diplomstudiengänge «Dipl. Betriebswirtschafter/-in HF» und «Dipl. Wirtschaftsinformatiker/-in HF» angeboten werden. Die Verantwortlichen der HFW Zug hoffen darauf, dass der Bund die Weichenstellung für eine optimale Positionierung rechtzeitig vornimmt. Als Bildungsanbieter:in darf man sich aber nicht auf diese passive Rolle beschränken. Es gilt, die aktuellen Arbeitsmarktanforderungen und die Bedürfnisse der Studierenden in den Studiengängen optimal unter Berücksichtigung der geltenden Rahmenlehrpläne abzubilden. In beiden Diplomstudiengängen wurden die Rahmenlehrpläne vor kurzer Zeit überarbeitet. Eine verstärkte Arbeitsmarktorientierung ist dabei ersichtlich, insbesondere im Bereich Wirtschaftsinformatik. Bei diesem Rahmenlehrplan wurde der Wechsel von den traditionellen Fächern hin zu den Handlungskompetenzbereichen vorgenommen und somit eine stärkere Ausrichtung am beruflichen Umfeld sichergestellt. In Abgrenzung zu den Fachhochschulen legt die HFW Zug einen verstärkten Schwerpunkt auf die Praxisorientierung. Zusammen mit dem theoretischen Fachwissen sollen die Studierenden dadurch handlungskompetent und somit begehrte Fachkräfte für den Arbeitsmarkt des Wirtschaftsraums Zug werden. Dazu werden authentische Lernbezüge in den verschiedenen fachlichen und überfachlichen Kompetenzbereichen während der drei Studienjahre hergestellt, was wiederum eine bessere Zukunftsfähigkeit sicherstellen soll. Das Lernen ist dabei ein Wechselspiel zwischen Instruktion und Konstruktion in einem partnerschaftlichen Verhältnis der verschiedenen Akteure. Die selbstregulierten Aktivitäten der Studierenden werden durch anleitende und orientierende Hilfestellungen seitens der Dozierenden ergänzt. Wahlmöglichkeiten im 3. Studienjahr ermöglichen dabei eine individuelle Profilbildung. Um realitätsnahe Lernbezüge herzustellen, selbstreguliertes Lernen zu fördern, die Zusammenarbeit zu unterstützen und die Betreuung durch die Dozierenden zu erweitern, wurde am Weiterbildungszentrum des KBZ ab dem Jahr 2018 schrittweise eine Blended Learning-Strategie umgesetzt. Auch an der HFW Zug kommt das Konzept von 80 % Präsenzunterricht und 20 % asynchroner Onlinebetreuung seit 2019 zur Anwendung. Dabei soll eine optimale Verzahnung von asynchronen und synchronen Lehrsequenzen sichergestellt werden.

KV-Reform: Unterrichten in interdisziplinären Kompetenzbereichen

In den Jahren 2023 bis 2026 steht mit der Reform Kaufleute 2023 ein umfangreicher Veränderungsprozess für die drei Lernorte der beruflichen Grundbildung an. Die Ausrichtung auf die zukünftigen Arbeitsmarktanforderungen führt zu einer Ausbildung entlang der Handlungskompetenzen der angehenden Berufsleute. Für die Berufsfachschulen bedeutet dieser Paradigmenwechsel, dass künftig nicht mehr in den traditionellen Schulfächern, sondern in interdisziplinären Kompetenzbereichen unterrichtet wird.

Die ausgebildeten Kaufleute stellen die grösste Gruppe der künftigen Studierenden für den Diplomstudiengang «Dipl. Betriebswirtschafter/-in HF» dar. Es gilt deshalb, die Chancen dieser Berufsbildungsreform zu erkennen und die HF-Studiengänge rechtzeitig auf die neuen Absolventinnen und Absolventen der reformierten kaufmännischen Grundbildung auszurichten. Dabei gilt es beispielsweise zu berücksichtigen, dass diese erweiterte Kompetenzen in den Bereichen der 4K (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und Kritisches Denken) und der digitalen Medien mitbringen werden. In der neuen Grundausbildung werden künftigen HF-Studierenden von Lehrpersonen betreut, die eine didaktische Aufbereitung der beruflichen Handlungssituationen mittels disziplinären und interdisziplinären Wissens vornehmen und die aktuellen betrieblichen Lern- und Arbeitssituationen kennen. Diesen Ball gilt es in der Höheren Fachschule für Wirtschaft aufzunehmen und gezielt auf Dozierende aus der Praxis zu setzen, die in der Lage sind, handlungskompetenz- und marktorientierten Unterricht interdisziplinär und gemeinsam mit Praxispartnern zu gestalten.

Bach, Haberzeth & Osbahr. 2022. Höhere Fachschulen in der Schweiz: Herausforderungen und Perspektiven. (Quelle: hep Verlag)

Dem Fachkräftemangel in der Schweiz entgegenwirken

Die eingangs erwähnte Publikation, herausgegeben von Bach, Haberzeth und Osbahr, erlaubt eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Höheren Fachschulen in der Schweiz als wichtigem Segment des Schweizer Bildungssystems. Es liegt nun an den Verantwortlichen in den Bildungsinstitutionen der unterschiedlichen Berufsfelder, sich den Herausforderungen zu stellen und die unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen. So soll durch eine individuelle Persönlichkeitsbildung kombiniert mit einer konsequenten Handlungskompetenzorientierung dem Fachkräftemangel in der Schweiz begegnet werden.

INFOBOX

Neuerscheinung

Der 12. Band der Reihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung heisst «Höhere Fachschulen in der Schweiz. Herausforderungen und Perspektiven.» und zeigt die Vielfalt der Höheren Fachschulen in der Schweiz und ihr Potenzial im Bildungsdiskurs.

Gerne stellen wir Ihnen die neue Publikation an der Buchvernissage am 23. November 2022, 17.30-19.15 Uhr, am Campus der PH Zürich vor. Anmelden

Reform Detailhandel und KV
Informationen und Angebote der PH Zürich zur Reform Detailhandel und KV finden Sie hier.

Zum Autor

Reto Wegmüller ist Rektor des Kaufmännischen Bildungszentrums Zug; davor war er Leiter des Weiterbildungszentrums und Verantwortlicher für Schul- und Qualitätsentwicklung.

Entscheidungsprozesse an Hochschulen: Entscheiden lassen – Entscheide steuern – Entscheide bewirken 

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Beitrag von Dagmar Engfer

Als Beraterin begleite ich Einzelpersonen und Gruppen, wenn sie Studiengänge koordinieren oder Projekte leiten. Dabei erlebe ich ihr hohes Bedürfnis, die komplexen Systeme von Hochschulen zu verstehen, um sich wirksam darin zu bewegen. In den Gesprächen zeigen sich Machttopografien, Entscheidungswege, Vernetzungen sowie die eigene Verortung und erlebte Verstrickungen, die im (Gruppen-)Coaching in Bildern skizziert werden. 

Abbildung 1

Solche Landkarten der Macht illustrieren, wie Entscheidungsprozesse funktionieren und verdeutlichen Grenzen der Mitgestaltung (Abb.1). Jedoch erkennen wir darin auch mögliche Freiräume, offene Türen, nutzbare Lücken und durchlässige Grenzen. Personen in lateralen Führungsfunktionen bewegen sich zwischen Personen und System. Ihre Frage ist, wie sie sich darin bewegen können.  

Als laterale Führungskraft ist zentral, sich professionell und organisational im Arbeitssystem Hochschule zu verorten. Dies erlaubt, Entscheidungsprozesse nicht nur nachzuvollziehen, sondern aktiv mitzugestalten. Es geht darum, die persönliche Funktion als Akteur:in zu erkennen, zu verstehen und eigene Wirksamkeit zu erleben.  

Beispiele von Landkarten der Macht 

Vorliegender Beitrag fokussiert das Handeln einzelner Personen, die eine Entscheidungsfunktion neben der hierarchischen Linie innehaben.

  • Wie kann mit gesetzten Regeln umgegangen werden?
  • Wie weit sind Rahmen (un)verrückbar? 
  • Wo gibt es Spielräume? 
  • Wie verhandelbar sind Grenzen? 
  • Wie kann Mensch sich in einer lateralen Führungsfunktion bewegen? 
  • Wie werden Stakeholder wirksam genutzt?

Sich bewegen in Entscheidungsprozessen

Die obenstehende Abbildung 1 und die untenstehende Abbildung 2 verdeutlichen, dass Studiengangs- oder Projektleiter:innen als Basis für wirksame (Entscheidungs-)Bewegungen die Funktionsweise der eigenen Organisation kennen müssen, wo sie sich darin sehen und in welche Richtungen sie sich bewegen.  

Betrachten wir die Bilder etwas genauer: Vielfältige Bewegungen zeigen sich in beiden Skizzen vorwiegend lateral. Nach oben hin erscheinen sie punktuell und zielgerichtet. Zart angedeutet sind diejenigen Bewegungen, die einen gesetzten Rahmen durchbrechen resp. Lücken im Rahmen nutzen.  

Abbildung 1 zeigt dreidimensional einen klaren Rahmen, der aus einer dicken und kompakten Grenze nach oben besteht. Offenbar scheint eine Bewegung dahin kaum möglich. Dennoch weist dieses Dach kleine Lücken auf und es lässt sich ein schmaler Durchgang in der Mitte erkennen, eine Bewegung sogar durch die Decke hindurch. Dies deutet darauf hin, dass durchaus Spielraum zu bewusst ausgewählten zentralen Stakeholdern genutzt wird. 

Auch beim zweiten Bild (Abb. 2) erkennen wir Bewegungen, die über den Rahmen der Organisation zu politisch wichtigen Partner:innen hinausgehen. Interessant in diesem Bild ist, dass mehrere externe Stakeholder als Vernetzungspartner:innen genutzt werden.

Abbildung 2.
Vernetzungen in alle Richtungen sind zentral für Koordinierende eines Graduiertenprogramms.

Wie sehen solche Bewegungen für die Koordinatorin eines Graduiertenprogramms aus? Die Vernetzungen in alle Richtungen sind zentral, um das Programm zu gestalten. Dennoch ist es nur eingeschränkt möglich, mit den Führungsebenen zusammenzuarbeiten. Die Koordinatorin erlebt intransparente und unklare Personal- und Budgetentscheide als herausfordernd. Sie wird kaum in solche Entscheidungsprozesse einbezogen, obwohl diese für ihre Arbeit ausnehmend relevant sind. Die Koordinatorin nimmt dies als Einschränkung ihres Handlungsspielraums und mangelnde Wertschätzung wahr. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, vernetzt sich die Koordinatorin mit Partner:innen ausserhalb des eigenen Arbeitssystems und ausserhalb der Organisation. Dabei holt sie sich Unterstützung für strategische Vorgehensweisen und erlangt so weitere Bewegungsmöglichkeiten. 

Die Koordinatorin wirkt in ihrer Funktion proaktiv. Einerseits kennt sie die «Spielregeln», die Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse. Andererseits bleibt sie, selbst bei schmerzlich erlebten Grenzsetzungen, aktiv und bewegt sich auf alternativen Wegen, um auf Entscheide einzuwirken. Sie steigt in Verhandlungsprozesse ein, nutzt ihren Spielraum und bringt beharrlich ihre Interessen ein. Bildlich gesprochen fliegt sie manchmal unerwartet durchs Kamin hinein, anstatt die Treppe ins Haus zu nehmen. Das mag irritieren, doch führt zuweilen zum Erfolg. Sie benennt diesen Weg selbst als risikoreich und fliegt ihn nur, weil sie sich von der direkten Vorgesetzten aufgrund des guten Vertrauensverhältnisses getragen fühlt. 

Ein zweites Beispiel zeigt weitere Bewegungsmöglichkeiten. Ein Studiengangsleiter überprüft mit seinem Dozierendenteam einen Studiengang, um eine aufbauende Passung desselben zu erreichen. Kernfragen hierbei sind: Wie lässt sich im Team die Qualität sichern und entwickeln? Wie werden Entscheidungen mit dem Team gemeinsam gefällt? Wie viel Partizipation ist erwünscht? Was entscheidet die Studiengangsleitung selbst?  

Der Studiengangsleiter erhält die Zustimmung von seinem Vorgesetzten für das geplante Projekt. Er entwickelt einen Vorgehensplan, den er dem Team vorstellt. Dabei realisiert er, dass eine tragfähige Lösung nur möglich ist, wenn er das Team von Anfang an in den Prozess mit einbezieht und den Prozess moderiert. Dabei kommt ihm das Drei-Schritte-Modell von Ch. Böckelmann (2022) zugute.

Quelle: Ch. Böckelmann 2022 (Aus: Unterlagen des Moduls «Entscheidungsprozesse planen, zielführend verhandeln und gestalten» im CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen)

Kurz bevor er diesen Prozess neu lanciert, wird ihm die Linienführung für das Team übertragen. Dies verändert seine Perspektive. Mit dem Ziel einer tragfähigen Lösung verlangsamt er den Prozess und geht iterativ unter Einbezug der Expertise der Dozierenden vor. Zentral bleibt die Frage, was und wann er in seiner Leitungsfunktion entscheidet, um den Prozess zielgerichtet und doch fliessend mäandrierend zu gestalten.

Die Aufgabe der Leitung besteht mehr darin, die Problem-, Ziel- und Strategieklärung zu moderieren und Klarheit in die Abläufe zu bringen.

Prozess beschleunigende und erleichternde Entscheide sollen von mir gefällt werden.

Das Team soll die Möglichkeit haben, mir zu ihrer Partizipation an Entscheidungsfindungsprozessen Rückmeldung zu geben.

(Samuel Hug, Bereichsleiter Pflege HF, ZAG, Projekt im Rahmen des CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen)

Anstehen, woanders einsteigen, abkürzen oder zu Fuss? 

Entscheidungen werden meist in verschiedenen Alternativen angedacht: Stehe ich, wie am Skilift, in der Schlange an oder gehe ich zu Fuss in Richtung Bergstation oder suche ich eine Mitfahrgelegenheit zur Mittelstation, um dort zuzusteigen?  

Zentral ist, wie sich Funktionstäger:innen zu Entscheidungsprozessen stellen.  
Ist genug Energie vorhanden, um Spielräume auszuloten, gar zu erkämpfen?  
Betrachte ich gesetzte Regeln als unverrückbar oder steige ich in eine Verhandlung ein?  
Suche ich Bewegungen mit verschiedenen Stakeholdern und bilde Allianzen? 

Allen gemeinsam ist eine Bewegung weg vom «lediglich machen oder ausführen» hin zu einem strategischen Vorgehen. Dabei werden Grenzen ausgelotet, Spielräume eröffnet und genutzt. Als Beraterin erlebe ich Menschen in solchen Funktionen als äusserst kreativ und proaktiv in ihren Arbeitsfeldern.

INFOBOX

Der CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen ermöglicht massgeschneidert und laufbahnbezogen die Entwicklung rollenspezifischer Kompetenzen in den Bereichen Führung, Management und Planung. Er richtet sich an Verantwortliche in Projekten, Studiengängen und Querschnittsfunktionen in Aus- und Weiterbildung an Fachhochschulen, Universitäten, Pädagogischen Hochschulen, höheren Fachschulen und weiteren Bildungsinstitutionen. Die nächste Durchführung startet am 28. März 2023. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!

Zur Autorin

Dagmar Engfer ist Coach, Organisations-beraterin, Teamentwicklerin und Führungs- und Laufbahnberaterin BSO, stellvertretende Leiterin sowie Verantwortliche Beratung und Dozentin am Zentrum Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich. Zudem ist sie Co-Leiterin des Lehrgangs CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen.

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