Vom KI-Fastfood zum sinnhaften Einsatz

Text: Charlotte Axelsson

Vor Kurzem wurde ich gefragt, ob ich Angst vor den rasanten technologischen Entwicklungen habe. Meine Antwort lautete: ein klares Jein. Die Technologie selbst macht mir keine Angst – im Gegenteil, sie fasziniert mich. Ich werde zum Homo Ludens, mein Spieltrieb kennt kaum Grenzen. Was mir Sorgen bereitet, ist der Mensch, der diese Technologien nutzt, steuert oder weiterentwickelt – oft ohne sich der Verantwortung für deren Auswirkungen bewusst zu sein. Diese Sorge hat mich dazu gebracht, intensiver über Ethik in der Bildung nachzudenken, zum Beispiel am PHZH Barcamp «Assessment im Wandel – KI-basierte Ansätze für Beurteilung und Feedback» oder als Co-Herausgeberin der neuen Open-Access-Publikation «Ich, Wir & Digitalität, Ethik in der Lehre». Für mich ist klar: Eine ethisch fundierte Lehre ist der Schlüssel für einen sinnhaften Einsatz von Technologie. Ganz im Sinne des Buchtitels: «ICH steht für die persönliche Reflexion, WIR für das Miteinander und DIGITALITÄT beschreibt den kulturellen Wandel, der durch technologische Innovationen entsteht», lässt sich dieser Dreiklang auch im Dagstuhl-Dreieck (Figur 1) als technologische, gesellschaftliche, kulturelle und anwenderbezogene Perspektive beschreiben. Solche Modelle ermöglichen es auch, die eigene Lehre zu überprüfen und fehlende Perspektiven zu integrieren.

Figur 1: Dagstuhl Dreieck in «Ich, Wir & Digitalität, Ethik in der Lehre»

Bildung vermittelt nicht nur Wissen, das ist ebenfalls klar und wurde zum Beispiel durch Peter Holzwarth in «Sind Menschen die besseren Roboter? Ethische Fragen zur Digitalisierung» beschrieben, sondern auch die grundlegenden Werte einer Gesellschaft – ein essenzielles Element für deren Zusammenhalt und Funktionieren. Doch wie verändert der technologische Fortschritt unsere Zusammenarbeitsformen und das Beurteilen von Leistungen? Warum ist es besonders wichtig, im digitalen Zeitalter über Ethik zu sprechen? Im Folgenden habe ich zwei wichtige Gründe zusammengetragen, die die Wichtigkeit einer tiefgründigen Auseinandersetzung für uns Menschen unterstreichen sollen. Folgend gebe ich Einblicke in die Diskussion des Barcamps mit der Anwenderperspektive «Ethik und gesellschaftlichen Implikationen von KI im Assessment von Leistungen».

Erster Grund ist omnipräsentes Wissen: Technologien wie die Suchmaschine von Google oder Wikipedia machen Wissen allgegenwärtig und leicht zugänglich. Generative Technologien – etwa ChatGPT von OpenAI – ermöglichen es zudem, Wissen neu zu kombinieren und zu generieren. So stellt der technologische Wandel traditionelle Konzepte von Wissen und dessen Bewertung infrage und verlangt nach neuen Ansätzen. Wie überprüfen wir Leistungen, wenn man auf einen Klick ganze Hausarbeiten von einer Maschine generieren lassen kann?

Zweiter Grund sind intransparente Machtstrukturen: Unternehmen wie Google, Microsoft oder OpenAI kontrollieren zentrale Plattformen und Technologien und verfolgen in erster Linie ihre wirtschaftlichen Interessen. Dadurch entstehen gefährliche Abhängigkeiten, die Bildungseinrichtungen, Gesellschaften und sogar Staaten in ihrer Autonomie einschränken. Ein zentrales Problem ist die Intransparenz der Algorithmen: Sie steuern, welche Informationen priorisiert oder generiert werden, und beeinflussen dadurch, was wir sehen, lesen und lernen. Dies schafft eine neue Wissenshierarchie. Damit wird Wissen nicht mehr neutral verteilt, sondern von wenigen Akteuren gelenkt. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, braucht es unabhängige Alternativen und eine breite gesellschaftliche Debatte. Gerade Pädagogische Hochschulen müssen eine Vorreiterrolle übernehmen, indem sie kritische Medienkompetenz fördern und sich aktiv mit diesen ethischen Fragen auseinandersetzen.

Ethik in der Lehre – Diskussionen aus dem Barcamp 

Die Herausforderungen werden besonders deutlich, wenn man diese beiden Gründe auf konkrete Bereiche im Bildungswesen anwendet. Beim Barcamp «Assessment im Wandel – KI-basierte Ansätze für Beurteilung und Feedback» haben wir uns in einem Track mit «Ethik und gesellschaftlichen Implikationen von KI im Assessment von Leistungen» beschäftigt.

Die Diskussionen zeigten schnell, dass Bildung und vor allem Prüfungen nicht nur der Vermittlung und dem Abfragen von Wissen dienen, sondern auch kulturelle, soziale und persönliche Entwicklung umfassen. In der Diskussion haben wir uns um zwei Statements gedreht: Mensch, sei du selbst der Wandel – Technologie sollte sinnstiftend eingesetzt werden – nicht allein aus Effizienzgründen. Oder mit Play, Qualität fördern! rufen die Teilnehmenden das spielerische Konzept «Slow AI» auf, welches auf Reflexion, Neugierde und Entschleunigen setzt und eine Art Gegenbewegung zu Fastfood (KI-)Wissen darstellt.

Des Weiteren wurde die Frage, ob KI in der Lage ist, Sinn oder individuelle Werte in die Beurteilung einfliessen zu lassen, kontrovers diskutiert. Transdisziplinäres Lernen und alternative Beurteilungskulturen – weg von starren Konzepten von «richtig» und «falsch» hin zu mehr Kreativität – könnten dabei eine Schlüsselrolle spielen. Hier ist Austauschen und Voneinander-Lernen gefragt. Und über eines sind sich alle einig gewesen: Traditionelle Prüfungen, die lediglich Wissen abfragen, waren noch nie und sind einfach nicht mehr haltbar.

Barcamp 2024

Fazit und Ausblick 

Zum Schluss gibt die Disziplin Ethik in der Regel wenig Antworten – Ethik bietet Denkräume. Diese «Safe Spaces» müssen wir im Bildungswesen schaffen, in denen wir erforschen, entwickeln und vermitteln können – basierend auf Werten wie Menschlichkeit, Sinnhaftigkeit und Verantwortung. Denn nur, wenn wir Technologie bewusst und reflektiert einsetzen, können wir sicherstellen, dass der Wandel menschenwürdig ist. 

Das Thema werden wir weiterdiskutieren und laden an dieser Stelle zum nächsten Barcamp «Assessment und KI: Gemeinsam praktische Formate erkunden» am 20. November 2025 ein. Wer bis dahin nicht warten kann, empfehle ich unser kleines Büchlein, darin findet man weitere Fragen und praktische Anwenderbeispiele für den eigenen Unterricht.

INFOBOX

BARCAMP «ASSESSMENT UND KI: GEMEINSAM PRAKTISCHE FORMATE ERKUNDEN»,
20. NOVEMBER 2025 AUF SCHLOSS AU

Interessieren Sie sich für diese Tagung? Gerne können Sie in diesem Formular Ihren Namen und Mailadresse hinterlassen, dann informieren wir Sie, sobald Programm und Anmeldemöglichkeit aufgeschaltet sind.

KURS (PHZH-INTERN)
Ethische Fragen zur KI: Praxisnahe Ansätze für den Unterricht
Dienstag, 8. April, 12.15–13 Uhr, Campus PH Zürich

LITERATUR
Blume, Dana & Axelsson, Charlotte. 2024: Ich, wir & Digitalität, Ethik in der Lehre.

Zur Autorin

Wie nutze ich KI für das Schreiben an der Hochschule?

Text: Maik Philipp, Alex Rickert, Yves Furer und Daniel Ammann

Positionspapier zum wissenschaftlichen Schreiben in Zeiten von künstlicher Intelligenz

Dieses Positionspapier des Schreibzentrums der PHZH setzt sich mit zentralen Herausforderungen auseinander, die sich für Hochschulen in Zeiten von künstlicher Intelligenz (KI) im Kontext des Lernens und des Verfassens schriftlicher Arbeiten ergeben.

Wie an anderen Hochschulen nutzen auch Studierende der PHZH generative KI für das Schreiben ihrer Texte. Studien aus Deutschland (Helm u. Hesse 2024), Schweden (Stöhr, Ou u. Malmström 2024), Australien (Kelly, Sullivan u. Strampel 2023) oder den USA (Dang u. Wang 2024) belegen die intensive KI-Nutzung von Studierenden. Die deutsche Studie zeigt, dass zumindest ein Teil der Studierenden KI auf eine Weise einsetzt, die problematisch erscheint – etwa zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit.

Diese Entwicklung zwingt Hochschulen, sich Fragen zur Funktion und zum Stellenwert des Schreibens zu stellen, sei es für das Lernen, das Verfassen von Leistungsnachweisen oder in Prüfungen. Das Schreibzentrum äussert sich dazu aus epistemologischer und lernbezogener Perspektive. Die Fähigkeit, im Umgang mit Texten analytisch und kritisch zu denken, gewinnt in komplexer werdenden Wissensgesellschaften zusehends an Bedeutung. Künstliche Intelligenz nimmt mündigen Personen diese Aufgabe nicht ab, sondern fordert diese ein und heraus. Das Schreibzentrum positioniert sich mit zwei Thesen zur Nutzung von KI für das Schreiben an der Hochschule, um die Notwendigkeit des reflektierten Einsatzes zu betonen. Die erste These bezieht sich auf die Systemebene der Wissenschaft, die zweite betrifft die Personenebene und die Einsatzgebiete generativer KI. Die Thesen werden exemplarisch von Vignetten flankiert.

Ist die Zukunft des Schreibens eine Kollaboration zwischen einem Menschen und künstlicher Intelligenz? (Foto: Adobe Stock)

These 1: KI ist keine verlässliche Wissensquelle, weil sie keine Expertise hat. Wissen wird von Expert:innen hergestellt und über epistemisch vertrauenswürdige Quellen verbreitet. Wissensproduktion folgt anerkannten und transparenten Regeln – es ist unklar, ob KI das tut.

Vignetten:

  • Student A übernimmt eine automatisch generierte Definition aus ChatGPT, die plausibel klingt, und sucht via Elicit eine Quelle, die dazu passt.
  • Student B sucht nach unterschiedlichen Definitionen in der Fachliteratur, die er mit Hilfe von KI-Recherchetools gefunden hat, vergleicht die Definitionen miteinander und entscheidet sich unter Angabe von Gründen für eine Variante.

In Wissensgesellschaften sind wir darauf angewiesen, dass Erkenntnisse jedweder Art auf nachvollziehbare Weise entstanden sind. Die Komplexität der Wissensherstellung bringt ein hohes Mass an Expertise und Spezialisierung mit sich. Darauf baut die Wissenschaft, indem sie erkennbare Expertise in einem Fachgebiet als Indikator dafür nutzt, dass sich andere Mitglieder der Gesellschaft auf die Aussagen verlassen können (Chinn, Barzilai u. Duncan 2021).

  • Darum beschreiben Wissenschaftler:innen ihre Methoden genau und belegen, auf welche Quellen sie sich stützen.
  • Darum gibt es Qualitätssicherungsmechanismen, indem etwa Beiträge in Fachzeitschriften von anderen Expert:innen begutachtet werden.
  • Darum lassen sich wissenschaftliche Quellen zumindest annäherungsweise daran erkennen, dass sie von fachlich qualifizierten Personen für ihre Fachcommunitys verfasst werden, um darin ihre Erkenntnisse zu verbreiten.
  • Darum ist es keineswegs trivial, auf welche Quellen sich Studierende stützen. Eine angemessene Quellenkritik und -auswahl wird zusehends wichtiger.

Funktionsweise und Datengrundlage generativer Large-Language-Models bleiben teils Betriebsgeheimnis, deshalb lässt sich kaum nachvollziehen, welche Quellen den KI-Outputs zugrunde liegen und wie die Aussagen zustande kommen. Stil und Textoberfläche der Outputs dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich darin inhaltlich Falsches, Fragwürdiges, Verkürztes, Tendenziöses verbirgt.

These 2: KI soll das Lernen durch Schreiben unterstützen und nicht verhindern. Schreiben ist nachweislich ein effektives Instrument für das Lernen. Dafür sollte es auch genutzt werden.

Vignetten:

  • Studentin A füttert Claude.ai mit Fragestellung, Theorie- und Ergebnisteil ihrer Bachelorarbeit und lässt den Diskussionsteil von der KI generieren.
  • Studentin B formuliert ihren Diskussionsteil selbst, indem sie die Ergebnisse auf die Fragestellung bezieht und diese mit Modellen und Studien aus dem Theorieteil abgleicht und einordnet.

KI-Tools sind auf Schnelligkeit und Aufgabenerledigung ausgerichtet. Das macht sie attraktiv. Deshalb ist wichtig, dass diese Systeme reflektiert und eigenverantwortlich genutzt werden. Dies bedeutet: Die Tools kommen dort sinnvoll zum Einsatz, wo sie das Lernen durch Schreiben unterstützen und es nicht verhindern – etwa bei der Quellenrecherche, der Datenstrukturierung, beim Generieren inhaltlicher Impulse und Ideen, für Feedback oder bei der stilistischen und orthografischen Überarbeitung. Lese- und schreibbezogenen Aktivitäten, die auf das Denken höherer Ordnung – das Anwenden, Analysieren, kritische Evaluieren und Kreieren (List u. Sun 2023; Philipp in Druck; Philipp 2022) – abzielen, sollten jedoch nicht an eine KI delegiert werden. Solche Schreibpraktiken sind kognitiv herausfordernd, aber für die Entwicklung von Fachexpertise unverzichtbar. Die Fähigkeiten zum Denken höherer Ordnung durch Lesen und Schreiben entwickeln sich in der kleinschrittigen Auseinandersetzung mit Texten. Sie führen dazu, dass tief, flexibel und kritisch über Gegenstände eines Fachs nachgedacht wird. Aufgrund ihres transformierenden Anforderungscharakters erfordern sie Genauigkeit in Analyse und Evaluation und deshalb Langsamkeit (Chen 2019).

Auch bei Arbeiten mit KI, die auf fremden Texten basieren, zum Beispiel beim automatischen Zusammenfassen, ist es notwendig, Output, Prompt und Ursprungstexte miteinander zu vergleichen. Denn häufig gilt es, unterschiedliche Texte aus mehreren Quellen im eigenen Text zu integrieren. Integrieren bedeutet, die verschiedenen Aussagen sinnvoll aufeinander zu beziehen und deren Perspektiven zu erkennen und zu kombinieren. Diese Mehrperspektivität und die qualitativen Unterschiede von Aussagen zu erfassen und nachzuvollziehen, zeichnet den Wissensaufbau und die gedankliche Eigenleistung beim Lernen und bei Prüfungen aus (Kuhn 2020). Dafür braucht es die Fähigkeit, Bezüge zwischen Themen aktiv herzustellen, insbesondere wenn Autor:innen nicht das gleiche Vokabular verwenden. Solche Verstehensleistungen verlangen ein genaues Lesen (Britt u. Rouet 2012). Dies gilt auch und insbesondere für die Nutzung KI-generierter Textangebote: Geben die Chatbots angemessen wieder, was in den verwendeten Quellen steht – und passt der Prompt überhaupt zu den Texten? Darum wird es in der Regel nötig sein, genau zu lesen und den Output anzupassen. Anders gesagt: Die Zeit, die man beim Schreiben spart, ist gut im Lesen und Überarbeiten reinvestiert.

INFOBOX

Das Angebot der PH Zürich zum Schreiben und Schreiben mit KI umfasst Weiterbildungen, Dienstleistungen und Beratungen.

MEHR ZU WISSENSCHAFTLICHEM SCHREIBEN UND SCHREIBEN MIT KI
Das Schreibzentrum der PH Zürich bietet Unterstützung beim wissenschaftlichen Schreiben und Schreiben mit KI sowie spezifische weitere Informationen zu Schreiben mit KI.

MODULE
Schreiben begleiten und beurteilen, ab 17. März, Campus PH Zürich
Wissenschaftliches Schreiben, ab 23. September, Campus PH Zürich

SCHREIBBERATUNG
Mittels Schreibberatungen für Personen und Teams hilft das Schreibzentrum der PH Zürich, Schreibkompetenzen weiterzuentwickeln und Texte zu optimieren.

LITERATUR
- Philipp, Maik. 2025 Digitales Lesen fördern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Philipp, Maik. 2025. Lesen digital: Komponenten und Prozesse einer sich wandelnden Kompetenz. Weinheim: Beltz Juventa.

Zu den Autoren

Alex Rickert ist Leiter des Schreibzentrums der PH Zürich und ist als Dozent in Weiterbildungsgefässen aktiv. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Textlinguistik, Schreibberatung und -didaktik.

Maik Philipp ist Professor für Deutschdidaktik an der PH Zürich. Seine Schwerpunkte sind Lese- und Schreibförderung mit Fokus auf Evidenzbasierung.

Wie «bildet» man eigentlich Erwachsene? 

Text von Nils Bernhardsson-Laros und Markus Weil

Erwachsenenbildung findet in vielfältigen Kontexten statt – von Hochschulen bis hin zu informellen Settings in Alltagssituationen. Eine zentrale Eigenheit besteht darin, Erwachsene in Lernsituationen als mündige Individuen zu betrachten, sie aber dennoch direkt oder indirekt pädagogisch anzuleiten. Didaktische Ansätze auf Augenhöhe und machtfreie Wissensvermittlung bieten Lösungen, können das Spannungsfeld aber nicht völlig aufheben.

Gemeinschaftliches Lernen in der Erwachsenenbildung

Dilemma von Selbst- und Fremdsteuerung

Ganz unabhängig davon, in welchen Kontexten Erwachsene «gebildet» werden, geht dies immer mit einem konstitutiven Dilemma einher, das historische Hintergründe hat. Bereits in den 1920er Jahren, mit der Transformation von der Volks- zur Erwachsenenbildung und der Entstehung der sogenannten «neuen Richtung», wurde der traditionelle Ansatz einer erziehenden Belehrung infrage gestellt. Stattdessen orientierte man sich an machtfreien Bildungsformaten, in denen gemeinschaftliches Lernen im Vordergrund stand. Seitdem führt die Erwachsenen- und Weiterbildung ein Dilemma mit sich: Erwachsene werden einerseits als autonome, bereits erzogene Individuen betrachtet, während sie andererseits im Bildungsprozess doch pädagogisch adressiert werden müssen. Dieser dichotome Zusammenhang von Erziehung und Bildung mag – je nachdem in welchen Kontexten Erwachsene gebildet werden sollen, ob in formalen Unterrichtssituationen, in Gruppenanlässen oder in gestalteten Lernumgebungen – mal mehr und mal weniger zum Tragen kommen. Zumindest im Hintergrund bleibt er jedoch immer bestehen und kann nicht aufgelöst werden. Eine gewisse Pädagogisierung ist unvermeidbar und gleichzeitig auch erwünscht.

Vertrauen und Vertragsprinzip

Auch in Kontexten in denen eine (vermeintlich) machtfreie Wissensvermittlung propagiert wird, kommen Lehrende nicht umhin, wenn auch in einem geringen Masse, paternalistisch zu handeln, indem sie stellvertretende Deutungen für die Bildung der Lebenspraxis ihrer Lernenden vornehmen. Selbst wenn man sich dabei am Vertragsprinzip orientiert und sich als Bildungsdienstleister:in versteht, die/der manifeste Bildungsbedürfnisse der Lernenden erfüllt, kann und soll offen mit der notwendigen Pädagogisierung der Lernenden umgegangen werden. Auch in vertraglich konnotierten Bildungskontexten begeben sich die Teilnehmenden in die Hände der jeweiligen lehrenden Person, der sie zunächst mit einem Vertrauensvorschuss begegnen müssen. Der offene und reflektierte Umgang mit dieser paternalistischen Dimension ist eine Herausforderung, die eine langfristige, berufsbiographische Reflexion erfordert.

Formelle und informelle Settings

Gerade in der Erwachsenenbildung, wo sehr viele informelle und selbstgesteuerte Elemente zum Tragen kommen, wird die Rolle der Lehrenden häufig unterschätzt – auch in vermeintlich vertraglich definierten Bildungssettings.

Es lässt sich differenzieren, ob es sich um ein informelles, selbst initiiertes Lernsetting handelt oder um ein formelles, strukturiertes. Informelles Lernen, wie beispielsweise beim Austausch mit Kolleg:innen, wird oftmals selbst initiiert und weniger stark mit einem Machtgefälle in Verbindung gebracht. Je nach Verhalten der auskunftgebenden Person, kann aber auch hier eine Pädagogisierung Einzug halten. Gestaltete Lernumgebungen laden zum Selbstlernen ein, hier wird die Steuerung auf die Lernumgebung übertragen, wenn zum Beispiel bestimmte Informationen zur Verfügung gestellt werden und andere nicht. In dieser Reihe sind formalere Settings am stärksten mit dem Dilemma «Wie bildet man eigentlich Erwachsene?» konfrontiert. Lehrende können jedoch durch didaktische Gestaltung auf Augenhöhe und durch die bewusste Schaffung machtfreier Lernumgebungen gegensteuern. Auch das Angebot von Lernumgebungen, die Erwachsene selbst erkunden und gestalten können, bietet eine Möglichkeit, diesem Dilemma entgegenzutreten und das Lernen auf eine machtfreie, partizipative Grundlage zu stellen. Diese Grundlagen werden auch auf anderen Bildungsstufen thematisiert, neu hinzu kommt hier, dass die Zielgruppe mündige Erwachsene sind, die in der Regel viele berufliche und Lebenserfahrungen mitbringen welche im pädagogischen Setting zu berücksichtigen sind.

Fazit: Reflektieren und Weiterentwickeln

Die Reflexion dieses Spannungsfeldes zeigt, dass die Erwachsenenbildung in Bezug auf Macht, Verantwortung und Autonomie immer wieder neu ausbalanciert werden muss. Um mit der Dichotomie zwischen fremdbestimmter Erziehung und machtfreier Bildung umzugehen, hat sich in der Erwachsenen- und Weiterbildung ein Ansatz etabliert, der auf sogenannten «Erzogenen-Idealen» basiert. Dabei wird z.B. von hochgradig gebildeten, wissenden oder zur biografischen Selbstreflexion fähigen Menschen ausgegangen, woraufhin sich die Zielgruppe der Bildungsangebote als solche adressieren lässt, die diesen Idealen (noch) nicht entspricht. Für die Erwachsenenbildung bedeutet dies, dass ein zentrales Ziel darin besteht, dass Lehrende und Bildungseinrichtungen einen normativen Standpunkt entwickeln und diesen kontinuierlich in Bezug auf das berufliche Handeln sowie die Teilnehmenden ihrer Veranstaltungen reflektieren und weiterentwickeln. Das ist insbesondere relevant für die ständige Anpassung der eigenen Bildungsansprüche an die Bedarfe und Erwartungen der Lernenden. 

Die Erwachsenenbildung stellt Reflexionsinstrumente bereit, mit denen das eigene pädagogische Handeln hinterfragt und überprüft werden kann. Sie ergänzt den Erwerb professioneller Kompetenzen, wie sie in Weiterbildungen, der beruflichen Grundbildung oder Höheren Berufsbildung (z. B. Fachausweis) vermittelt werden, durch akademische Professionalisierungsstrategien.

INFOBOX

Wenn Sie Interesse an Fragen zur Praxis der Erwachsenenbildung haben oder diese als Reflexionsinstanz nutzen möchten, um Ihr eigenes pädagogisches Handeln weiterzuentwickeln, bietet die PH Zürich vielfältige Weiterbildungsangebote sowie Möglichkeiten zum Austausch und zur Vernetzung.

AUSTAUSCHGRUPPE«EB@PHZH»
Die informelle Austauschgruppe EB@PHZH trifft sich mindestens zweimal pro Jahr am Campus PH Zürich oder online. Informationen zur Gruppe und weiteren Veranstaltungen zum Thema finden sich auf der Seite Netzwerk Erwachsenenbildung.

TAGUNG
Gestaltung und Entwicklung von Lernräumen in der Erwachsenenbildung: Physische und virtuelle Dimensionen
Kooperation SVEB–PH Zürich
Donnerstag, 30. Januar 2025, 13–17.45 Uhr, Campus PH Zürich

MODULE
Angebotsentwicklung, ab 13. Januar 2025, Campus PH Zürich
Diversity Now: Diversitäten jonglieren, ab 27. Februar 2025, Campus PH Zürich
Aufgaben des Bildungsmanagements, ab 19. März 2025, Campus PH Zürich

LEHRGANG
CAS Unterricht gestalten mit digitalen Medien
ab 28. Januar 2025, Campus PH Zürich

LITERATUR
Bernhardsson-Laros, N. (2024): Spannungen zwischen Theorie und Praxis in der Erwachsenen- und Weiterbildung. Relationierungen im Rahmen einen habitualisierten ethischen Reflexivität

Zu den Autoren

Nils Bernhardsson-Laros ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Schulentwicklung an der PH Zürich.  

Effiziente Beurteilung: Wertvoll für Dozierende und Studierende

Text: Tobias Zimmermann

Die Nervosität der Studierenden grenzte an Panik. Dem Professor war das nicht recht, denn mit seinem Hinweis, wie schwierig die Schlussprüfung zu seiner Vorlesung ausfallen werde, hatte er sie motivieren wollen – nicht verunsichern. So überlegte er sich, wie er sie wieder etwas beruhigen könnte und bot ihnen für die Prüfung eine Art Joker an. Dieser funktionierte ähnlich wie der Telefonjoker bei «Wer wird Millionär»: Bei der Multiple-Choice-Frage, bei der sie am unsichersten über die richtige Antwort waren, konnten die Studierenden den Namen einer Kommilitonin notieren. Wenn diese in ihrer Prüfung die richtige Antwort gab, kriegten die Joker-Verwender die Antwort ebenfalls als richtig bewertet.

Kleine Massnahme, grosse Wirkung

Bei der Auswertung der Prüfung stellte der Professor zu seiner Überraschung fest, dass der Durchschnitt der Prüfungsresultate gegenüber den Vorjahren markant angestiegen war. Und es lag nicht am Effekt des Jokers, der ja das Resultat um maximal eine richtige Antwort pro Studentin steigern konnte. Vielmehr ging die Leistungssteigerung weit darüber hinaus und zeigte sich auch in den Folgejahren.

Beim Professor handelte es sich um den bekannten Psychologen und Sachbuchautor Adam Grant, der nun natürlich wissen wollte, weshalb diese kleine Massnahme eine so grosse Wirkung hatte (die obige Episode schildert er in seinem lesenswerten Buch «Hidden Potential» ). Dabei fand er heraus: Um den Joker optimal zu nutzen, mussten die Studierenden wissen, wo die Stärken ihrer Kolleginnen und Kollegen liegen. Um das herauszufinden, begannen sie, vermehrt gemeinsam zu studieren, statt allein zu pauken. Nur so konnten sie sich das kollektive Wissen der Gruppe zunutze machen. Dadurch kamen zwei Effekte zum Tragen, welche das Lernen der Studierenden intensivierten und vertieften:

  • Intensivierung: Die Studierenden verbrachten mehr Zeit mit den zu lernenden Inhalten, weil sie neben dem «normalen» Lernen auch noch herausfinden mussten, wer sich womit besonders gut auskennt. Dies erhöhte die Time on Task, die ein zentraler Einflussfaktor für den Lernerfolg ist.
  • Vertiefung: Mindestens ein Teil der Leistungssteigerung dürfte auch dadurch entstanden sein, dass die Studierenden einander beim gemeinsamen Lernen wesentliche Aspekte gegenseitig erklärt haben. So kam der Teaching-Effekt zum Tragen: Jemandem etwas zu erklären, ist zugleich eine der wirksamsten Lernhandlungen. Als Lehrende kennen wir das aus eigener Erfahrung: Man lernt selten mehr über ein Thema, als wenn man dazu unterrichten muss.

Das Erlebnis von Adam Grant zeigt, wie Massnahmen im Umgang mit Leistungsbeurteilung, die Lehrenden nur wenig Aufwand bereiten, grosse Effekte erzielen können. Sie ist für mich symbolisch dafür, dass wir im Umgang mit Beurteilungssituationen durch umsichtiges Vorgehen ohne nennenswerten Mehraufwand mehr Lernen bewirken können – in Grants Fall durch Anreize für zusätzliches Peer Learning.

Teaching-Effekt: Sich gegenseitig Dinge zu erklären, ist besonders lernwirksam.

In diesem Zusammenhang möchte ich nachfolgend zwei Massnahmen exemplarisch herausgreifen: Das Formulieren von Feedback auf möglichst motivierende Weise und das Verwenden von mehrphasigen Leistungsnachweisen. Die beiden Massnahmen hängen insofern zusammen, als sie beide dazu beitragen, dass erteiltes Feedback tatsächlich für weiteres Lernen genutzt wird.

Motivierendes Feedback: Die Wirkung von Rückmeldungen optimieren

Oft investieren Lehrende viel in das Geben von (häufig schriftlichem) Feedback, während es ungewiss bleibt, ob die Studierenden dieses tatsächlich für ihr weiteres Lernen berücksichtigen. Das ist für die Lehrenden nicht effizient. Eine aufwandsneutrale Massnahme, um die Wirkung von Feedback zu erhöhen, besteht in der motivationsförderlichen Gestaltung. Das gilt übrigens auch für Peer Feedback oder Rückmeldungen im Arbeitskontext. Dafür sind drei Elemente zentral:

  1. Hohe Erwartungen haben und sie auch kommunizieren: Die Erwartungen der Lehrenden haben einen erheblichen Einfluss auf die Leistung der Studierenden. Der sogenannte Pygmalion-Effekt (berühmteste Studie: Rosenthal und Jacobson 1968) besagt, dass Studierende desto bessere Leistungen erbringen, je mehr Lehrende ihnen zutrauen. Um den Lernfortschritt zu maximieren, ist es daher entscheidend, dass Feedback hohe Erwartungen kommuniziert – inhaltlich fokussiert auf jeweils zwei bis drei zentrale Aspekte.  Wichtig ist, dass diese Erwartungen mit der Zuversicht verbunden sind, dass die Studierenden sie erfüllen können.
  2. Entwicklungsorientierung: Feedback sollte so gestaltet sein, dass es den Studierenden hilft, ihre eigenen Lernprozesse als etwas zu verstehen, das sie steuern können. Dabei geht es um die Förderung einer Wachstumsorientierung («Growth Mindset»), wie sie von Carol Dweck beschrieben wird. Lob für Anstrengung motiviert Studierende, sich kontinuierlich zu verbessern. (Lob für Talent, Begabung oder Intelligenz hingegen führt dazu, dass Studierende einfachere Aufgaben aussuchen, um ihre Begabung zu beweisen, und sich dadurch weniger weiterentwickeln.)
  3. Beziehungsebene stärken: Feedback ist am wirksamsten, wenn es in einem positiven, wertschätzenden Ton gegeben wird. Dies stärkt die Beziehungsebene zwischen Lehrenden und Studierenden und motiviert letztere, das Feedback konstruktiv zu nutzen. Humor und Freundlichkeit können hier ebenfalls eine Rolle spielen, um eine offene und unterstützende Lernatmosphäre zu schaffen.
Im Buch «Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten» finden sich zahlreiche Hinweise für die effiziente und lernwirksame Gestaltung von Leistungsnachweisen.

Eine wirkungsvolle Möglichkeit, diese drei Aspekte zu kombinieren, sind so genannte Rückmeldungsvideos. Mehr über das Gestalten und die Wirkung von Rückmeldungsvideos erfahren Sie im Buch «Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten»  (Kap. 8.5.3).

Screenshot eines Rückmeldungsvideos (Bild von Tobias Zimmermann)

Mehrphasige Leistungsnachweise: Mehr als Benotung

Ein weiterer effektiver Ansatz zur Verbesserung des Lernprozesses und zur Steigerung der Effizienz von Leistungsrückmeldungen ist der Einsatz von mehrphasigen Leistungsnachweisen. Hier kommen die oben beschriebenen Vorteile von motivationsförderlichen Rückmeldungen ebenfalls gut zur Geltung.

Mehrphasige Leistungsnachweise kombinieren formative und summative Beurteilungen (siehe Grafik). So folgt zuerst mindestens eine Phase, nach der ausschliesslich eine formative Leistungsrückmeldung erfolgt, also ein Feedback, das nur verbal Stärken und Schwächen der bisherigen Lernhandlungen oder des bisher erarbeiteten Lernprodukts rückmeldet. Wichtig ist, dass es auch Hinweise für das weitere Lernen gibt: Welche nächsten Schritte wären besonders wertvoll? Was sollte ggf. nochmals überarbeitet werden? Nach dieser formativen Rückmeldung arbeiten die Studierenden weiter und erhalten  entweder nochmals eine formative Rückmeldung oder eine abschliessende Bewertung (Prädikat oder Note).

Grafik: Mehrphasige Leistungsnachweise (Abbildung von Tobias Zimmermann)

Dieses Vorgehen hat zwei wesentliche Stärken:

  • Erhöhung der Lernwirksamkeit: Durch das kontinuierliche Feedback in den verschiedenen Phasen des Leistungsnachweises können Studierende ihre Lernprozesse besser steuern und reflektieren. Formative Beurteilungen geben ihnen die Möglichkeit, Feedback zu verarbeiten und anzuwenden, bevor eine abschliessende summative Bewertung erfolgt.
  • Fördern hochwertiger Endprodukte: Die Struktur mehrphasiger Leistungsnachweise ermutigt Studierende, qualitativ hochwertige Arbeiten abzuliefern. Da sie wissen, dass eine abschliessende summative Beurteilung erfolgt, nehmen sie das formative Feedback ernster und nutzen es gezielt zur Verbesserung ihrer Leistungen.

Zu beachten ist das Risiko von Rollenkonflikten: Bei mehrphasigen Leistungsnachweisen ist es wichtig, zwischen der fördernden Rolle und der bewertenden Rolle zu unterscheiden. Lehrende sollten bei der abschliessenden Bewertung darauf achten, nicht nur zu bewerten, ob Studierende ihre vorangehenden formativen Rückmeldungen «brav» befolgt haben. Denn Studierende können auch unabhängig von erhaltenem Feedback lernen, und manchmal finden sie sogar bessere Wege, als sie ihnen in den Rückmeldungen vorgeschlagen wurden.

Wirksameres Lernen durch effiziente Beurteilung

Als Lehrende können wir mit einfachen Massnahmen sowohl die Effizienz von Beurteilungen steigern als auch die Lernmotivation und den Lernerfolg der Studierenden. Letzteres nützt nicht nur den Studierenden, sondern reduziert indirekt auch das Auftreten von Komplikationen wie hohen Durchfallquoten, Dropouts oder Protesten gegen unfaire Beurteilungen.

Die motivationsförderliche Gestaltung von Feedback und mehrphasige Leistungsnachweise sind nur zwei von vielen einfachen Massnahmen, mit denen wir Beurteilungsanlässe wirksamer gestalten können – für Lehrende und Lernende. Eine weitere Möglichkeit besteht z.B. in einer intensiven Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden über die Kriterien der Leistungsbeurteilung (siehe Blogbeitrag «Woran mache ich meine Beurteilung fest?»).

INFOBOX

Zahlreiche weitere Anregungen finden sich im folgenden Buch, das sowohl als gedrucktes Buch käuflich als auch kostenlos im Open Access heruntergeladen werden kann:

Zimmermann, Tobias (2024). Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten. Prüfen, Beurteilen und Rückmelden von Lernleistungen. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. ISBN 978-3-8474-3045-2

Angebote der PH Zürich

- Buchvernissage «Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten». Dienstag, 22. Oktober 2024, 16–17 Uhr, Schloss Au (im Anschluss an die Veranstaltung «Barcamp Assessment»)

- Barcamp Assessment, KI-basierte Ansätze für Beurteilung und Feedback (Kurztagung). Dienstag, 22. Oktober 2024, 8.30–15.30 Uhr, Schloss Au.

Zum Autor

Tobias Zimmermann ist Leiter des Zentrums für Hochschuldidaktik und -entwicklung (ZHE) an der PH Zürich.

Warum in die Ferne schweifen? Bildungsreisen früher – und heute

Text: Simone Heller-Andrist und Anne Bosche

Eine kleine Reise ist genug, um uns die Welt zu erneuern.

Marcel Proust
2019 organisierte die PH Zürich eine Studienreise nach Japan.

Neulich erzählte mir eine Kollegin von ihrer Reise nach Kuba: wie eindrücklich die Gastfreundschaft, wie widersprüchlich die Lebensarten, wie hindernd die Ideologie für den Alltag. Und: Ihre Familie habe die Reise mit Urlaub verwechselt: Da habe es viele Diskussionen gegeben. Reise und Urlaub: was unterscheidet die beiden Aktivitäten?

Man könnte darauf antworten, dass sie sich in ihren Zieldimensionen unterscheiden: Auf der Reise erfahren wir explorativ etwas Anderes, uns Neues. Sind neugierig auf die Vergleiche, wollen überrascht und herausgefordert sein, in den Austausch mit den Menschen und ihren Geschichten an anderen Orten kommen. Es geht um Einlassung in für uns neue Kontexte. Die Reise hat somit den transformativen Charakter, den Proust ihr zuschreibt.

Urlaub wiederum könnte zum Ziel haben, Distanz zum eigenen Kontext zu gewinnen. «Abzuschalten», sich «auszuklinken» – in dieser Entkoppelung in erster Linie Regeneration zu erfahren. Erholung, Genuss, Entspannung assoziieren wir mit dem Begriff.

Hierfür werden Heterotopien in der Ferne konzipiert. Mit Heterotopie bezeichnet Michel Foucault inszenierte Utopien an realen Orten, die alle gewohnten kulturellen Realitäten unserer eigenen Gesellschaft zugleich repräsentieren, infrage stellen und damit untergraben (Foucault 1986, S. 24). Zum Zweck, in der Distanz das Gewohnte nicht missen zu müssen, gibt es «Urlaubskolonien». Wir verbringen in der Ferne eine hürdefreie Zeit und suchen nicht die Herausforderungen, die uns oder unseren Blick auf die Welt verändern könnten. Gemäss Foucault birgt die Künstlichkeit der Heterotopie für aufmerksame Betrachter aber ebenfalls das Potenzial, das Gewohnte zu hinterfragen. So werden die Ziele Erkenntnisgewinn und Erholung oft vereint: In der Ferne suchen wir sowohl unbekannte Kulturgüter als den Genuss lokaler Kulinarik in einem langsameren Takt. Der transformative Charakter der Reise und das «in sich Ruhen» des Urlaubs werden kombiniert. Je geschützter der Rahmen allerdings, so würde man meinen, desto weniger Transformationspotenzial ist vorhanden. Um uns zu verändern, müssen wir uns aussetzen, wenn auch nur gedanklich. Ein Blick in die Geschichte des Reisens und des Urlaubs zeigt eine komplexe Verflechtung der zwei vermeintlich getrennten Prinzipien Erkenntnis und Vergnügen.

Religion, Ruhm und Ehre, Repräsentation und Exotik: Eine Geschichte der Bildungsreise

Die Kombination von Erkenntnissuche und Erholung (unter Seinesgleichen) ist das Produkt einer langen Kulturgeschichte des Reisens, allerdings oft nur privilegierten Mitgliedern – vorerst Männern – privilegierter Gesellschaften vorbehalten. Der Charakter der Bildungsreise ändert sich mit den Zeichen der Zeiten.

Aus der ritterlichen mittelalterlichen Reisetradition, die der religiösen Bildung, der Frömmigkeit durch Besuche von religiösen Stätten im «heiligen Land» bis in die Zeit des Humanismus dienten und Pilgerfahrt, Abenteuer und Erziehung kombinierten, entstand im 16. Jahrhundert die Reiseaktivität zur Erlangung von vera nobilitas – «wahrem Stand». Während die Reisen der Gelehrsamkeit (nobilitas erudita) in ritterlicher Tradition dienten, waren sie nun zusätzlich als soziale Erfahrung konzipiert. Es ging darum, die leblosen Relikte vergangener Zeiten mit den Berichten zeitgenössischer Gelehrten zu verbinden (Freller 2007, S. 10). Die Pilgerreise selbst wurde während der Entwicklung der neuen Bildungsreise als eigene Form weitergeführt.

Im 18. Jahrhundert, der Zeit des Ancien Régime, war die «Kavaliersreise» gleichzeitig Erziehungs- und Erfahrungsreise entlang gesetzter Zentren des Abendlands (Ausgangspunkt London, weisse Stadt Paris, ewige Stadt Rom, Kunst in Florenz, Rückreise über Deutschland, Handelshäfen in Amsterdam, etc.) und der Gesellschaft (europäische Herzogshöfe) als auch Portal zum Eintritt in die «berufliche Welt des Adels». Die jungen Adligen traten die mehrere Jahre dauernde Reise etwa im Alter von 20 Jahren an. Das Absolvieren der «Grand Tour» in Begleitung eines reiseerfahrenen Mentors machte einen jungen Aristokraten zum Mann von Welt, zu einem «honnête homme» (Freller 2007, S. 7). Für die Position als Mentor, der Erzieher, Reiseführer, Vaterfigur und Berater zugleich war, war oft ein Universitätsabschluss als Qualifikation Voraussetzung. Die Studienziele der Tour fokussierten auf Zivil- und Militärwissenschaften, davon insbesondere die «Kavaliersfächer» Rechtswissenschaften, Geschichte (inklusive Genealogie), Mathematik (v.a. auch Geometrie), Architektur (auch Festungswesen) und Geographie.

Bildungsreisen in der Schweiz um 1800

Aber auch im Bereich der Pädagogik waren Bildungsreisen durchaus üblich. Die Schweiz und insbesondere Zürich waren um 1800 ein Zentrum des europäischen Gelehrtennetzwerks (Grube 2017, S. 16). Es war in privilegierten Kreisen üblich, eine Bildungsreise anzutreten, um verschiedene Arten der Erziehung und Bildung kennenzulernen. Darüber hinaus blieb man über Briefkorrespondenzen in regem Austausch und debattierte über zentrale Themen der Aufklärung. Dabei galt nicht das Gebot der harmonischen Verständigung. Vielmehr erzählt die immense Schriftenproduktion von Konflikten – etwa den Zusammenhang von Schulbildung und gesellschaftlicher Sittlichkeit.

So reisten um 1800 etwa zahlreiche Pädagogen nach Yverdon. Dort hatte der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) ein Erziehungsinstitut, in dem er sein Erziehungskonzept erprobte, das bis heute unter der Kurzformel «Kopf, Herz und Hand» bekannt ist. Damit gemeint ist eine ganzheitliche Herausbildung von Einsicht, Liebe und Berufskraft. Nur auf diese Weise – so Pestalozzis Überzeugung – können Menschen Vollendung und Sittlichkeit erreichen.

Zu den Bildungsreisenden gehörten unter anderem auch Peter Friedrich Theodor Kawerau (1789-1844) und Johann Wilhelm Mathias Henning (1783-1868) zwei deutsche Pädagogen, die sich an Pestalozzis Institut weiterbilden liessen und so zur Verbreitung seiner innovativen Ideen beitrugen. Sie diskutierten in Briefwechseln rege über dessen Ideen und reflektierten neue Erkenntnisse in Tagebüchern. Diese Dokumente geben uns Einblick in die Gedankenwelt der Gelehrten um 1800 – in Positionierungen, Argumentationen und Konfliktlinien. Und sie lassen uns durch die Reiseberichte Anteil an ihrem Leben haben. Für das vorindustrielle Europa zeugen die Berichte von einer erstaunlichen Mobilität.

Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen
Kinderzeichnung aus der Schweiz, entstanden zwischen 1940 und 1980. Signatur: NLS_521_049
(Sinnbild für die Bildungsreise)

Bildungsreise, Urlaub und Pläsier

Mit der Verbesserung der einheimischen Universitäten, Akademien und Erziehungsinstituten wie dem oben vorgestellten Institut von Pestalozzi ging ein Wandel des Bildungsideals einher – und die Bildungsreisetätigkeit in der ausgedehnten und vorstrukturierten Form kam gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum Erliegen. Die Bildungsreise wandelte sich in eine stärker individualisierte Form des Reisens. Ab dem viktorianischen Zeitalter Englands, also im 19. bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts, begab sich die junge adlige Person zum geniesserischen Erleben in die Fremde. Vorbildfunktion hat der englische Adel mit bevorzugter Destination Italien, dem europäischen Ort der klassischen Antike. So rückt «Pläsier» in den Vordergrund: Das Bestaunen historischer Monumente, lokaler Folklore aber auch «Shopping» in Modemetropolen. Moderne touristische Elemente kommen ins Spiel.

Die Bildungsreise war in den vergangenen Jahrhunderten also Privileg der besonderen Art, vor allem zu Beginn nur für Männer «von Rang». Zahlreiche Merkmale der traditionellen Bildungsreise des 18. Jh. lassen sich aber auch in der heutigen Bildungsreise wiedererkennen. Das Format der «Auszeit» und des «Pläsiers», des Urlaubs, entwickelte sich aus den Traditionen des frühen 19. Jahrhunderts und wurde im Verlauf der Zeit auch weniger privilegierten Mitgliedern der Gesellschaft ermöglicht (ob gewerkschaftlich, gesundheitlich oder ökonomisch motiviert est disputandum).

Gesetzliche zwei Wochen Ferien pro Jahr gibt es für Schweizer:innen übrigens erst seit 1966, mindestens vier Wochen seit dem 1. Juli 1984. Die erste Ferienregelung der Schweiz stammt aus dem Jahr 1879 – Ferien für Beamte aus Gründen des Sauerstoffmangels. Arbeiter, die draussen arbeiteten, litten gemäss Argumentation nicht daran. Vorreiterin für individuelle Ferienregelungen für ihr akademisches Personal ist die ETH: Seit 1854 gibt es Regelungen für Erholung und individuelle Weiterbildung. Das Wort «Urlaub» selbst stammt aber von den Sitten des Adels ab: Den Hof eines Adligen konnte man nicht einfach so verlassen, man musste um «Urloup» (Erlaub) bitten, im Alt- oder Mittelhochdeutschen etwa gleichbedeutend mit «Erlaubnis», «Freistellung vom Dienst».

Reisen als transformativer Akt

Auch wenn auf der Reise die Reisenden die einzige Konstante sind, kommen sie als andere zurück. Jede Reise, ob Bildungsreise oder Urlaub, hat potenziell transformativen Charakter. Die bewusste Wahrnehmung eines Anderen, anderer Möglichkeiten im Umgang mit der Welt, der Bildung, des Alltags und der Vergleich des Vertrauten mit dem Neuen, ein Abwägen des Sinns im Anderen und das Potenzial, Sinnvolles zu übernehmen, machen die Transformation aus.

Reisen ist also ein reflektierter Perspektivenwechsel in Bewegung, die Reise der performative Akt der Neugier (vgl. auch Prahl und Steinecke, S. 135). Wir begeben uns aus bekannten in unbekannte Kontexte. So bekommen wir als reflektierte Menschen die Möglichkeit, uns selbst in neuen Kontexten zu erleben: Das Heideggersche «Ins Jetzt Geworfen-Sein» ergänzt sich ums «Ins Sich-Geworfen-Sein»: Wir sind gezwungen, unsere bestehenden Grenzen zu erfahren und wenn nötig zu verschieben. In diesen Verschiebungen, die der neue Kontext uns abverlangt, entsteht das Potenzial persönlicher Veränderung.

Auf gesellschaftlicher Ebene gleichen Reisen grossen Kalibrierungen: provisorische Integrationen in der Fremde basieren auf einer Oszillation zwischen Anpassung und Distanzierung. Wir befinden uns in konstanter Vergleichsarbeit – machen Unterschiede und Gemeinsamkeiten aus und bewerten sie. Mit jeder Bildungsreise tut sich die Möglichkeit eines solchen Selbst- und Vergleichsversuchs auf.

INFOBOX

Angebot der PH Zürich
Die nächste Möglichkeit potenzieller Transformation durch Bildungsreise ist die Studienreise nach Japan im September 2025. Die Reise ist bereits ausgebucht, es wird aber eine Warteliste geführt.

Für 2027 ist eine erneute Studienreise nach Japan geplant. Interessierte dürfen sich gerne bei Mònica Feixas melden: monica.feixas@phzh.ch.

Aufruf: Das Zentrum Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich möchte weitere Bildungsreisen durchführen. Wir nehmen gerne Anregungen wie Reiseziele, Themen für Bildungsreisen, etc. dazu entgegen (via Kommentarfunktion oder per Mail an Simone Heller-Andrist: simone.heller@phzh.ch).

Sammlung Pestalozzianum
In der Sammlung des Pestalozzianums sind zahlreiche Zeitzeugen zu finden:
- Pestalozzis Vermächtnis – Zeitreisen Pestalozzianum
- Von Cholera zu Corona – Zeitreisen Pestalozzianum
- Die Briefe und Tagebücher: Willkommen – Stiftung Pestalozzianum

Mögliche Bilder aus dem Pestalozzianum – darunter auch das oben integrierte
- Schulreise bspw.: Auf der Schulreise – Stiftung Pestalozzianum

Zu den Autorinnen

Simone Heller-Andrist arbeitet am ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich als Studiengangsleiterin, Dozentin und Beraterin. Sie leitet den CAS Hochschuldidaktik Winterstart sowie den CAS Berufsfeldbezug stärken.

Anne Bosche ist Prorektorin Ausbildung an der PH Schaffhausen. Bis Mitte 2024 war sie Geschäftsführerin der Stiftung Pestalozzianum und Projektleiterin «Sammlungen Pestalozzianum»  an der PH Zürich.

Teamlernen stärken

Text: Nina-Cathrin Strauss

In Expertenorganisationen wie Hochschulen und Schulen ist die fachliche Entwicklung der Einzelnen wichtig, um kompetent zu sein und die Anforderungen der jeweiligen Aufgaben zu erfüllen. Zugleich ist das Miteinander ein wichtiges Fundament, um – wenn notwendig – zusammenzuarbeiten. Solche kooperativen Settings in Teams sind in (Hoch-)Schulen eher Regel, statt Ausnahme, wenn man die Strukturen betrachtet. Doch WIE sich die Bearbeitung von Aufgaben in Teams gestaltet und inwiefern hier individuelle Kompetenzen auch als Ressourcen für die Kolleg:innen und das Team genutzt werden oder wie gemeinsam Kompetenzen entwickelt werden, ist eine andere Frage. Nachfolgend werden zwei Faktoren aufgegriffen, die sich als wesentlich für das Teamlernen zeigen: die Aufgaben und die psychologische Sicherheit in (Hochschul)teams.

Aufgaben als Ausgangspunkt

Gemeinsame Aufgaben sind Gelegenheit für Teamlernen. Dabei ist entscheidend, inwiefern Aufgaben die Kompetenzen von verschiedenen Mitgliedern brauchen.

Wenn eine Aufgabe so angelegt ist, dass die Ziele von Teammitglied A und die Ziele von Teammitglied B beide besser erreicht sind, wenn sie kooperieren, dann spricht man von positiv interdependenten Aufgaben im Sinne eines «Better Together». Das Gegenteil wäre negative Interdependenz, also Konkurrenz in Hinblick auf die Ziele der Teammitglieder, die mit der Aufgabe verbunden sind. Ausserdem gibt es den Fall, dass beide Teammitglieder ihre Ziele unabhängig voneinander erreichen im Rahmen von Aufgaben ohne Interdependenz. Teamlernen braucht hingegen Aufgaben, die komplex genug sind und das Teilen von Wissen und Erfahrungen und die kokonstruktive Zusammenarbeit ermöglichen und einfordern (Hertel u. Hüffmeier 2019).

Teamlernen: «Better Together»

Aufgaben in Hochschulen – autonom oder miteinander?

Wenn in der Aus- und Weiterbildung Kurse und Module autonom von Fachpersonen vorbereitet und durchgeführt werden, müssen sich Gelegenheiten für das Lernen miteinander erst ergeben oder gesucht werden, wie folgendes Beispiel zeigt:

«Wir betreuen zusammen Masterarbeiten. Sie [forschungsmethodisch] eher Quali, ich Quanti [ausgerichtet]. Gut! Lernen wir voneinander, wir machen ein Projekt. Und ich finde, das ist so das Schöne und Wichtige. Wenn wir eine gemeinsame geteilte Aufgabe haben und ein Ziel und dann beide über eine gewisse Motivation verfügen, dann passiert das wie von / nicht von selbst, sondern das ist im Auftrag eigentlich wie gratis als Abfallprodukt dabei (lachen).»

Ausschnitt Gruppeninterview mit Hochschulmitarbeitenden

Doch auch die Aufgabe «Modulleitung» kann so angelegt sein, dass unterschiedliche Expertise gebraucht wird, um das Ziel gemeinsam im Sinne eines «Better Together!» zu erreichen.

Bei der Verteilung von Aufgaben liegen in der Waagschale jedoch oft die Effizienz mit Blick auf Anforderungen und Ressourcen einerseits gegenüber der Entwicklung einzelner und dem Lernen als Team andererseits – bzw. das Erledigen einer Aufgabe gegenüber der Kompetenzentwicklung, um Aufgaben auch in Zukunft erfolgreicher zu bewältigen.

  • Wann erleben Sie in ihrem Arbeitsalltag ein «Better Together»?
  • Welche Aufgaben müssen effizient erledigt werden, welche ermöglichen das Lernen im Team?
  • Wie können Sie als Führungsperson oder Teammitglied «echte» Gelegenheiten im Sinne positiv interdependenter Aufgaben für Teamlernen schaffen?

Psychologische Sicherheit als Schlüsselfaktor

Es sind nicht nur die Gelegenheiten für Teamlernen, sondern auch die Rahmenbedingungen, die eine Rolle spielen. Hier ist ein essenzielles Fundament die psychologische Sicherheit. Es ist ein Gefühl des Vertrauens innerhalb des Teams und eine positive Fehlerkultur, in der Teammitglieder sich offen äußern können, Risiken eingehen, Fragen stellen, um Unterstützung bitten und Fehler zugeben, ohne negative Konsequenzen wie Bestrafung oder Demütigung zu befürchten, wie Expertin Amy C. Edmonson hier erläutert. Auch in unseren Befragungen zeigt sich, wie wichtig psychologische Sicherheit für teambasiertes Lernen ist:

«Also am meisten lerne ich von Fehlern. Und ich erzähle auch immer sehr gerne in meinem Team und auch anderen alle Fehler, die ich gemacht habe. Weil ich denke, das ist immer so eine gute Gelegenheit für andere, nicht den gleichen Weg zu gehen, sondern mal vielleicht was anderes auszuprobieren. Und ja, also ich denke, diese Freiheit im Team dann auch die Sachen zu erzählen, wo es nicht geklappt hat, oder? Wenn ich, weiß nicht, versuche vielleicht mich an ein neues Thema anzunähern und ich finde keinen Zugang. Oder, ob ich bei einer Auswertung einen Fehler gemacht habe. […] Und auch wenn ich das Problem trotzdem vorher gelöst habe, erzähle ich das in meinem Team, denn andere könnten genau den gleichen Fehler auch machen.»

Ausschnitt Gruppeninterview mit Hochschulmitarbeitenden

Es geht also weniger um die oft gewünschte und geforderte Wertschätzung, um die Harmonie zu stärken. Psychologische Sicherheit meint eine Arbeitsumgebung, in der Teams durch das Thematisieren von Fehlern oder Scheitern innovativer, kreativer und nachweislich effektiver werden (Edmondson 2021).

Psychologische Sicherheit entwickeln

So eine Teamkultur entsteht nicht von jetzt auf gleich, sondern muss wachsen. Es gibt verschiedene Übungen und Impulse für die Weiterentwicklung psychologischer Sicherheit, wie z.B. in dieser Handreichung von Kolleg:innen der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften und der Berner Fachhochschule.

Die Rolle von Führungspersonen ist wichtig für Teamlernen.

Führungspersonen wie Teamleitungen oder Vorgesetzte sind eine wichtige Ressource, wie Prof. Dr. Mieke Koeslag hier auch in einem Webinar der PH Zürich erläutert hat.

Sie können Anreize schaffen für Teamlernen, in dem sie Aufgaben schaffen und Aufträge vergeben, die Teamlernen ermöglichen. Edmondson (2021) unterscheidet drei Bereiche:

  • Führungspersonen schaffen Voraussetzungen für eine offene Diskussion über Fehler:
    Zum Beispiel zeigen sie dem Team auf, dass Fehler nicht auf Inkompetenzen einzelner zurückzuführen sind, sondern in der Komplexität des Systems liegen.
  • Führungspersonen laden ein zur Teilnahme:
    Zum Beispiel fragen sie aktiv nach und zeigen Neugier und Interesse, ohne die Schuldfrage in den Fokus zu rücken: «Ist diese Woche alles so abgelaufen, wie ihr es euch für eure Studierenden – Schüler:innen, Weiterbildungsteilnehmenden, Kund:innen – gewünscht habt?». Dies ist eine Einladung, um über Ziele nachzudenken und auszutauschen.
  • Führungspersonen reagieren produktiv:
    Zum Beispiel antworten sie respektvoll und wertschätzend denen, die Fehler oder ihr Scheitern teilen, und eröffnen weitere Wege, um Lösungen zu suchen.

Wenngleich Amy C. Edmondson hier Leitungspersonen anspricht, wird doch deutlich, dass psychologische Sicherheit auch stark durch die Mitwirkung der Teammitglieder geprägt ist und die Entwicklung so einer Teamkultur eine gemeinsame Verantwortung ist.

  • Wie sicher fühlen sie sich als Teammitglied, Erfahrungen mit Fehlern oder Grenzen aus ihrem Arbeitsalltag mit dem Team zu teilen? Was denken Sie, wie geht es ihren Kolleg:innen damit?
  • Wie reagieren Sie auf Erfahrungsberichte von anderen, die von Scheitern handeln?
  • Wie sicher sind sie in ihrem Team, Risiken einzugehen?
  • Was müsste passieren, dass sie und ihre Teammitglieder sich sicherer fühlen? Was können Sie und andere in ihrem Team dazu beitragen?
INFOBOX

Projekt «Teams als Lernorte» der PH Zürich
Im Projekt «Teams als Lernorte» geht ein Team der PH Zürich in Kooperation mit Kolleg:innen der Hochschule Luzern und der Fachhochschule Nordwestschweiz dem Phänomen Teamlernen in Hochschulteams nach. Verschiedene Daten werden genutzt, um mehr darüber zu erfahren, wie Teammitglieder voneinander und miteinander lernen. Daraus werden Massnahmen für den Hochschulkontext abgeleitet.

Podcast
Zuletzt erschienen ist die Folge «Schul- und Hochschulteams als Lernorte» der Podcast-Reihe «Resonanzraum Bildung».

In Erarbeitung ist zudem eine Handreichung zur Entwicklung von Teamlernen.

Zur Autorin

Nina-Cathrin Strauss ist Mitarbeiterin im Projekt «Teams als Lernorte» und Dozentin im Zentrum Management und Leadership der PH Zürich. Sie befasst sich mit Führung in Bildungsorganisationen und der Professionalisierung von Führungspersonen und ist u.a. Studiengangsleiterin im DAS Schulleitung und Themenverantwortliche für Teacher Leadership.

Wer ist meine Zielgruppe?

Text: Stefanie Dernbach-Stolz

Zielgruppenorientierung: ein (zu hinterfragendes) Konzept für die Programm- und Angebotsplanung in der Weiterbildung

Schreibt ein Weiterbildungsanbieter einen Kurs mit dem Titel «Pilates in der Schwangerschaft» aus, dann ist klar eingegrenzt, an welche Zielgruppe das Angebot adressiert ist. Bei «Deutsch für Migrant:innen» oder «Make-up/Schminken für die reife Frau» ist weit weniger klar, an welche potentiellen Teilnehmenden sich die Angebote richten. Sogleich stellen sich Fragen: Ab wann ist man eine reife Frau? Oder: An welche Migrant:innen richtet sich der Kurs genau? Reichen doch Migrationserfahrungen von Flucht bis hin zu wohlsituierten Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Karriere migrieren. Dennoch wird wie selbstverständlich von Bildungsarbeit mit Älteren, Migrantinnen, Studierenden, etc. gesprochen (Bremer 2010), obwohl eine differenzierte Perspektive auf die Zielgruppen notwendig wäre.

Was bedeutet Zielgruppenorientierung?

Doch was genau versteht man unter Zielgruppenorientierung und wie grenzt sich diese von den ebenfalls häufig verwendeten Begriffen der Teilnehmenden- oder Adressatenorientierung ab? Ein Blick in die Literatur zeigt, dass sowohl in der Theorie als auch in der Praxis die Begriffe unterschiedlich definiert und teils synonym verwendet werden (v. Hippel 2019). Ein praktikables Verständnis unterscheidet wie folgt zwischen den Begrifflichkeiten:

  • Adressatinnen und Adressaten sind die Personen, die generell durch Erwachsenenbildung erreicht werden sollen.
  • Unter der Zielgruppe versteht man die Adressat:innen, die sich durch gleiche soziodemographische bzw. -strukturelle Merkmale (bspw. Alter, Lebensphase oder berufliche Situation) zusammenfassen lassen.
  • Die Teilnehmenden sind die Personen, die eine Weiterbildung besuchen.
    (Faulstich & Zeuner 1999, v. Hippel 2019)

Das Konzept der Zielgruppenorientierung ist nicht neu, denn bereits seit den 1960er Jahren wurde sich sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis der Erwachsenenbildung verstärkt damit auseinandergesetzt. Bis heute bildet es ein essenzielles Element der Programm- und Angebotsplanung. Die Idee dahinter ist, dass durch die Bildung von Gruppen, wie Ältere, Frauen, Arbeitslose, Migrant: innen, Arbeiter:innen, Eltern, etc. den Bildungsbedürfnissen der Weiterbildungsteilnehmenden besser entsprochen werden kann. Den nach soziodemographischen und soziostrukturellen Merkmalen gebildeten Zielgruppen werden aufgrund ihrer Lebenssituation bestimmte Bedürfnisse und auch Benachteiligungen zugeschrieben, aus denen ein spezifischer Bildungsbedarf definiert wird (Bremer 2010). Die Bildung von Zielgruppen ermöglicht es Weiterbildungsanbietern möglichst passgenaue und bedarfsorientierte Bildungsangebote zu planen.

Quelle: Flickr

Wie die oben aufgeführten Beispiele von Kurstiteln bereits verdeutlichen, können Zielgruppenzuschreibungen den potenziellen Teilnehmenden bzw. deren Bildungsbedürfnissen nur zum Teil gerecht werden. Auch darum, weil diese Zuschreibungen auf äusseren Merkmalen beruhen, von denen nicht auf die innere Haltung und Bildungsaffinitäten der Individuen geschlossen werden kann (Bremer 2010). Dementsprechend können Weiterbildungsanbieter nicht von einer fest definierten Zielgruppe ausgehen, zumal sich die Lebensverhältnisse und auch Bildungsbedürfnisse immer weiter ausdifferenzieren und individualisieren. So lässt sich die Zielgruppe «Ältere» nur schon oberflächlich betrachtet bspw. in Senior:innen mit/ohne Hochschulabschluss oder mit/ohne körperliche Beeinträchtigungen unterteilen, womit unterschiedliche Weiterbildungsbedürfnisse einhergehen.

Milieuorientierte Planung von Weiterbildungsangeboten

Eine differenziertere Betrachtung der Zielgruppen ermöglicht der Ansatz der sozialen Milieus, der weniger sozialdemografische Faktoren berücksichtigt, sondern auf das Alltagshandeln und -einstellungen der Individuen fokussiert. Unter Milieus werden Gruppen von Menschen in vergleichbarer sozialer Lage, Lebensführung und Alltagspraxen verstanden. Sie teilen ähnliche Wertehaltungen, Vorlieben und Einstellungen zur Gesellschaft, Arbeit, etc. (Barth et al. 2018).

Die verschiedenen Milieus, Bremer (2021) unterscheidet bspw. nach oberen, respektablen und unterprivilegierten Milieus, haben mit Blick auf die Teilnahme an Weiterbildung unterschiedliche Motivationen, Bildungspraxen und Zugänge zu Bildung, wie die folgende Tabelle in vereinfachter Form aufzeigt:

Grundmuster der BildungsmotivationBildungspraxis und Zugang zu Bildung
Obere MilieusSelbstverwirklichung und IdentitätSelbstsicher und aktiv suchend
Respektable MilieusNützlichkeit und AnerkennungPragmatische Horizonterweiterung
Teilnahme über soziale Netzwerke
Unterprivilegierte MilieusNotwendigkeit und MithaltenBildung als Bürde Unsicherheit «aufsuchende Bildungsarbeit»
(Quelle: Bremer 2021, verkürzte Darstellung)

Die Motivation zur Teilnahme an, die Erwartungen an und die Zugänge zu Weiterbildung unterscheiden sich je nach Milieuzugehörigkeit. So ergänzt der Ansatz der sozialen Milieus das Konzept der Zielgruppenorientierung durch eine wertvolle Perspektive. Innerhalb einer Zielgruppe wie bspw. den Migrant:innen erfordert es auf das jeweilige Milieu bezogene spezifische Strategien der Ausgestaltung, Ansprache und Bewerbung, die bei der Planung eines Angebotes mit berücksichtigt werden müssen. Möchte man bspw. einen Sprach- oder Bewerbungskurs für eher bildungsungewohnte Migrant:innen anbieten, braucht es einen sehr niederschwelligen Zugang, um die Teilnahme an Weiterbildung zu ermöglichen. Konzepte wie Lernstuben oder die «aufsuchende Bildungsarbeit» bieten eine solche Möglichkeit.

INFOBOX

CAS Weiterbildungsdesign
Die Planung von Weiterbildungsangeboten wird immer anspruchsvoller. Die Ansprüche der Zielgruppen wandeln sich und die Bildungsbedürfnisse der Teilnehmenden werden immer heterogener. Die damit verbundenen, veränderten Lehr- und Lernkonzepte fordern eine diversifiziertere Programm- und Angebotsplanung.
Der CAS Weiterbildungsdesign befähigt Sie dazu, als Fachspezialist:in für Weiterbildungsdesign zeitgemässe und wirksame Bildungsprogramme in der Weiterbildung zu konzipieren. Behandelt werden sowohl grundlegende Anforderungen als auch innovative Tendenzen in der Programmplanung und Konzeptentwicklung. Ein eigenes, von Expert:innen begleitetes Bildungsprojekt ermöglicht es Ihnen zudem, neue Entwicklungen in Ihrem Kontext zu erproben und umzusetzen.
Der Lehrgang startet am 25. September 2024, gerne dürfen Sie sich bis 25. August anmelden. Hier geht es zur Anmeldung.

Infoveranstaltungen zum CAS Weiterbildungsdesign
- Dienstag, 16. Juli 2024, 17–18 Uhr, online
- Mittwoch, 21. August 2024, 17–18 Uhr, online

Einzeln buchbare Module
Oder interessieren Sie sich für spezifische Fragen zur Planung von Weiterbildungsangeboten? Die folgenden Module aus dem CAS Weiterbildungsdesign sind auch einzeln buchbar, vielleicht sind sie von Interesse für Sie:

- Weiterbildungsbeteiligung und Lernen Erwachsener – Förderliche Bedingungen und Barrieren: 23.10.–5.12.2024
- Angebotsentwicklung – Didaktische Gestaltung von Bildungsangeboten: 13.1.–14.3.2025

Zur Autorin

Stefanie Dernbach-Stolz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Sie ist Co-Leiterin des CAS Weiterbildungsdesign.

Potential offener Formate  – Learnings vom Barcamp Curriculumentwicklung

Text: Tetiana Kaufmann, Monika Schlatter, Franziska Zellweger

Herausforderung Curriculumentwicklung

Teilnehmende des Barcamp Curriculumentwicklung.
Teilnehmende des Barcamp Curriculumentwicklung. Foto: Giuseppa Kälin

Der Wechsel zu Kompetenzorientierung, Modularisierung und Bachelor-Masterabstufung führte in den letzten Jahren zu zahlreichen Reformen von Studienprogrammen. Die Implikationen der Digitalisierung, nicht zuletzt die rasante Entwicklung generativer KI auf Bildungsziele, Lern- und Prüfungsformate sowie die zunehmende Heterogenität der Studierenden treiben diese Entwicklungen weiter voran.

(Weiter-) Entwicklungen von Studienprogrammen sind daher anspruchsvoll. Es gibt zahlreiche Bedürfnisse und Ideen vieler Beteiligter, die begrenzten Ressourcen und spezifischen Rahmenbedingungen gegenüberstehen. Fragen, die sich im Zusammenhang mit einer Curriculumentwicklung stellen, sind daher komplex, und entsprechend herausfordernd ist die Gestaltung von Entwicklungsprozessen.

Mit dem Barcamp Curriculumentwicklung wollten wir einen Beitrag dazu leisten, Personen im tertiären Bildungsbereich ihre Erfahrungen, Herausforderungen und Erfolge bei der Curriculumentwicklung teilen zu lassen. Ebenso sollte so der Austausch innovativer Ideen und Konzepte gefördert und einen Anstoss für Lösungen gegeben werden. Anfang November 2023 sind in diesem Zusammenhang über 60 Personen aus Fach- und Pädagogischen Hochschulen wie auch Höheren Fachschulen auf Schloss Au zusammengekommen. Während einige Anliegen aus bereits laufende Studiengänge mitbrachten, standen andere noch am Anfang des Prozesses und liessen sich für die bevorstehenden Aufgaben inspirieren.

Ein Barcamp ist eine offene und partizipative Veranstaltung, an der von den Veranstaltern zu Beginn nur Zeitfenster und Räume festgelegt werden. In einem gemeinsamen Prozess mit den Teilnehmenden werden die Themen festgelegt. Im Zentrum der daraus entstehenden Sessions steht die Diskussion, wobei ein mitgebrachtes Fallbeispiel, Erfahrungen oder Fragen der Teilnehmenden als Initiator dienen. Mehr Infos zu Barcamps

Barcamp Curriculumentwicklung: Konkrete Einblicke und Learnings

Im Folgenden geben wir einen chronologischen Einblick in die konkrete Durchführung des Barcamps und legen dar, welche Erkenntnisse wir mit diesem offenen Weiterbildungsformat gewonnen haben.

 

1. Zeit in das Kennenlernen investieren

Um auch bei über 60 Teilnehmenden gleich eine erste Verbindung zwischen den Personen zu schaffen, haben wir die Veranstaltung mit einem mündlichen Soziogramm eröffnet. Die Moderatorin rief verschiedenste Fakten aus, und Personen, auf die diese zutrafen, hoben die Hand. So wurde rasch sichtbar, aus welcher Institution und welcher Landesregion die Teilnehmenden stammten und es wurde Transparenz über die Rollen oder Funktionen geschaffen. Unterstützt wurde die Kontaktaufnahme auch mit einer ausführlichen Teilnehmendenliste. Dieses Kennenlernen wurde sehr positiv wahrgenommen. Genügend Zeit dafür einzuplanen, lohnt sich. Eine Alternative zum mündlichen Soziogramm könnte auch ein Speeddating sein.

Mündliches Soziogramm in Aktion.
Mündliches Soziogramm in Aktion. Foto: Giuseppa Kälin

 

2. Themenstrukturierung schon vor dem Anlass

Die gemeinsame Programmplanung und das Identifizieren gemeinsamer Fragen ist ein wichtiger Schritt eines Barcamps. Dabei ist es eine Herausforderung, nicht zu viel Zeit mit der Planung des Tages zu verbringen, sondern genügend Raum für Vernetzung und Austausch zu schaffen.

Die Teilnehmenden waren daher aufgefordert, schon vor dem Barcamp mögliche Fragestellungen einzugeben. Aus diesen haben wir vier Hauptthemen identifiziert und durch Leitfragen präzisiert, welche auf der digitalen Pinnwand Taskcards veröffentlicht und den Teilnehmenden vorgängig zur Verfügung gestellt wurden. Diese Vorstrukturierung der Themen erlaubte es, die Interessen der Teilnehmenden transparent zu machen und gleichzeitig einen effizienten Programmfindungsprozess entlang der vorstrukturierten Themen zu gestalten.

Vier Themen mit Leitfragen
1. Prozessgestaltung • Wie kann man ein Curriculum trotz knapper werdenden (finanziellen) Ressourcen weiterentwickeln? • Wie geht man mit Widerständen und starren Verwaltungsprozessen um? • Welche Rolle spielt Partizipation in der Curriculumsentwicklung und wie kann sie effektiv koordiniert werden?
2. Individualisierung in der Hochschulbildung • Was sind Best Practices und neue Tendenzen in der Begleitung von Studierenden (auch in grossen Studiengängen)? • Wie können Hochschulen bei begrenzten Ressourcen den wachsenden Anforderungen an Individualisierung begegnen? • Wie kann man individuelle Bedürfnisse berücksichtigen und gleichzeitig Kohärenz gewährleisten?
3. Future Skills und Entwicklung zukunftsfähiger Curricula • Welche Trends müssen jetzt in der Curriculumsentwicklung vorrangig begegnet werden? • Welche curricularen Strukturen bzw. Studienmodelle ermöglichen die Entwicklung nachhaltiger, kompetenzorientierter Curricula, die unserer schnelllebigen Zeit gerecht sind? • Wie kann man KI-Tools sinnvoll einsetzen und gleichzeitig das Deep-Learning unterstützen (z.B. im Sprachunterricht)?
4. Kompetenzorientierte Leistungsnachweise • Welche innovative Beurteilungsformate und Zusammenarbeitsformen (z.B. Stud.-Dozis) fördern eine kompetenzorientierte Lehre? • Wie kann man bei begrenzten Ressourcen individuelles Feedback geben und optimal Peer Assessment einwenden? • Was sind Best Practices in der Messung und Anrechnung bereits erbrachter Leistungen/Erfahrungen?

 

3. Klar gestaltete Sessionplanung

Dafür teilten sich die Teilnehmenden in vier Gruppen zu je einem Thema ein und arbeiteten an einer vorbereiteten Pinwand. Wer eine Fragestellung eingegeben hatte oder neu mitbrachte, stellte diese innerhalb einer Minute vor (Pitch). Ähnliche Fragestellungen wurden dann zusammengeführt, so dass im Ergebnis jede Gruppe je drei Sessions (Zeit- und Raumfenster) definierte.

Strukturierung der Sessionplanung
Strukturierung der Sessionplanung

Wieder im Plenum, wurde der gesamte Plan aller vier Gruppen vorgestellt. Danach waren die Teilnehmenden frei darin zu entscheiden, in welchen der vielen Sessions sie beitragen möchten. Die Vielfalt an spannenden Fragen bedeutet auch eine gewisse Qual der Wahl: Mehrere Durchführungen von Sessions könnten sich lohnen.

 

4. Ideale räumliche Rahmenbedingungen

Wenn viele engagierte Personen gemeinsam diskutieren und die finalen Themen festlegen, entsteht eine nicht zu unterschätzende Geräuschkulisse, und auch ein vermeintlich grosser Raum wird plötzlich zu klein. Es ist zwar ein Vorteil, wenn die ganze Gruppe für die Festlegung des Programms in demselben Raum arbeiten kann, da die Moderation den Gesamtprozess gut im Blick hat. Auch die Teilnehmenden können so wahrnehmen, wie die anderen Gruppen arbeiten. Je nach räumlichen Gegebenheiten kann es dennoch sinnvoll sein, an unterschiedlichen Orten zu diskutieren, da ein konzentriertes Gespräch von einem ruhigen Rahmen profitiert. Darüber hinaus zeigte sich das Schloss Au auch bei regnerischem Wetter als idealer Ort für ein solches Format. Das gastfreundliche Schlossambiente mit inspirierendem Garten und vielen Gruppenräumen bot einen wohltuenden Kontrast zur üblichen Hektik. Die Teilnehmenden konnten voll in das Barcamp eintauchen und die Laptops blieben in der Tasche.

Teilnehmende des Barcamps bei der Themenauswahl.
Teilnehmende des Barcamps bei der Themenauswahl. Foto: Giuseppa Kälin

 

5. Rollenverteilung in den Sessionen vorab definieren

In den Sessions brauchten die neu formierten Gruppen jeweils eine Weile, bis sie sich gefunden hatten. Da die Zeit an einer solchen Veranstaltung knapp ist, würden wir zukünftig eine klare Rollenzuteilung mit vordefinierten Zuständigkeiten (Lead der Session, Moderation, Dokumentation, Zeitmanagement) vornehmen.

 

6. Ergebnisse sichtbar und greifbar machen

Um die Diskussionen und Erkenntnisse aus den Sessions für alle Teilnehmenden sicht- und greifbar zu machen, haben wir darum gebeten, die Ergebnisse der Sessions auf Taskcards zu dokumentieren.

Teilnehmende bei der Reflexionsrunde.
Teilnehmende bei der Reflexionsrunde. Foto: Giuseppa Kälin

In einer Schlussrunde im Umfang von 20 Minuten entlang der Methode 1-2-4-all von Liberating Structures haben in einem ersten Schritt alle Teilnehmenden persönliche thematische Erkenntnisse und noch offene Fragen in einer kurzen Einzelreflexion identifiziert. Im danach folgenden Austausch in Zweiergruppen wurden die Gedanken geteilt und weiterentwickelt, um anschliessend in Vierergruppen die Diskussion weiter zu vertiefen und Erkenntnisse sowie offenen Fragen zu notieren. Diese prägnanten Sätze und Stichworte wurden dann mit allen Teilnehmenden geteilt.

Fazit

Selten haben wir Weiterbildungstage in so disziplinierter und arbeitsamer Atmosphäre erlebt. Die Feedbacks der Teilnehmenden haben klar aufgezeigt, dass sie sehr viel aus dem offenen Format mitnehmen konnten. Die wertvollen Diskussionen auf Augenhöhe, Inspiration und Vernetzung standen dabei zuoberst. Diese Erfahrung hat uns gezeigt, dass bei anspruchsvollen Fragestellungen wie in der Curriculumsentwicklung offene Formate wie ein Barcamp der richtige Weg sind, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten und dabei gerade zu erleben, wie kraftvoll offene und partizipative Formate sein können.

Mehr Offenheit hat sich auch als zentrales Thema durch die Sessions gezogen. Viel Interesse weckten unter anderem Beispiele individuellerer Lehr-/Lernformaten und Prüfungsformen. Das Ziel dabei bleibt klar: Studierende auf die Lösung komplexer Fragestellungen vorzubereiten, denen sie zunehmend in ihrer Arbeits- und Lebenswelt begegnen werden.

INFOBOX

CAS Weiterbildungsdesign

Die Weiterbildung befindet sich in einer anspruchsvollen Entwicklungsphase. Es wandeln sich die Ansprüche der Zielgruppen, der Digitalisierungsschub wirkt nachhaltig und die Diversität der Teilnehmer:innen nimmt zu. Die damit verbundenen veränderten Lehr- und Lernkonzepte fordern eine diversifiziertere Programm- und Angebotsplanung. Dieser CAS befähigt Sie dazu, als Fachspezialist:in für Weiterbildungsdesign zeitgemässe und wirksame Bildungsprogramme in der Weiterbildung zu konzipieren.
Weitere Informationen zum CAS Weiterbildungsdesign


CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen

Fachleuten aus Fachhochschulen, Universitäten, Pädagogischen Hochschulen, Höheren Fachschulen und weiteren Bildungsinstitutionen ermöglicht dieser CAS massgeschneidert und laufbahnbezogen die Entwicklung rollenspezifischer Kompetenzen in den Bereichen Führung, Management und Planung. Essentielle Kernelemente sind Praxisorientierung und der Transfer in den eigenen Kontext.
Weitere Informationen zum CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen

Zu den Autorinnen

Woran mache ich meine Beurteilung fest? Transparenz in der Leistungsbeurteilung an Hochschulen

Text: Tobias Zimmermann

Wenn Sie den Begriff «Beurteilungskriterien» hören, denken Sie vermutlich zuerst an Prüfungen oder wissenschaftliche Arbeiten. Sie spielen aber auch sonst in der Hochschullehre eine wesentliche Rolle: Auch bei Übungsaufgaben geht es stets um die Frage, wie angemessen und/oder wie korrekt sie im Hinblick auf fachliche Ansprüche bearbeitet werden. Beurteilungskriterien werden in solch niederschwelligen Kontexten zwar nicht immer explizit thematisiert. Sie bilden aber implizit auch dort die Folie, auf deren Hintergrund die Bearbeitung der Aufgabe beurteilt wird.

Beurteilungskriterien als Chance zur Verständigung

Der Umgang mit Beurteilungskriterien wird von Dozierenden oft als notwendiges Übel empfunden. So können verschiedene Schwierigkeiten entstehen: Dozierende kommunizieren keine Beurteilungskriterien für eine anstehende Aufgabe oder Leistungsbeurteilung, oder sie investieren wenig Zeit dafür. Beides kann dazu führen, dass die offiziellen Beurteilungskriterien (sofern kommuniziert) oder die in der Modulbeschreibung aufgeführten Lernziele nur teilweise mit den tatsächlich angelegten (impliziten) Beurteilungskriterien übereinstimmen. Die resultierende Unberechenbarkeit von Dozierendenfeedback und/oder Leistungsbeurteilungen ist für Studierende unbefriedigend. Und für Dozierende mag es so aussehen, als würden die Studierenden zu wenig Lernaufwand betreiben.

Dabei bieten Beurteilungskriterien ein beträchtliches Potenzial für die fachliche Verständigung zwischen Dozierenden und Studierenden. Werden sie gemeinsam besprochen oder gar ausgearbeitet, reduzieren sich oben genannten Risiken. Bevor ich auf diese Chancen näher eingehe, möchte ich noch zwei wichtige Hinweise zur Gestaltung von Beurteilungskriterien geben. Sie helfen, das genannte Potenzial zu nutzen:

  • Wichtig ist, dass die Lernziele transparent gemacht werden, die den Beurteilungskriterien zugrunde liegen. Die Lernziele definieren, was die Studierenden am Ende können sollen, die Beurteilungskriterien sind bloss ein Mittel zum Erreichen dieses Ziels. Am besten sind die Lernziele auf dem Dokument mit den Beurteilungskriterien explizit aufgeführt. Im Minimum sollte das Dokument einen Verweis enthalten, wo die Lernziele zu finden sind (z.B. in der Modulbeschreibung).
  • Besonders empfehlenswert für das Formulieren von Beurteilungskriterien sind so genannte Beurteilungsraster, auf Englisch rubrics genannt. Unter dem Link finden Sie eine nähere Erläuterung dieses Instruments, das ich auch in meinem bald erscheinenden Buch zum Thema Leistungsbeurteilung (siehe Infobox am Ende) vorstellen werde.
Beurteilungsraster für einen argumentativen Text (ausgewählte Dimensionen aus Andrade 2000, S. 17, sinngem. Übers. tz) – aus Zimmermann (im Druck)

Die folgenden Verfahrensschritte führen dazu, dass die Studierenden die Beurteilungskriterien nicht nur kognitiv besser verstehen. Sie setzen sich auch verstärkt mit ihrem Sinn und Zweck auseinander, was ihre Akzeptanz der Kriterien erhöht und die Internalisierung von fachlichen Ansprüchen fördert.

Option 1: Kriterien gemeinsam besprechen

Bereits festgelegte Beurteilungskriterien mit den Studierenden eingehend zu besprechen, hat gegenüber einem reinen Bekanntgeben der Kriterien diverse Vorteile. Die dafür in der Lehrveranstaltung investierte Präsenzzeit lohnt sich nicht nur mit Blick auf das verbesserte Lernen der Studierenden. Sie führt auch zu einer langfristigen Zeitersparnis für uns Lehrende, indem die grössere Klarheit bezüglich der Beurteilungskriterien zu weniger Rückfragen der Studierenden im weiteren Lernprozess führt. Deshalb sollte für diesen Schritt mindestens eine halbe Stunde investiert werden.

Zur gemeinsamen Besprechung werden die Beurteilungskriterien auf Papier ausgeteilt oder online zur Verfügung gestellt. Die Studierenden erhalten Zeit, um sie durchzulesen. Anschliessend können sie im Plenum Verständnisfragen stellen. Es lohnt sich, ein bis zwei anregende oder gar provokative Fragen bereit zu haben, falls die Studierenden sich anfänglich nicht zu melden getrauen.

Beispiel: Beurteilungskriterien in einer Vorlesung besprechen

Hanna Felder, Professorin für Mikrobiologie, hält jährlich eine anspruchsvolle Grundlagenvorlesung. Deren Leistungsnachweis besteht in einer Posterkonferenz, wobei Poster und Konferenzteilnahme bewertet werden. Sie hat dafür ein Beurteilungsraster mit wesentlichen Anspruchsdimensionen hinsichtlich der fachlichen Kompetenzen und der Posterkonferenz erstellt. Sie teilt es jeweils in der letzten halben Stunde der dritten Vorlesungswoche aus. Die rund hundert Studierenden, die zu diesem Zeitpunkt schon in die Thematik der Vorlesung eingearbeitet sind, besprechen das Beurteilungsraster in Gruppen. Am Ende hält jede Gruppe eine bis zwei offene Fragen zum Raster fest. Diese tragen sie in einer dafür bereitstehenden Online-Umfrage auf der begleitenden Lernplattform ein. Frau Prof. Felder schaut sich die Fragen an, gruppiert sie, und beantwortet sie zu Beginn der folgenden Vorlesungsstunde. Wo nötig, stellt sie den Studierenden Rückfragen, um sich über den Hintergrund der Fragen zu verständigen. Gegen Semesterende können die Studierenden online nochmals Fragen zum Beurteilungsraster stellen, auf welche die Professorin in der letzten Vorlesung vor der Posterkonferenz eingeht.

Besprechen in Gruppen aktiviert die Studierenden

Das Beispiel zeigt eine wirksame Möglichkeit beim Besprechen von Beurteilungskriterien: Sie besteht darin, dass die Studierenden das Kriterienraster zuerst in Gruppen von ca. 4 Studierenden diskutieren. Sie können dabei ihre Fragen notieren, welche die Gruppensprecherinnen im Plenum stellen können (oder wie im Beispiel online, was sich bei grossen Studierendenzahlen lohnt). Viele Fragen können dadurch schon in Peer-Diskussionen geklärt werden, und es beteiligen sich auch Studierende an der Diskussion, die im Plenum zurückhaltend sind.

Die Fragen der Studierenden können verschiedene Aspekte betreffen, und manchmal kommen Unklarheiten des Kriterienrasters zum Vorschein. Diese Verständigung stellt eine wertvolle Lerngelegenheit für beide Seiten dar:

  • Studierende können dadurch Lücken oder Missverständnisse bezüglich der zu lernenden fachlichen Begriffe, Konzepte und Verfahrensweisen aufarbeiten. Dozierende können Lücken im Vorwissen der Studierenden erkennen und sich überlegen, wie sie darauf reagieren möchten.
  • Dozierende lernen besser zu verstehen, wo für die Studierenden entscheidende Hürden liegen. Dadurch können sie diese in ihrem künftigen Lehrhandeln lernwirksamer adressieren, etwa indem besonders schwierige Begriffe oder Konzepte vertiefter behandelt werden. Unter Umständen können auch Korrekturen in den Formulierungen der Beurteilungskriterien angezeigt sein, damit sich keine Schere zwischen expliziten und impliziten Ansprüchen öffnet.
Studierende besprechen die Beurteilungskriterien.

Option 2: Kriterien anhand von Beispielen anwenden

Als weitere Möglichkeit können wir den Studierenden Beispiele von früheren Bearbeitungen der vorliegenden Aufgabe zur Verfügung stellen und sie auffordern, die Beispiele anhand des Rasters zu beurteilen (Nicol 2010, S. 505f.; Sadler 1989). Diese Option kann gut kombiniert werden mit der oben genannten Diskussion der Beurteilungskriterien in Gruppen – die Gruppen versuchen dann, die Kriterien auf die Beispiele anzuwenden.

Bei den Beispielen früherer Aufgabenbearbeitungen kann es sich um (ggf. anonymisierte) Texte, Programmiercode, Tabellen, künstlerische Artefakte oder auch Aufzeichnungen von Vorträgen oder künstlerischen Aufführungen handeln (zu denen natürlich das Einverständnis der Aufgezeichneten eingeholt werden muss). Durch die Auseinandersetzung mit früheren Leistungen müssen die Studierenden einen Perspektivenwechsel von der Situation der beurteilten zu jener der beurteilenden Person vornehmen. Dies bedingt kognitive Umformungsprozesse, die das Verständnis der Kriterien begünstigen. Es empfiehlt sich für dieses Vorgehen in der Regel, ein gelungenes und ein nicht gelungenes Beispiel zur Verfügung zu stellen. Durch die Kontrastierung der Beispiele können die Studierenden besser herausarbeiten, woran sich das Erreichen von Lernzielen erkennen lässt bzw. welche Merkmale Anzeichen für deren Nichterfüllung sind. Auch bei diesem Vorgehen lohnt es sich, die Erfahrungen der Gruppen beim Anwenden der Kriterien auf die Beispiele sowie ihre offenen Fragen im Plenum zu besprechen.

Eine Alternative besteht darin, dass die Studierenden im Lauf des Semesters zu einer Aufgabe oder zu einem im Entstehen befindlichen Produkt ein Peer-Feedback geben. Im obigen Beispiel könnten sich z.B. Frau Felders Studierende basierend auf dem Beurteilungsraster gegenseitig Feedback zu ihren Postern geben.

Fazit: Lernwirksamkeit von Beurteilungskriterien nutzen, indem sie gemeinsam besprochen und angewendet werden

Indem wir Studierende direkter in den Prozess des Verstehens (Option 1) und Anwendens (Option 2) von Beurteilungskriterien einbeziehen, erhöhen wir ihre wahrgenommene Selbstbestimmung. Sie erleben sich dadurch sozial stärker in das Lehr- und Lernhandeln eingebunden, nehmen ihr Handeln als wirksamer wahr und erfahren mehr Autonomie in ihrem Lernprozess. Dies erhöht gemäss der Selbstbestimmungstheorie die intrinsische Motivation der Studierenden. Dadurch lernen sie stärker tiefenorientiert und somit nachhaltiger. Dieser Effekt kann noch erhöht werden, in dem die Studierenden nicht nur von den Dozierenden bereits festgelegte Kriterien interpretieren und anwenden, sondern die Kriterien ganz oder teilweise selbst entwickeln. Mögliche Vorgehensweisen dazu werden im hilfreichen Buch von Stevens und Levi (2013, S. 87-102) erläutert sowie im bald erscheinenden Buch (siehe Infobox).

INFOBOX

Der Umgang mit Beurteilungskriterien wird näher erläutert in:

Zimmermann, Tobias: Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten. Prüfen, Beurteilen und Rückmelden von Lernleistungen. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. ISBN 978-3-8474-3045-2. (vorgesehenes Erscheinungsdatum: April 2024, Open Access online)

Das Buch gibt anwendungsorientierte Hinweise zur Gestaltung, Beurteilung und Rückmeldung von Prüfungen und vielen weiteren Formaten von Leistungsnachweisen. Zudem thematisiert es lernpsychologische Grundlagen für eine wirkungsvolle und valide Beurteilungspraxis.

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema Beurteilung an Hochschulen:

Assessment und Evaluation
13.–14. Juni 2024, PH Zürich

Beyond Exams: Designing Authentic Assessment and Feedback Practices
6.2.–16.5.2024, online/PH Zürich/Pristina

Zum Autor

Tobias Zimmermann ist Leiter des Zentrums für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich und leitet einen CAS-Studiengang in Hochschuldidaktik. Seine Spezialisierungen liegen im Beurteilen und Rückmelden von Lernleistungen, der Weiterbildungsdidaktik sowie der Mediendidaktik.

Ein Hochschulschock? Einblicke in das Erleben des ersten Semesters

Text: Albiona Hajdari

«Versuchen Sie nun bitte, Ihre eigene Metapher für Ihr erstes Semester zu finden!» Dies war die Aufforderung an Studierende, welche ihr Studium im Herbstsemester 2022 aufgenommen haben. Die Befragung erfolgte im Rahmen des Forschungsprojekts «Diversity im Engagement» der PH Zürich unter der Leitung von Franziska Zellweger. Das Projekt untersucht mittels Fokusgruppen und einer Befragung das Erleben des ersten Semesters und der dazugehörigen Anforderungen in professionsorientierten Studiengängen. Die Frage nach den Metaphern im Rahmen der Befragung erwies sich in den Ergebnissen als umfangreicher, spannender und dramatischer als angenommen. In Analogie zum Praxisschock beim Berufseinstieg könnte man fragen: Erleiden Studierende einen Hochschulschock?
Bildliche Beschreibungen des ersten Semesters als bedeutungsvolle und zugleich kritische Phase machen es möglich, dem subjektiven Erleben von Studierenden näher zu kommen. Im Folgenden werden erste Eindrücke aus dem Projekt berichtet sowie Ansätze geschildert, wie Studierende während dieses kritischen Übergangs unterstützt werden könnten.

Neue Studierende sind mit vielfältigen Anforderungen konfrontiert.

Das erste Semester als kritischer Übergang

Für den weiteren Studienverlauf und einen erfolgreichen Abschluss nimmt die Studieneingangsphase eine zentrale Bedeutung ein (Bosse & Barnat 2018). Die Forschung zum Übergang in die Hochschule unterteilt diesen Transitionsprozess in vier Phasen, in denen sich die Studierenden (1) auf ihr kommendes Studium vorbereiten, (2) einstellen, zurechtfinden, (3) anpassen versuchen sowie (4) sich im Verlauf des ersten Semesters und darüber hinaus stabilisieren (Coertjens et al. 2017).

Abbildung 1: Der «Transition Cycle» in Anlehnung an Nicholson (1990)

In diesem Prozess bewältigen Studierende vielfältige Anforderungen in unterschiedlichen Dimensionen. Dies geschieht in Abhängigkeit davon, inwiefern der Kern der von Studierenden genannten Herausforderung der eigenen Person, der Studienorganisation, den Rahmenbedingungen, den Studieninhalten oder dem sozialen Umfeld zugeschrieben wird (Trautwein & Bosse 2017; Wallis & Bosse 2020) (vgl. Abb. 1). Der Umgang mit solch kritischen Studienanforderungen sorgt bei den Studierenden häufig für Belastung oder bei erfolgreicher Bewältigung für Optimismus. Es können vier Dimensionen kritischer Studienanforderungen unterschieden werden, deren Zusammenspiel in der Realität zu sehr unterschiedlichem Erleben führt:

InhaltlichPersonalSozialOrganisatorisch
Bewältigung von fachlichen Anforderungen im Studium. Dazu gehört, die eigene Studienwahl und die dazugehörigen Erwartungen zu klären.Lernaktivitäten und -strategien entwickeln, organisieren und anwenden.Aufbau von sozialen Beziehungen im Studium mit Mitstudierenden sowie Dozierenden. Dies betreffen etwa die Kommunikation und Kooperation.Orientierung im Hochschulsystem sowie in der Organisation des jeweiligen Studienprogramms.
Beispiele:
– Bezüge zwischen Theorie und Praxis herstellen
– Wissenschaftliche Arbeitsweisen erlernen
Beispiele:
– Lernaktivitäten zeitlich sinnvoll strukturieren
– mit Leistungsdruck umgehen
Beispiele:
– im Team zusammenarbeiten
– mit dem sozialen Klima im Studiengang zurechtkommen
Beispiele:
– mit dem vorhandenen Lehrangebot zurechtkommen
– mit ungünstigen Rahmenbedingungen umgehen
Tabelle 1: Dimensionen kritischer Studienanforderungen nach Trautwein & Bosse (2017) und Jänsch & Bosse (2018)  (eigene Darstellung)

Anhand der vier Dimensionen kritischer Studienanforderungen wird deutlich, wie anstrengend und herausfordernd der Studienstart sein kann, und welche Konsequenzen dies für den weiteren Studienverlauf hat, wenn die Bewältigung dieser Anforderungen misslingt.

Metaphorische Einblicke ins erste Semester

Metaphern können helfen, komplexe Themen und Phänomene zu fassen. Es sind Bilder, mit denen wir subjektive Deutungen vornehmen, die wiederum auf unseren persönlichen Wahrnehmungen und Erlebnissen beruhen. Metaphern können schwierige Themen und Probleme beschreibbar machen. Sie schärfen die Aufmerksamkeit und ermöglichen es, die Komplexität zu bearbeiten (Thomann 2023). Ein Auszug einiger Metaphern:

Das erste Semester war…

  • …wie ein Teil eines Aufstiegs auf einen Berg, manchmal steiler und manchmal etwas mehr gerade aus, mit guten und schlechten Wetterbedingungen.
  • …wie eine Achterbahn für mich, denn die Gefühle und der Leistungsdruck gingen stetig hoch und runter.
  • …wie ein Schneesturm, denn es wimmelte nur so von Informationen, die an verschiedenen Stellen zu finden sind, aber einen Weg konnte ich immer finden.
  • …wie ein Sprung ins tiefe Wasser, denn ich musste mich von Anfang an schnell anpassen und Strategien finden, um mit allem mitzukommen.

Anhand dieser Metaphern wird deutlich, dass der Einstieg nicht als einmaliger Akt oder linearer Prozess empfunden wird, sondern über längere Zeit andauert und von einem emotionalen Auf und Ab geprägt ist. Studierende sind gefordert, die gegebenen Rahmenbedingungen der Hochschule rasch zu verstehen und sich stetig anzupassen sowie kreative Lösungen im Umgang mit Herausforderungen zu entwickeln.

Emojis sprechen lauter als Worte

Auch mithilfe von Emojis kann das Erleben, das sich nicht versprachlichen lässt, bildlich ausgedrückt werden. Insbesondere durch die alltägliche Verwendung eignen sich diese «Gesichter» für den Ausdruck des Erlebens. Im Dezember 2022 wurden fünf Fokusgruppengespräche geführt, eröffnet mit der Frage: «Wenn ihr das bisherige Studium in Emojis beschreiben müsstet, welche Emojis würdet ihr auswählen?» Die in Abbildung 3 dargestellten Emojis wurden häufig gewählt:

In der Beschreibung des ersten Semesters ist die anfängliche Informationsflut ein grosses Thema, die bei den Studierenden zu einem Augenverdrehen und Hinterfragen führt.

Der Studienstart wird auch als anstrengend empfunden und mit «Schweiss» und Müdigkeit verbunden.

Vor allem organisatorische Anforderungen sind für die Studierenden zu Beginn herausfordernd. Sie müssen zuerst lernen, sich mit ihnen besser an der Hochschule zurechtzufinden.

Aber auch die positiven Emotionen im Studium werden betont: Freude und Begeisterung für den zukünftigen Beruf werden durch ein lachendes Emoji oder mit Herzen ausgedrückt.

Abbildung 2: Häufig gewählte Emojis in den Fokusgruppen

Die Empfindungen – ausgedrückt in Emojis – variierten von Phase zu Phase im Verlauf des ganzen ersten Semesters und darüber hinaus. Die Studierenden beschreiben es als ein Auf und Ab zwischen Über- und Unterforderung. Anhand der Emojis werden die Anpassungsprozesse sowie Studienanforderungen, die in der Studieneingangsphase typisch sind, sehr deutlich. Sie ermöglichen damit einen näheren Blick in das emotional-subjektive Erleben der Studierenden.

Warum die Frage nach dem Erleben des Studienstarts wichtig ist

Die Studierenden an Hochschulen sind in den letzten Jahrzehnten diverser geworden. Dadurch gibt es auch grosse Unterschiede im Erleben des Studienstarts, denn die Wege dorthin unterscheiden sich wie auch die Hintergründe sowie Motivation der Studierenden. An den Hochschulen haben sich verschiedene Ansätze, Initiativen, Programme und Projekte etabliert, die sich etwa in der curricularen Verankerung, Dauer oder im Modus unterscheiden (siehe hierzu einen Merkmalskatalog von Angeboten der Studieneingangsphase).

Ein Blick auf die Metaphern zeigt, dass die Studierenden in der Regel keinen Hochschulschock erleiden, sie es aber mit herausfordernden Situationen organisatorischer, inhaltlicher, sozialer oder personaler Art zu tun haben. Gerade vor wenigen Wochen hat das neue Semester an den Hochschulen begonnen. Die Erstsemesterstudierenden befinden sich mittendrin und konnten bereits Eindrücke ihrer Lernumwelt sammeln. Dozierende können Studierende gezielter unterstützen, wenn sie sich mit ihrem Erleben und ihren Eindrücken auseinandersetzen. Als Anregung, wie Studierende verstärkt in der Studieneingangsphase unterstützt werden können, mögen folgende Fragen dienen:

  • Wie finde ich heraus, mit welchen Anforderungen meine Studierenden zu kämpfen haben?
  • Wie, wann und wo kann ich in der anfänglichen Informationsflut Orientierung bieten und als mögliche Ansprechperson bei Fragen sowie Unsicherheiten agieren?
  • Wie kann ich die Hochschule als neue Lernumgebung zugänglicher machen? Auf welche unterstützenden Angebote kann ich meine Studierenden aufmerksam machen?
  • Wie kann ich soziale Interaktionen zwischen meinen Studierenden inner- und ausserhalb der Veranstaltungen unterstützen?

Auch die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen im ersten Semester in metaphorischer Form könnte für den Zugang zu den Studierenden und ihrem Erleben gewinnbringend sein. Liebe Lesende, wie würden Sie sich wünschen, dass Ihre Studierenden ihr erstes Semester beschreiben – mit welcher Metapher? Ich freue mich, wenn Sie Ihren Vorschlag in den Kommentaren in Form eines Emojis oder einer Metapher mit mir teilen!

Zur Autorin

Albiona Hajdari ist studentische Mitarbeiterin am Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung (ZHE) an der PH Zürich und Masterstudentin für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich.

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