Zwischen Technologie und Menschlichkeit

Text: Dominic Hassler und Monique Honegger

Wenn wir als Bildungsfachleute Curricula und Unterricht im Kontext von KI weiterentwickeln, sollten uns die Stärken und Schwächen von Künstlicher Intelligenz (KI) und von Menschen bewusst sein. Tools wie etwa ChatGPT erzeugen Texte, die solchen von Menschen gleichen. Allerdings produzieren sie Texte auf andere Weise. Vorliegender Beitrag ergründet, u.a. mit Bezug auf Ausführungen von Floridi (2014), worin dieser Unterschied besteht. Abschliessend identifizieren wir Fragen für professionelles Handeln zwischen Technologie und Menschlichkeit.  

Wir bauen keine Roboter, die wie ein Mensch Hemden bügeln und falten. (Quelle: Youtube)
Stattdessen bauen wir eine Kleiderfaltmaschine.
(Quelle: Facebook)

Menschen bauen Maschinen nicht mit dem Ziel, dass die Maschinen Aufgaben auf dieselbe Weise lösen wie Menschen. Andernfalls müsste ein Roboter am Spülbecken stehen und das Geschirr mit Schwamm oder Bürste reinigen. Stattdessen bauen wir einen Geschirrspüler (Luciano Floridi, 2014). Das Ingenieurwesen nennt dies «Enveloping» (dt.: umhüllen). Der Geschirrspüler fungiert als Hülle für die Maschine, die unser Geschirr reinigt. In dieser Hülle erledigt die Maschine ihren Job effizient und effektiv. Entsprechend ist eine Autobaustrasse eine grossformatige Hülle für Maschinen, die Autos zusammenbauen. Solche Umgebungen sind für Maschinen gemacht, nicht für Menschen. 

Diese «Hülle» ist nicht für Menschen gemacht. Rätsel: Wo ist der Mensch?
(Quelle: Adobe Stock)

Ähnlich verhält sich der Transfer von menschlichem Schreiben und einem Tool wie ChatGPT. Wenn ein Mensch einen Text verfasst, erfordert dies Intelligenz sowie für eine angemessene Performance als Erwachsener rund 20’000 Stunden Übung (vgl. Linnemann 2014, S. 27, Kellogg 2008, S. 4). Schreibt hingegen ChatGPT einen Text, braucht es beträchtlich Speicher und Rechenpower.  

Zahlreiche Prozesse unserer Welt sind automatisiert dank Maschinen, also in Envelopes gehüllt. Jeden Tag werden mehr Daten gesammelt, gibt es mehr Geräte, die miteinander kommunizieren, Tools, Satelliten, Dokumente, RFID, IoT – in einem Wort: mehr Enveloping. Darum kann es manchmal so aussehen, als ob Maschinen zunehmend «intelligenter» und Menschen «dümmer» werden. 

Beziehung zwischen Menschen und Technik

Stellen wir uns ein Menschen-Paar mit zwei unterschiedlichen Charakteren vor. Die eine Person ist fleissig, unflexibel und stur. Die andere Person ist faul, anpassungsfähig und nachgiebig. Ihre Beziehung funktioniert, weil sich die faule Person der fleissigen Person anpasst. Derzeit hüllen wir als Teil eines Paars (Mensch-Technik) immer grössere Teile unserer Umgebung in smarte ICTs. Mitunter prägen diese Technologien unsere physische und konzeptionelle Umwelt. Schliesslich ist KI die arbeitssame, aber unflexible Paarhälfte, während Menschen intelligent, aber faul sind. Es passt sich demnach der faule Part an, wenn eine Trennung keine Option ist (vgl. Luciano Floridi 2014, S. 150). Mensch und Maschine als gleichwertiges Paar auf Augenhöhe zu denken, entspricht einer Handlungslogik. Es gibt jedoch auch eine Sehnsuchts- und Angstlogik, respektive eine emotionale Interpretation, die medial weit verbreitet ist: diese geht von einer Dominanz des anderen Paarteils aus.

Mediale Omnipräsenz von «allgemeiner künstlicher Intelligenz»

In Filmen und Literatur und finden sich mächtige «allgemeine künstliche Intelligenz» als fiktionaler Alltag: von Olimpia im Sandmann (ETA Hoffmann) bis zu HAL 9000 in A Space Odyssey oder Skynet in Terminator. Gleichzeitig warnen und warnten Persönlichkeiten wie Stephen Hawking oder Elon Musk davor, dass eine künstliche Intelligenz sich irgendwann über die Menschheit erheben könnte. Ingenieur:innen von Microsoft verkündeten kürzlich, «Experimente mit ChatGPT 4.0 hätten einen Funken von allgemeiner KI gezeigt». Daraus liesse sich folgern, dass die Menschheit auf dem Weg ist, eine mächtige «allgemeine KI» zu entwickeln und aktuelle Schreibroboter wie ChatGPT der nächste Schritt auf diesem Weg sind. Ist diese Folgerung gerechtfertigt? Oder wir können auch anders fragen: Haben KI wie ChatGPT heute oder morgen das Potenzial etwas Bedeutungsvolles zu kreieren? 

Tippende Affen und unendlich viele Daten

Theoretisch kann KI etwas Neues oder Innovatives kreieren, wie das Infinite Monkey Theorem zeigt. Stellen wir uns eine unendliche Anzahl von Affen vor, die auf Schreibmaschinen tippen. Irgendwann verfasst ein Affe per Zufall Goethes Faust. Allerdings versteckt sich der Faust-Text in Galaxien von zusammenhangslosen Zeichen und Texten. Die tippenden Affen realisieren nicht, wenn ein für die menschliche Kultur bedeutsames Werk erschaffen wird. Kurz: Es gibt viel Produziertes, aber den produzierenden Affen entgeht der kulturelle, intellektuelle oder diskursive Wert des jeweiligen Textes. 

Bild einer papierüberquellenden Galaxis (Annäherung).
(Quelle: Adobe Stock)

Die schreibende Affenhorde lässt sich mit ChatGPT vergleichen: ChatGPT beherrscht die Syntax unserer Sprache fast perfekt. Daher entstehen keine Texte mit Schreibfehlern auf der Textoberfläche (Grammatik, Orthografie) und ChatGPT arbeitet etwas weniger zufällig als die unendlich vielen Affen. Gleichwohl müsste ChatGPT unzählige sinnfreie Wortkombinationen verfassen, um zufällig ein Kulturgut wie Faust zu kreieren. Aufgrund des Mooreschen Gesetzes (alle ca. 18 Monate verdoppelt sich die Leistung neuer Computerchips) können KIs bereits heute nahezu unendlich viele Texte kreieren. 

KI versteht jedoch nicht, was sie schreibt. Sie kombiniert aufgrund statistischer Werter, welche Worte zueinanderpassen. Etwas Bedeutungsvolles schafft sie per Zufall, ohne es zu merken. Diese Unbewusstheit der KI schmälert keineswegs ihr enormes Leistungspotenzial. Nützlich ist, dass KI auf Knopfdruck in riesigen Datenmengen weitere Worte und Begriffe findet, die zu einer Suchanfrage passen und daraus Text produziert. Die Resultate erinnern an Texte, welche fleissig sammelnde Lernende für die Schule verfassen. Nebenbei: oftmals ist es unabdingbar, solchen Lernenden zu feedbacken, dass ihr Text einen Fokus, eine diskursive Position sowie eine Verknüpfung der dargestellten Inhalte benötigt. 

Die Existenz solcher KIs wirft Fragen auf für die Bildungswelt, insbesondere für Schreibaktivitäten. Sinkt etwa die Motivation dafür, weil KI schreiben kann (PHSZ)? Oder erhöht sich die Performanz beim Schreiben dank KI-Unterstützung? Dies ist nicht nur eine Frage von Sprachunterricht, bekanntlich findet Lernen nicht ohne Sprache statt. Ebensowenig funktioniert eigenständiges Denken ohne Sprache (Honegger/De Vito/Bach 2020). Umgang mit KI betrifft Denkförderung und Sprachförderung.

Es folgt eine Auswahl von weiterführenden Fragen für den Unterricht und das Lernen in allen Fächern:

A) Lehrende

  1. Wie integriere ich als Lehrende KI-Tools sinnvoll in den Unterricht (→ Beispiel)?  
  1. Wie gestalte ich motivierende Schreibaufgaben und baue die Leistungsfähigkeit von KI in Lernprozesse ein? 
  1. Wie begleite ich einzelne Lernende mit oder dank KI effektiv? 
  1. Was bedeuten Lösungsansätze wie «mehr mündlich» oder «mehr prozessorientierte Lernbegleitung» (siehe bspw. PHSZ) konkret für meinen Unterricht? Gezieltes wirksames Feedback und wirkungsvolle Reflexion. Dies impliziert eine Änderung in methodischen Settings (vgl. Hassler/Honegger 2022

B) Schulleitungen und Schulteams 

  1. Wie nutzen wir KI-Tools im Unterricht als Werkzeug und gewährleisten dabei den Datenschutz? → eine Möglichkeit
  1. Welche Richtlinien und Freiräume brauchen wir für den Einsatz von KI im Unterricht und an Prüfungen (inklusive Projektarbeiten)?

C) Prüfungen

  1. Welche Rahmenbedingungen gelten für Prüfungen und Projektarbeiten?  
  1. Inwiefern sind Inhalte und Kompetenzen anzupassen? (Siehe bspw. Müller/Winkler 2020 für eine Einordnung des Grammatikunterricht)  

D) Weiter- und Ausbildung von Lehrenden 

  1. Inwiefern sind aktuellen Kompetenzbeschreibungen und -modelle anzupassen (Kröger 2021)? 
  1. Welche Kulturkompetenzen (Schreib- oder Lesekompetenzen u.a.) brauchen Menschen in Zukunft?  
  1. Welche Inhalte sollen vermittelt, welche Kompetenzen trainieren werden? 

Lehren und Lernen in einer von digitaler Technik geprägten Welt ist Balancieren zwischen faul und schlau:  Die Beziehung zwischen Mensch und Technik steuern.

INFOBOX

Angebote
Mehr über die Chancen und Herausforderungen von KI und anderen aufkommenden Bildungstechnologien wie VR oder Learning Analytics erfahren Sie im Modul Emerging Learning Technologies am 25.8. und 15.9.2023 am Campus PH Zürich.

Prägnante Aufgabenstellungen für Lernende effizient formulieren
Blitzkurs online, 25.5.2023, 17.30–19 Uhr

Podcast
Hören Sie mehr zum Thema ChatGPT und KI im Gespräch zwischen Rocco Custer (FHNW) und Dominic Hassler (PHZH) im Podcast #12 «Resonanzraum Bildung – ChatGPT, Chancen und Risiken in der Berufs- und Hochschulbildung».

Zu den Autor:innen

Monique Honegger ist Senior Teacher, ZFH-Professorin an der PH Zürich. Beratend, entwickelnd, weiterbildend und bildend. 

Unterstützen im Berufsfindungsprozess – eine besondere Aufgabe

Text: René Schneebeli

Die erste Berufswahl

Die Aussicht, nach der Schulzeit eigene Wege zu gehen, Selbstständigkeit zu erreichen, eigenes Geld zu verdienen und nur noch zu lernen was einen interessiert, kann für viele Schulabgänger:innen motivierend sein.

Die richtige Anschlusslösung zu finden, ist aber ein Prozess, der manch einem vieles abverlangt. Die eigenen Stärken, Schwächen, Fähigkeiten und Interessen müssen mit den unzähligen Angeboten der Berufs- und Schulwelt abgeglichen werden. Dabei sind Entscheidungen zu fällen, die sich nachhaltig auf die weitere Berufskarriere auswirken. Dieser anspruchsvolle Prozess fällt zudem in eine Zeit, in der die Jugendlichen stark mit sich selbst beschäftigt sind. Darüber hinaus beeinflussen Zufälle, Gelegenheiten und ausserschulische Vorkommnisse diese sensible Phase.

Dass laut der Juvenir-Studie 2.0 der Jacobs Foundation (2013) trotz diesen vielen Unsicherheiten das Zustandekommen der Wunschausbildung der Jugendlichen der Regelfall ist, erstaunt dann doch immer wieder. Insbesondere wenn man bedenkt, dass im Frühjahr des Abschlussjahres erst etwa zwei Drittel der Lehrstellensuchenden eine zugesicherte Lehrstelle haben (gfs.bern, Nahtstellenbarometer März/April 2022).

Ein Berufswahlfahrplan (Quelle: PH Thurgau)

Wenn die Unterstützung durch Eltern und das reguläre Schulangebot nicht ausreicht

Zu verdanken ist das Finden einer Lehrstelle primär der Beteiligung der Eltern, die Werte vermitteln, Interessen wecken, Informationen vermitteln und emotionale Unterstützung bieten. Sie haben den grössten Einfluss aller Involvierten und sind verantwortlich für die Erstausbildung. Unterstützend wirken auch die Lehrpersonen, die im Fach «Berufliche Orientierung» die Jugendlichen ab der 2. Sekundarschule in diesem Findungsprozess systematisch begleiten. Weiter können Peergruppen und die Berufsberatung Einfluss nehmen.

Wo Eltern über nicht genügend Ressourcen für die Unterstützung verfügen oder wo das reguläre Angebot der Schulen für Jugendliche mit schwierigen Voraussetzungen oder aussergewöhnlichen Berufswünschen nicht genügt, fällt spezialisierten Fachpersonen eine besondere Aufgabe zu. Sie begleiten die Jugendlichen individuell bei der Entwicklung und Umsetzung von Lebens- und Laufbahnperspektiven.

Für diese Berufsrolle hat sich seit längerem die Bezeichnung «Berufswahl-Coach» etabliert. Im schulischen Umfeld sind es besonders die Fach- oder Lehrpersonen der Sekundarstufen I und II oder aus Brückenangeboten sowie aus der Schulsozialarbeit, die diese Funktion einnehmen. Ausserschulisch sind es Fachpersonen aus der Sozialarbeit, Job-Coaches, Mentor:innen oder Case-Manager:innen die hier aktiv sind. Sie alle unterstützen Jugendliche im Berufsfindungsprozess im jeweiligen Kontext.

Professionalisierung der Berufsrollen

Im Zug der Professionalisierung dieser Berufsrolle haben sich spezialisierte Weiterbildungen bewährt, welche mittlerweile von einzelnen Kantonen für die Übernahme dieser Funktion voraussetzt werden.

Neben der FHNW bietet die PHZH zusammen mit der PHTG einen CAS Lehrgang zum Berufswahl-Coach an. In weniger als einem Jahr werden wissenschaftlich fundiert, aber auch stark an der Praxis ausgerichtet, die wesentlichen Inhalte vermittelt. Neben dem Coaching-Handwerk, das einen zentralen Stellenwert in der Weiterbildung einnimmt, geht es um die vertieften psychologischen Hintergründe des Berufswahlprozesses bei Jugendlichen und um verwertbares Wissen zum Schweizer Bildungssystem und Arbeitsmarkt. In den teilweise organisierten Praktika lernen die Studierenden die regionalen Betriebe und Berufsberatungsstellen kennen und erhalten Einblicke in wichtige Schnittstellen wie Sozialversicherungen, Bildungsämtern und anderen Anlaufstellen.

Wer sich als Lehrperson im Rahmen der Schule und des Unterrichts noch weiter spezialisieren will, kann, aufbauend auf dem CAS Berufswahl-Coach, den Lehrgang CAS Fachlehrer:in Berufswahlunterricht absolvieren. Im Fokus stehen die Inklusion und insbesondere die Fachdidaktik. Absolvent:innen sind verantwortlich dafür, innerhalb der eigenen Schule den Berufswahlunterricht zu koordinieren und zu übernehmen. Zu ihren Kernaufgaben gehören das Entwickeln und Umsetzen von Berufswahlkonzepten, die Qualitätssicherung, das Beraten der Schulleitung und des Schulteams wie auch die Weiterbildung von Lehrpersonen.

Die Ausbildung ist von der EDK zertifiziert und entspricht dem Profil für die Zusatzausbildung «Fachlehrerin/Fachlehrer Berufswahlunterricht» vom 25. Oktober 2007. Absolventinnen und Absolventen dürfen den Zusatz «EDK anerkannt» im Titel ausweisen.

INFOBOX

Der CAS «Berufswahl-Coach», eine Kooperation der PH Thurgau und der PH Zürich, startet im Oktober 2023. Am 17. Januar 2023 und am 6. März 2023 finden dazu Online-Informationsveranstaltungen statt. Hier können Sie sich anmelden.

Zum Autor

Rene_Schneebeli_sw

René Schneebeli arbeitet im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung an der PH Zürich. Er ist Dozent und Co-Studiengangsleiter des CAS Berufswahl-Coach der PHZH.

(Un-)Ordnung muss sein: Zwischen Flexibilität und Systematik in der Weiterbildung

Beitrag von Markus Weil

Weiterbildung soll flexibel sein, angepasst an individuelle Bedürfnisse, zeitlich frei gestaltbar, modularisiert. Das alles sind legitime Ansprüche. Wenn sich gleichzeitig der Ruf nach Anrechenbarkeit und Zertifikaten hinzugesellt, stehen Bildungsinstitutionen vor einigen Herausforderungen. Nach innen bringt Weiterbildung eine gewisse Unordnung in die Tertiärstufe des Bildungssystems. Nach aussen bedarf es verständlicher Worte, die gleichzeitig hohe Flexibilität und eine gewisse Systematik deutlich machen.

«Ordnung ist das halbe Leben»

Schön ordentlich: Die eigene Bildungsbiografie lässt sich im schweizerischen Bildungssystem einordnen. Wo sind Sie entlanggegangen?

Quelle: SBFI 2019

Was bringt der Blick auf diese ordentliche Darstellung des Bildungssystems? Es wird unterschieden zwischen Primar-, Sekundar- und Tertiärstufe und Weiterbildung, die manchmal auch als Quartärstufe bezeichnet wird (z.B. im Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrats, 1970). Vertikal gibt es verschiedene Typen von Bildungsinstitutionen und -abschlüssen beruflicher und allgemeiner Natur. Diese Strukturierungsleistung dient der rechtlichen und administrativen Verortung, der Orientierung für den persönlichen Bildungsweg, der Vergleichbarkeit, Zugangsberechtigung bis hin zu Finanzierungsbedingungen. Die eindeutigen Fälle sind – wenn auch im historischen Wandel – meist gut verortet und systematisiert. Flexibilität im schweizerischen Bildungssystem lässt sich im Wechsel zwischen den verschiedenen horizontalen und vertikalen Einordnungen aufzeigen. In der Darstellung ist dies mit «üblicher Weg» und «möglicher Weg» gekennzeichnet. Aber Ordnung ist eben nur das halbe Leben.

«Jede Ordnung ist der erste Schritt auf dem Weg in neuerliches Chaos»

Spannend wird es bei Fragestellungen, die nicht so einfach zu beantworten sind. Wenn wir den Fokus auf das beidseitig eingezeichnete Band «Weiterbildung» in der Darstellung richten, stellen sich bereits auf den ersten Blick Fragen nach «üblichen und möglichen Wegen». Nehmen wir uns exemplarisch den Quadranten vor, der mit «Hochschulen» und «Tertiärstufe» gekennzeichnet ist. Seit der Bologna-Reform um die Jahrtausendwende wurde das europäische Hochschulsystem in Bachelor, Master und PhD/Doktorat gegliedert – in einigen Fällen zusätzlich mit Diplomen oder Abschlüssen zur Berufsbefähigung. Aber: Fachhochschulen, Pädagogische Hochschulen und Universitäten in der Schweiz bieten nicht nur diese Tertiärbildung an, sondern treten im vierfachen Leistungsauftrag (Studium, Forschung, Dienstleistung und Weiterbildung) immer auch als Weiterbildungsanbietende auf. Parallelen lassen sich in der höheren Berufsbildung oder bei Berufsfachschulen aufzeigen, die ebenfalls Weiterbildungsfunktionen wahrnehmen. Es zeichnen sich gewisse Herausforderungen ab, im Bildungssystem mehrere Funktionen abzudecken und gleichzeitig als Hochschule wahrgenommen zu werden: Die Hochschule als Weiterbildungsanbieterin.

Quelle: Adobe Stock

«Unordnung ist eine Uhr ohne Zeiger»

Haben Sie schon einmal von CAS, DAS und MAS gehört?  In Weiterbildungsprogrammen hat sich an Hochschulen diese Systematisierung von Certificate, Diploma und Master of Advanced Studies etabliert. Ausserhalb der Schweiz lösen diese Begriffe meist fragende Blicke aus. Es handelt sich nicht um ein bologna-konformes europäisches System, sondern um eine Ordnungsleistung für Weiterbildung an schweizerischen Hochschulen. CAS, DAS und MAS können nicht von anderen Bildungsstufen angeboten werden. Sie unterliegen schweizweiten Konventionen, ohne jedoch zum formalen Bildungssystem zu zählen. Sie sind und bleiben Weiterbildung. Nicht nur die Systematik lehnt sich an Bachelor, Master, PhD/Doktorat an, auch wird Workload in ECTS-(Weiterbildung-)Punkte (Europäisches System zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen) umgewandelt, welche allerdings nicht automatisch als ECTS-(Studiums)-Punkte für die Studienangebote anrechenbar sind. An Hochschulen wird in den Weiterbildungsprogrammen oftmals auf das gleiche Personal sowie auf ähnliche methodisch-didaktische und curriculare Konzepte zurückgegriffen wie in den Studiengängen, so zum Beispiel für das Verfassen von Abschlussarbeiten. Unterschiedlich zum Hochschulstudium sind Finanzierungsmechanismen, Adressat:innen und die gesamte Angebotspalette, in der CAS, DAS und MAS nur einen Bruchteil ausmachen und im Kontext von  internen Weiterbildungen, Beratungen, Tagungen, Kursen, Workshops und vielem mehr zu denken sind.

«Wer Ordnung hält, ist zu faul zum Suchen»

Es folgen vier Vorschläge, wie das systematische und institutionelle Verhältnis von Hochschulbildung und Weiterbildung gedacht werden könnte.

Quelle: Gonon/Weil 2021. Dieses Schema kam in der Publikation von Gonon/Weil 2021 zum Einsatz, wo eine internationale Verortung der schweizerischen CAS-DAS-MAS-Besonderheit vorgenommen wurde.
  1. Separat: Hochschulen fokussieren auf Bachelor-, Master- und PhD-Programme. Diese Programme sind nicht für die Weiterbildung geöffnet. Weiterbildungsprogramme werden ausserhalb von Hochschulen angeboten und angerechnet.
  2. Institutionell integriert, systematisch separat: Eine Bildungsinstitution bietet neben Hochschulausbildung auch Hochschulweiterbildung an. Beide Systeme operieren separat, Infrastruktur und Personal werden gemeinsam genutzt.
  3. Institutionell separat, systematisch integriert: Weiterbildung und Hochschulbildung können gegenseitig angerechnet werden, werden aber von unterschiedlichen Anbietenden ausgebracht.
  4. Integriert: Hochschulausbildung und Hochschuldweiterbildung sind Teil desselben Rahmens. Die Angebote sind offen für Studierende und Weiterbildungsteilnehmende.

Diese Überlegungen haben praktische Konsequenzen:

  • Wo muss der Workload absolviert werden, der zu einem ECTS-Punkt führt?
  • Wird diese Leistung für weitere Angebote angerechnet?
  • Wer bezahlt die Bildungsleistung?

Die Antwort auf diese Fragen kann je nach Modell ganz unterschiedlich ausfallen. Insofern schadet ein wenig Systemkunde auch mit Blick auf ein einzelnes Angebot nicht.

(Un-)«Ordnung muss sein»

Weiterbildung, die an Hochschulen stattfindet, hat das Potenzial, die Hochschule zu irritieren. Sie kann im besten Fall Hochschulen noch mehr für die Gesellschaft öffnen, indem sie Angebote für die breite Allgemeinheit zugänglich macht – mit und ohne Abschluss. Im Gegensatz zu akkreditierten und hoch reglementierten Studienprogrammen kann Weiterbildung Angebote in kompakten Formaten schnell umsetzen und eine unordentliche Dynamik zu einem späteren Zeitpunkt bei Bedarf systematisieren. Das eigene Ordnungssystem in der Schweiz mit CAS, DAS und MAS schafft dafür die notwendige Verbindlichkeit.

Wünschenswert wäre, dass zukünftige schematische Darstellungen des Bildungssystems mehr Durchlässigkeit definieren. Wo sind die Pfeile «übliche und mögliche Wege» von den Hochschulen zur Weiterbildung und umgekehrt? Im erweiterten Sinne setzen sich bereits ebenso viele Beteiligte mit Fragen zu Validierungsmöglichkeiten und Kompetenzanerkennung auseinander, wie zu curricularen Überlegungen zum Verhältnis von Praktika, Exkursionen und Selbststudium.  Ordnungsleistungen im Bildungssystem sind dabei sehr wichtig, damit wir uns auf Abschlüsse und Wege auch verlassen können. Neben der Systematisierung besteht der Anspruch nach möglichst hoher Flexibilität im Bildungssystem. Fragen zur Unordnung sind erwünscht, teils irritierend, teils innovativ. Was meinen Sie zu den vier vorgeschlagenen Modellen im Verhältnis zu Hochschul- und Weiterbildung? Muss (Un-)Ordnung sein?

INFOBOX

Publikationen zum Thema

Philipp Gonon, Markus Weil. Continuing Higher Education Between Academic and Professional Skills.

Katrin Kraus, Markus Weil. Der Leistungsbereich Weiterbildung im institutionellen Kontext: zum reflexiven Potenzial der Pandemiesituation für das organisationale Lernen von Pädagogischen Hochschulen.

Markus Weil, Balthasar Eugster. Thinking outside the box. De-structuring continuing and higher education.

Zum Autor

Markus Weil leitet die Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Seine Schwerpunkte sind Schnittstellen zwischen Berufsbildung, Weiterbildung und Hochschullehre.

Weiter bilden!

Autor:innen: Dagmar Bach, Gabriel Flepp, Kay Hefti, Monique Honegger, Barla Projer, Alex Rickert, Yvonne Sutter, Tobias Zimmermann

Zur Verabschiedung von Geri Thomann, dem langjährigen Leiter der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich, haben Mitarbeitende eine Reihe von Texten verfasst. Diese  – seinem innovationsfreudigen Wesen und Wirken entsprechend teils experimentellen – Texte sind online erhältlich und werden unten näher vorgestellt. 

Ende Juni 2022 geht Geri Thomann in Pension. Er hat die Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung  an der PH Zürich seit 2009 massgeblich aufgebaut, das Schreibzentrum in die Abteilung integriert und weiterentwickelt, die Integration der Weiterbildung für Berufsfachschulen eng begleitet und den Ausbau im Bereich der Höheren Berufsbildung angestossen – so auch diesen Blog, zu dem er selbst regelmässig als Autor beigetragen hat.

Herzlichen Dank! 

Die Mitarbeitenden der Abteilung danken Geri Thomann ganz herzlich für seinen grossen Einsatz, seine profunden Fachkenntnisse und seine menschlichen Qualitäten – es war toll, mit ihm zu arbeiten! Für den bevorstehenden Unruhestand wünschen wir Geri nur das Allerbeste und viele genussvolle Momente.

Festpublikation «Fliegen – balancieren – segeln – tuckern: Ein Dank an Geri Thomann»

Im Zentrum der online erhältlichen Festpublikation stehen Fragen und Themen, die Geri Thomann wichtig sind:

Dagmar Engfer visualisiert Blended Coaching meteorologisch gerahmt, 
«Strategie oder Mimikry?» fragt Barbara Getto bezüglich mediendidaktischer Innovation in der Hochschulentwicklung, 
Franziska Zellweger und Erik Haberzeth denken Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung aneinander,  Wolkenmetaphern in Bezug auf Dozierende beleuchtet Simone Heller-Andrist, dass «sie sich doch dreht» beschreibt Monique Honegger, das Schreibzentrum PH Zürich präsentiert unter der Redaktion von Alex Rickert einen bunten Hund als Textstrauss, Kathrin Rutz ergründet Lern- und Tunnelerfahrungen (Liminalität) in der Beratung, inwiefern Farbe bekennen trotz «Changing the perspektive» für Führungspersonen nötig ist, diskutiert Willie Weidinger und Tobias Zimmermann präsentiert einen Ausschnitt aus dem Jahresbericht 2040 als «research-based fiction».

Screenshot der Webseite www.2022-gerithomann.com

Die Reform im Detailhandel und KV – ein Werkstattbericht

Text: René Schneebeli

Die Umsetzung der Reform im Detailhandel und im KV läuft auf Hochtouren. Bis zum Sommer 2022 bzw. 2023 werden alle Lehrpersonen im Kanton Zürich ihre Weiterbildungen abgeschlossen und ihren Unterricht auf die neuen Vorgaben abgestimmt haben. Ein Unterfangen mit vielen Beteiligten, Veränderungen, Fragen und Unsicherheiten.

Quelle: vbv 2021

Die Reform ist tiefgreifend. Soll sie erfolgreich sein, muss ihre Umsetzung in einen mehrjährigen Schulentwicklungsprozess eingebunden sein. Die PHZH und andere Hochschulen haben den Auftrag erhalten, im Rahmen dieses Prozesses den viereinhalbtägigen Präsenzteil der Lehrerweiterbildung zu übernehmen. Dabei geht es um die Entwicklung und Umsetzung eines kompetenzorientierten Unterrichts und um die Gestaltung von kompetenzorientierten Prüfungen. Im Fokus steht die konkrete Anwendung im Unterricht.

Heterogenität, Kritik und Erfahrung

Als wir im letzten Herbst mit der Umsetzung begannen, stellten wir fest, dass die Schulen und die etwa 650 Lehrpersonen bezüglich der Reform sehr unterschiedlich unterwegs waren. Schnell wurde klar, dass die vorgesehenen Standardangebote, die wir zusammen mit den anderen Hochschulen aufgrund des nationalem Grobkonzept entwickelten, der Situation nicht gerecht wurden. Die inhaltliche, organisationale und zeitliche Heterogenität war insbesondere bei den KV Schulen einfach zu gross. Also mussten wir die Angebote auf die jeweiligen Verhältnisse der Schulen abstimmen. So wurden Lernende oder Schulleitungen in die Lernsettings eingebunden oder schuleigene Lehrpersonen als Kursleitende engagiert. Zum Teil wurden die Weiterbildungen mit schulspezifischen Halbtagen ergänzt oder es wurden andere inhaltliche Schwerpunkte gesetzt. Zwar hatte dies für uns einen deutlich grösseren Aufwand pro Weiterbildung zur Folge, die Angebote wurden dadurch jedoch anschlussfähiger.

Gleichwohl begegneten wir als Repräsentanten der Reform auch immer wieder grundsätzlichen Vorbehalten und punktueller Skepsis. Das war in der Anfangszeit zu einem Teil den Unklarheiten geschuldet, die sich aus dem nationalen Projekt selbst ergaben und die unseren Kursleitenden den notwendigen Wissensvorsprung erschwerten. Grund für Kritik gab auch das mangelnde Zusammenspiel aller Beteiligter. Wo an Schulen hinsichtlich der schulischen Umsetzungsprojekte Unklarheiten oder Ungereimtheiten zwischen Leitung, Projektverantwortlichen und Lehrpersonen bestanden, richtete sich die Kritik der Lehrpersonen oftmals stellvertretend an das Reformprojekt, die Kurse oder die Kursleitenden. 

Unterdessen sind wir weiter. Wir haben vielfältige Erfahrungen gesammelt und die Prozesse und Inhalte sind so ausgereift, dass wir flexibler auf die Nachfrage reagieren können. Dies wird für die kommenden Kursumsetzungen und insbesondere für die Anbieter der schulischen Grundbildung (SOG Schulen) relevant sein, die einen guten Teil der Weiterbildung selbst finanzieren und bei denen die Weiterbildung der Lehrpersonen noch bevorsteht. Gleiches gilt für die Wirtschaftsmittelschulen, die ebenfalls von diesen Erfahrungen profitieren können.

Situationslogik, Interdisziplinarität und Teamarbeit

Ganz im Sinne des handlungskomptenzorientierten Lernens erarbeiten sich die Lehrpersonen das notwendige theoretische Wissen selbstorganisiert. Der Präsenzunterricht konzentriert sich auf die Umsetzung, Diskussion sowie Erläuterung und Vertiefung einzelner Themen. Gleichzeitig ist immer wieder auch Klärungsarbeit zu leisten bezüglich der Vielzahl von Grundlagendokumenten und Konzepten.

Oft machen die Lehrpersonen die Feststellung, dass nicht alles, was die Reform bringt, wirklich neu ist. Vieles wird schon so gelebt und im Rahmen der Weiterbildung nur neu verortet. Die grösste Neuerung ist der Wechsel von der Fach- in die Situationslogik und die Zentrierung der Sichtweise auf die Lernenden. Damit verbunden ist eine Fokusverschiebung weg von Leistungszielen, Lehrmitteln und Lerninhalten hin zu Arbeitssituationen und typischen Tätigkeiten.

Situationsorientierung statt Leistungszielorientierung, HSLU/EHB/PHSG/PHZH

Dabei muss eine Verbindung hergestellt werden zwischen dem durch die Lernmedien vermittelten Grundlagenwissen und Handlungsabläufen, die in sogenannten «Handlungsbausteinen» bereitgestellt werden oder wie sie die Lernenden aus ihrer Praxis berichten. Erst die Kombination von Wissen und Handeln erzeugt die situationsbedingte Handlungskompetenz (Krapp & Weidenmann 2006), auf die die Reform abzielt. Dieser Perspektivenwechsel und die Notwendigkeit, sich mit der Berufspraxis der Lernenden intensiver auseinanderzusetzen, wird von vielen als eigentlicher Kulturwandel erlebt, der Haltungsfragen berührt und deshalb Schulen und Lehrpersonen noch einige Zeit beschäftigen wird.

Über den nächstjährigen Schulstart hinaus dürfte es auch dauern, bis sich die interdisziplinären Lehrerteams etabliert haben. Das gemeinsame Entwickeln interdisziplinärer Lernarrangements verlangt den Blick über den Tellerrand hinaus. Es muss eine gemeinsame Sprache und ein Konsens zu den Qualitäts- und Bewertungskriterien gefunden werden. Manche Schulen gehen bei diesem Schritt noch weiter und suchen schulübergreifende Lösungen.

Nicht zuletzt ist es für alle anspruchsvoll, durch den Schritt von der disziplinären Fachdidaktik zur interdisziplinären Kompetenzorientierung sich selbst und den Lernenden einen Überblick über die Lerninhalte zu verschaffen.

Grossprojekte, Unsicherheiten und Umsetzungshilfen

Es liegt in der Natur komplexer Grossprojekte, dass mit ihrer Umsetzung begonnen wird, bevor alle Details geklärt werden können. Mit dieser Herausforderung waren alle Involvierten und somit auch wir in den vergangenen Monaten konfrontiert. Je mehr nun auf allen Ebenen Schritt für Schritt Unsicherheiten ausgeräumt, Prozesse geklärt, Zuständigkeiten definiert und Inhalte erstellt werden, umso mehr nimmt die Bereitschaft zu, als Lehrperson die Reform mitzutragen. Nach wie vor tauchen immer wieder Bedürfnisse nach Umsetzungshilfen auf, auf die das Projekt noch keine genügenden Antworten bietet: Wie begleite ich die Portfolioarbeit der Lernenden, wenn die Erteilung von Zugriffsberechtigungen dafür bei den Lernenden liegt? Wie bewerte ich Portfolioarbeit? Wie sieht in diesem Zusammenhang die Rolle des Lerncoachs aus? Wie komme ich als IKA-Lehrperson zu dem Wissen, das ich im Handlungskompetenzbereich E vermitteln soll? Fehlt mir da noch Fachwissen? Etc.

Schulentwicklungsprozess und ergänzende Angebote

Die Reform ist weder mit der Lehrerweiterbildung noch mit dem Schulstart 2022 bzw. 2023 abgeschlossen. Es ist absehbar, dass eine so fundamentale Reform einen mehrjährig geführten Schulentwicklungsprozess benötigt, der die Zusammenarbeit aller Akteure erfordert. Die PHZH hat das Privileg, bei allen betroffenen Schulen Einblick zu erhalten, die Bedürfnisse zu erfassen und zeitnahe, ergänzende Angebote zu machen, die es den Schulen ermöglicht, in ihrem Entwicklungsprozess weiterzukommen.

Konkret werden wir aufgrund unserer vielen Gespräche Angebote im Bereich des KV-Handlungskompetenzbereiches E, zur Portfoliobegleitung sowie eventuell zum Wahlpflichtbereich der zweiten Fremdsprache im KV offerieren.

INFOBOX

Das ergänzende Angebot der PH Zürich wird ab dem Herbstsemester verfügbar sein. Eine Infoveranstaltung dazu, in der wir unsere Angebote näher vorstellen, findet online am 20. Juni 2022 um 19.30 Uhr statt.

Allen, die sich unabhängig von der Reform für das Thema Handlungskompetenzorientierung interessieren, können wir folgendes Angebot empfehlen: Handlungskompetenzorientierung auf den Punkt gebracht, 4. November 2022, 13.30–17 Uhr, PH Zürich.

Zum Autor

Rene_Schneebeli_sw

René Schneebeli arbeitet im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung an der PH Zürich. Er ist Dozent und Leiter des Projekts Reform Detailhandel und KV.

KV Reform – Eine Reise beginnt

Beitrag von René Schneebeli, ein Interview mit Philippe Elsener

Die kaufmännischen Grundbildungen und die Grundbildung der Berufe des Detailhandels werden totalrevidiert. Im Kern geht es bei der Revision um die Umstellung auf einen handlungskompetenzorientierten Unterricht an allen Lernorten. Damit wird sichergestellt, dass Lernende auf die zukünftigen Herausforderungen der Arbeitswelt vorbereitet sind.

Die Rahmenbedingungen für die Reform im Detailhandel und im KV stehen. Die Bildungsverordnungen und die Bildungspläne sind verabschiedet und der Zeitplan für die Umsetzung ist festgelegt. Nun geht es an die Umsetzung.

Die Reform betrifft alle Lernorte. An den Schulen wird sie im Rahmen eines Schulentwicklungsprozesses realisiert. Ein Teil davon ist die Weiterbildung der Lehrpersonen. Hier übernehmen jene Hochschulen eine aktive Rolle, die in der Aus- und Weiterbildung der Berufsfachschulen engagiert sind. Basierend auf dem auf der digitalen Lern- und Arbeitsumgebung Konvink bereit gestellten und von den Lehrpersonen selbst erarbeiteten Wissen, führen die Hochschulen Präsenzveranstaltungen durch, die dem Transfer des Gelernten dienen.

Quelle: Tages Anzeiger

Die PH Zürich durfte das Berufsbildungszentrum Freiamt Lenzburg bei diesem Vorhaben unterstützen. Der Rektor Philippe Elsener nimmt in einem Interview mit René Schneebeli, Leiter Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich, Stellung, wie er die Reform konkret erlebt. 

Keine Reform, sondern eine Revolution

René Schneebeli (RS): Welches war Ihre erste Reaktion, als Sie von der Reform erfahren haben? Wie war das für Ihre Lehrpersonen?

Philippe Elsener (PE): Unerwartet kam die Reform ja nicht. Und dass eine Reform Chance und Risiko zugleich sein kann, ist hinlänglich bekannt. Überrascht war ich, dass uns Schulen nicht eine Reform, sondern eine Revolution erwartet. Entsprechend gespannt war ich, wo die Reise hingehen würde und was gepackt werden muss. Leer geschluckt habe ich, dass es in z. T. unbekannte Gewässer (Auflösung der Fächerstruktur) geht und zusätzliche Ausrüstung (Erwerb weiterer Kompetenzen) organisiert werden muss. 

Die Lehrpersonen wussten früh, dass eine grössere Geschichte auf sie zukommen würde. Die Reaktionen waren ambivalent: vorsichtige Neugier auf der einen, konstruktive Skepsis auf der anderen Seite.

RS: Wo sehen Sie, wo Ihre Lehrpersonen die Chancen und Herausforderung der Reform? 

PE: An unserer kürzlichen Weiterbildung zur Reform lautete ein Auftrag, auf einem Reflexionsspaziergang zu diskutieren, welches die grössten Chancen und Risiken der Reform sind und wie man diesen begegnen könnte. Als Chance genannt wurde z. B., dass der Unterricht sowohl für die Lernenden als auch für die Lehrpersonen abwechslungsreicher, adressatengerechter und praxisbezogener werden könnte, aber auch die intensivere Zusammenarbeit mit den Kolleg:innen. Als Risiken aufgeführt wurden u. a. die zu erwartende höhere Arbeitsbelastung durch den organisatorischen Mehraufwand und die mangelnde Praxiserfahrung der Lehrpersonen, die ja meist in einem akademischen Umfeld ausgebildet wurden.

Organisatorischer Aufwand und Ressourcenintensivität

RS: Können Sie die Reaktionen zu der Frage nach den Risiken noch etwas genauer umschreiben?

PE: Befürchtet wird der organisatorische Mehraufwand, der sich durch den Initialaufwand und vor allem durch die Zusammenarbeit im Team für die Lehrpersonen ergeben wird. Wie bringen wir Teamarbeit und Unterricht bei gleichbleibenden Ressourcen unter einen Hut? Zudem stellt sich die Frage wie ressourcenintensiv der Übergang zwischen dem alten und dem neuen System sein wird.  Wir von der Schulleitung stehen deshalb – so weit als möglich – für eine etappierte Form des Übergangs ein.

Auch sehen wir einige Herausforderungen bei der Lernortskooperation. Gut möglich, dass die Betriebe sich bei der Lehrstellenbesetzung – wie bei der letzten Reform – wegen den vielen Unsicherheiten noch zurückhalten.

RS: Wie sind Sie die ersten Schritte der Reform an Ihrer Schule angegangen? Was musste zuerst passieren? 

PE: Die Lehrpersonen haben wir zum ersten Mal im November 2018 informiert. Sobald einzelne Schritte der Reform gesichert waren, haben wir wieder informiert. Vermeiden wollten wir Spekulationen, um Unsicherheiten und Ängste nicht zu schüren. Im März 2021, als die Reform an Konturschärfe gewonnen hatte, starteten wir offiziell mit den Lehrpersonen ins Projekt.  

RS: Für welche Teile des Schulentwicklungsprozesses haben Sie externe Unterstützungsangebote beigezogen?

PE: Uns war wichtig zu klären, was die Fokussierung auf die Handlungskompetenzorientierung grundsätzlich bedeutet und wie sich dies auf die Unterrichtsgestaltung auswirken könnte. Dafür haben wir mit der PHZH sowie in der Person von Ursula Schwager eine ideale Partnerin gefunden, die mit uns für diesen Zweck ein massgeschneidertes Programm ausgearbeitet und umgesetzt hat. Die Rückmeldungen der Lehrpersonen waren äusserst positiv.

Schulübergreifende Zusammenarbeit

RS: Wie geht es nun weiter? Wie sieht der weitere Fahrplan aus?

PE: Sehr positiv ist, dass wir innerhalb des Kantons Aargau sehr gut zusammenarbeiten und schon vieles gemeinsam aufgegleist haben. Diese Zusammenarbeit stellt einen enormen Mehrwert dar. Da die Berufsfachschulen im Aargau nicht wie anderswo kantonalisiert sind, haben die Schulen die Initiative ergriffen und stehen für eine schulübergreifende Zusammenarbeit ein. Dank der Kooperation in der Arbeitsgruppe der Rektor:innnen und Projektleiter:innen der Schulen sowie der kantonalen Abteilung Berufsbildung wird es möglich sein, bis im Sommer 2022 die Umsetzung der Lernziele und Lernfelder gemeinsam zu konkretisieren. Darüber hinaus hilft uns der überkantonale Austausch mit anderen Schulen, unser eigenes Vorgehen zu reflektieren. 

In Bezug auf unsere Schule werden wir auch in Zukunft für zentrale Themen externe Unterstützungsangebote nutzen. Zum einen könnten dies die offiziellen Angebote sein, zum anderen aber auch weiterhin massgeschneiderte, wie z. B. die Frage, wie wir BYOD und digitale Hilfsmittel ideal mit dem HKO-Unterricht verbinden können. Das Ziel ist, dass unsere Lehrpersonen im Frühjahr 2023 bestens vorbereitet sind, die Reform kompetent und motiviert umzusetzen.

Eher Kulturentwicklung als Kulturwandel

RS: Wann schätzen Sie wird der Kulturwandel an ihrer Schule abgeschlossen sein?  

PE: An unserer Schule ist die Persönlichkeitsbildung schon lange ein fundamentaler Pfeiler, weshalb wir auf die 21st-Century-Skills immer ein besonderes Augenmerk gelegt haben. Deshalb ist das, was auf uns zukommt, nicht unbedingt ein Kulturwandel, sondern eher eine Kulturentwicklung. Das Optimieren von Teamteaching, Blended Learning oder SOL wird sicher ein längerer Prozess sein.

Gerade SOL wird uns noch länger beschäftigen. Wir rechnen mit einem iterierenden Prozess von fünf bis sechs Jahren für die Etablierung inklusive Anpassungen. Und die nächste Reform kommt – mit kürzer Halbwertszeit – bestimmt….  

Offen sein für Change

RS: Was würden Sie anderen Schulleitungen und Lehrpersonen mitgeben, die noch am Anfang der Umsetzung stehen?

PE: Ratschläge sind auch Schläge. Ich bin überzeugt, dass mittlerweile jede Schule eine für sie passende Strategie entwickelt hat. Für alle wichtig erachte ich das Fokussieren auf die Chancen, ohne die Risiken zu negieren. Wie bei jedem Change-Prozess ist auch bei der Reform 2023 das Mindset zentral.

INFOBOX

Abgestimmt auf die nationalen Reformprojekte hat die PHZH im Auftrag des Mittelschul- und Berufsbildungsamt des Kantons Zürich (MBA) eine Vorstudie erstellt, die die Akteure bei der Erstellung der Projektstruktur als auch bei der Umsetzung der Reform unterstützen soll. Die Umsetzung löst weiteren schulinternen Weiterbildungsbedarf aus, den die PHZH massgeschneidert und schulspezifisch anbietet. Darüber hinaus werden wir demnächst ein kursorisches und themenspezifisches Begleitprogramm bereit stellen, das Themen aufnimmt, die im Rahmen der Reform zusätzlich nachgefragt werden.

Weitere Informationen zur Reform Detailhandel und KV finden Sie hier.

Zum Autor

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Führen von Expertinnen und Experten – eine komplexe Aufgabe

Beitrag von Geri Thomann

Führungsaufgaben in Expertinnen- und Expertenorganisationen gelten allgemein als anspruchsvolle Tätigkeit. Mintzberg (1979) bezeichnet die Bedingungen und Funktionsweisen von Expertinnen- und Expertenorganisationen in ihrer schöpferischen Aufgabe als «Profi-Bürokratie». In Abgrenzung zur «Maschinen-Bürokratie» ist die «Profi-Bürokratie» gekennzeichnet durch die grosse Anzahl an Mitarbeitenden, die fachlich hoch qualifiziert sind und eine erhebliche Kontrolle über die eigene Arbeit haben.

In der Summe werden dabei jedoch häufig ambivalente und teilweise paradoxe organisationale Bedingungen für Expertenorganisationen sichtbar (Thomann & Zellweger, 2016, S. 49).

  • Expertinnen- und Expertenorganisationen zeichnen sich durch Mitarbeitende aus, die hoch qualifizierte Spezialistinnen und Spezialisten sind und in ihrem Fachbereich möglichst autonom arbeiten wollen und können. Sie verfügen folglich über eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit und ein nicht zu unterschätzendes Beharrungsvermögen. Nur mit überzeugenden Argumenten lassen sie sich in eine bestimmte Richtung bewegen. Widerstand gegen Entscheidungen von aussen ist Programm, flache Hierarchien und Konzepte des Intrapreneurships führen zu Konkurrenz, zu Machtkämpfen und zu Deregulierung – und dadurch wieder zu übergeordnetem Regulierungsbedarf.
  • Expertinnen- und Expertenorganisationen kennzeichnet, dass Expertinnen und Experten sich eher ihrer jeweiligen Berufsgruppe gegenüber verpflichtet sehen als der organisatorischen Einheit, oder der Gesamtorganisation zu der sie gehören. Karriere und Laufbahnen werden mehrheitlich in der Logik der Profession und damit weniger abhängig von der Organisation definiert. Dies schafft eine Ambivalenz zwischen inhaltlicher Profilierung in der Fachcommunity und dem organisationalen Commitment. Eine Paradoxie besteht darin, dass gerade die Reputation der einzelnen Expert:innen zentral ist für die Reputation der Gesamtorganisation (Laske et al. 2006, S. 207).
  • Inhaltliche Fachexpertise verfügt zudem traditionsgemäss über einen höheren Status als Führungs- (oder Management-)Expertise, sie repräsentiert sozusagen das «Kapital der Organisation». Führungsentscheidungen werden bei Expert:innen deshalb ambivalent bis skeptisch wahrgenommen; es ist zudem eine grundsätzliche Hierarchieaversion zu konstatieren.
  • Partizipation an Entscheidungen gehört zur organisationalen Kultur in Expertinnen- und Expertenorganisationen – gleichzeitig ist nicht selten latent eine subtile fachliche Konkurrenz allgegenwärtig.
  • In Expertinnen- und Expertenorganisationen stehen inhaltlich orientierte Aufgaben in Spannung zu Verwaltung und Management. Beide Kulturen benötigen unterschiedliche (Führungs-)Konzepte. Eine solche Spannung ist nicht einfach auflösbar, kann aber durchaus produktiv genutzt werden.
  • Zudem lassen die Anforderungen an eine zunehmende Spezialisierung auf Seiten der Expert:innen oft Organisationsstrukturen entstehen, welche nach fachlichen Profilen aufgebaut sind. Dies führt wiederum zu einem wachsenden Integrationsbedarf auf der Ebene Gesamtorganisation. Die notwendige Verknüpfung von hoch autonomen Einheiten ist anspruchsvoll.
  • Einerseits sollen sich gerade staatliche Expertinnen- und Expertenorganisationen zunehmend kostenbewusst oder sogar unternehmerisch verhalten. Andererseits kann das Spannungsfeld zwischen den Steuerungsebenen (staatliche Geldgeber, strategische Führung und operative Führung) eine Paradoxie erzeugen: Die Forderung nach unternehmerischem Handeln wird andauernd durch bürokratische Vorgaben unterlaufen.

Führungshandeln als «Covert Leadership»

Für die Leitung von Expertinnen- und Expertenorganisationen benötigen Führungspersonen nach Mintzberg (1998, S. 140-147) spezifische Fähigkeiten, welche unter dem Begriff «Covert Leadership» zusammenfasst werden. Mit Covert Leadership ist ein Verständnis von Führung gemeint, welches im konkreten Prozess der Zusammenarbeit auf der Basis von Vertrauen, Beziehungsorientierung und Respekt «aus dem Hintergrund» Einfluss nimmt.

In den letzten Jahren zeigt sich in Expertinnen- und Expertenorganisationen – gerade an Hochschulen – ein neues Führungsverständnis, welches auf dem Covert Leadership Gedanken aufbaut. Als Beispiel sei hier die laterale Führung genannt (Thomann & Zellweger 2016 oder Zellweger & Thomann 2018). Dieses Modell beruht auf flacheren und flexibleren Strukturen und der Zunahme von «Hybrid Professionals» (Kels & Kaudela-Baum 2019, S. 21), welche ihre Expertise «quer», transdisziplinär und projektbezogen aufbauen. Mit anderen Worten: Lateral Führende verfügen über keine formalen Weisungsbefugnisse, über keine disziplinarischen oder andere direkten Sanktionsmöglichkeiten. Die Geführten sind nicht zwingend aus derselben Organisationseinheit und bewegen sich oft auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen.

Führung und Expertise – ein Spannungsfeld

Das Spannungsfeld zwischen Führung und Expertise kann nicht aufgelöst werden, es kann lediglich ein für die Institution und seine Ziele förderlicher Umgang gefunden werden. Für die Führungspersonen – aber auch für die Expert:innen – können sich dabei unter anderem folgende Fragen stellen:

  • Inwiefern müssen Führungskräfte zu ihrer Legitimation über einen so genannten Berufsfeldbezug verfügen? Wie führt man Expert:innen ohne eigene Expertise im selben Fachbereich?
  • Wie wird Führungsexpertise im Vergleich zu inhaltlicher Expertise oder fachlicher Erfahrung gewichtet und bewertet, wie ist der Status von Führung in Expertenorganisationen? Wieviel inhaltliche Erfahrung oder aktuelles Fachwissen brauchen Führungskräfte, um führen zu können?
  • Inwieweit können Führungskompetenzen Fachkompetenzen ersetzt oder kompensiert werden? Wie steht es mit der Führungskompetenz als Expertise?
  • Inwieweit stimmt die Hypothese der (latenten) Konkurrenz zwischen Führungspersonen und Expert:innen? Was bedeutet das für das Führungshandeln?
  • Wie ist die Sicht der Geführten «im Sandwich» zwischen Fachexpertise und Management? Handelt es sich dabei eher um ein Spanungsfeld?
  • Wie lässt sich autonomes Handeln von Expert:innen steuern? Wie reagieren Expert:innen darauf?
  • Wie reagieren Expertinnen- und Expertenorganisationen und ihre Führungskräfte auf Krisen, wie bewältigen sie diese?
Die drei Gastgebenden des diesjährigen Kaminfeuergesprächs «Führungskräfte als Schlüsselpersonen für organisationale Resilienz» auf Schloss Au: Geri Thomann, Wiltrud Weidinger und Sylvia Kaap-Fröhlich.

Mit solchen Fragen beschäftigen sich Expert:innen aus Bildung und Gesundheit seit 2017 an den so genannten Kaminfeuergesprächen für Führungskräfte auf Schloss Au – veranstaltet von der PH Zürich in Zusammenarbeit mit dem Careum Bildungsmanagement.

INFOBOX

Die fünfte Durchführung des Kaminfeuergesprächs der PH Zürich mit dem Titel «Führungskräfte als Schlüsselpersonen für organisationale Resilienz» findet am 9. Dezember 2021 von 15.30-20.30 Uhr auf Schloss Au in Wädenswil statt.

Integriert findet dabei die Vernissage des Band 11 der Buchreihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung, «Zwischen Expertise und Führung», statt.

Zum Autor

Geri Thomann ist Leiter der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Als Inhaber einer ZFH-Professur forscht und publiziert er regelmässig über Aspekte der Hochschulentwicklung und Führungsfragen.

Asynchrone und synchrone Lehre – ein unzertrennliches Duo in der digitalen Lehre?

Beitrag von Bianca Morath und Ulrike Hanke

Auch wenn aktuell Lockerungen für die Lehre an Hochschulen beschlossen wurden, geht die digitale Lehre weiter und was der Herbst bringt, wissen wir nicht sicher. Was aber sicher ist: Wie auch immer das Herbstsemester starten wird, es wird keines wie das Herbstsemester 2019 oder das Frühlingssemester 2020. Studierende wie Dozierende haben jetzt fast drei Semester andere Erfahrungen gemacht, die Vor- und Nachteile der Online-Lehre kennengelernt und dadurch auch die Vor- und Nachteile der klassischen Präsenzlehre reflektiert. Ein Zurück wird es also nicht geben. Aber wie könnte denn eine gute Lehrveranstaltung nach Corona aussehen?

Grundsätzlich stehen uns asynchrone und synchrone Lehrformate zur Verfügung. Bei den asynchronen Lehrphasen handelt es sich um Phasen des Selbststudiums, die meist über die Learningmanagement-Systeme (LMS) / Lernplattformen (z.B. ILIAS, Moodle, OLAT etc.) der Hochschulen umgesetzt werden. Die synchronen Lehrphasen sind die Phasen der Lehre, während derer sich Lehrende und Studierende gleichzeitig an einem virtuellen oder physischen Ort zusammenfinden.

Welche Lehrform ist die bessere oder wie kombinieren wir sie geschickt? Lassen wir dazu zunächst eine Studentin zu Wort kommen.

Der Blick einer Studentin auf die digitale Lehre

Bianca Morath studiert im Bachelor Bildungswissenschaft an der Universität Freiburg im Breisgau mittlerweile im sechsten Semester:

„Seit drei Semestern studiere ich nun im Home-Office. In diesen drei Semestern habe ich sehr viele spannende und lehrreiche, aber auch einige recht monotone Lehrveranstaltungen besucht. Viele Dozierende übertrugen ihr Lehrkonzept aus der Präsenzlehre 1:1 in die digitale Lehre. Lehrveranstaltungen mit diesem Konzept verliefen ausschliesslich über die synchrone Phase, also über ein Videokonferenztool. Die Lehrveranstaltung bestand aus eineinhalb Stunden Input von der Lehrperson. Die Folge war, dass wir Studierenden völlig überflutet wurden mit einer Welle an neuen Informationen. Nach diesen eineinhalb Stunden fühlte ich mich meist schlapp. Und so erging es nicht nur mir, sondern auch meinen Kommilitonen und Kommilitoninnen. Unsere Motivation schwand von Woche zu Woche, da wir wussten, dass uns die gleichen monotonen eineinhalb Stunden am Computer erwarten würden. Kaum Interaktion, lediglich Input: Das war das Konzept einiger Dozierender. Da wir wussten, dass wir kaum in die Lehrveranstaltung miteingebunden werden, wurde der virtuelle Raum meist zu einer dunklen Wand, d.h. wir haben unserer Kameras ausgeschaltet oder gar nicht erst eingeschaltet und uns parallel zur Veranstaltung sogar teilweise anderweitig beschäftigt. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, von dieser Art Lehrveranstaltung habe ich am wenigsten mitgenommen. Meist war ich einfach froh, wenn die eineinhalb Stunden Input vorbei waren.

Aber es gab nicht nur monotone Lehrveranstaltungen in den letzten drei Semestern. Einige Lehrkonzepte waren wirklich kreativ und spannend gestaltet. Das Konzept dieser Lehrveranstaltungen bestand meist aus einer Kombination aus asynchronen und synchronen Lehrphasen.

Die asynchronen Phasen waren verschieden aufbereitet. Meist haben die Dozierenden uns kurze Lehrvideos hochgeladen, aber auch Texte, Skripte, Podcasts und andere Aufgaben wurden uns auf dem hochschulinternen Learningmanagement-System (LMS) zur Verfügung gestellt. So hatten wir die Möglichkeit, die Aufgaben zeitlich flexibel zu bearbeiten.

Durch verbindliche Abgaben haben unsere Dozierenden sichergestellt, dass wir vorbereitet in die synchronen Lehrphasen kamen. Kleinere Aufgaben zu den präsentierten Inhalten ermöglichten uns eine tiefere Auseinandersetzung mit den Lehrinhalten. Durch Quizfragen, kurze Essays oder andere Aufgabenarten wurde unser Lernen in der asynchronen Phase gefördert. Ein weiterer Vorteil war, dass wir beliebig oft die Lehrvideos anschauen konnten, da sie auf dem LMS frei verfügbar waren.

Da ein Teil des Lehrinhaltes in die asynchrone Phase verlagert wurde, konnten unsere Dozierenden in der synchronen Phase dann den vorbereiteten Inhalt und mögliche Fragen mit uns besprechen und vertiefenden Input geben. Dadurch wurden die synchronen Treffen automatisch interaktiver – aus meiner Sicht der Schlüssel, damit die Lernenden aufmerksam und motiviert bleiben.

Aus diesem Grund ist eine Kombination aus synchronen und asynchronen Lehrphasen die ideale Lehrform. Auch nach Corona erhoffe ich mir, dass wir nicht vollständig in die reine Präsenzlehre mit 90 min. Vortrag zurückkehren, sondern die Interaktivität auch in der Präsenzlehre mehr in den Vordergrund gestellt wird.

Warum die Kombination das Beste ist

Warum schätzt Bianca Morath die Kombination aus synchronen und asynchronen Phasen so positiv ein?

Ein kurzer Blick auf die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1993 u.a.) kann dies verdeutlichen: Die Theorie beschreibt, welche drei menschlichen Bedürfnisse befriedigt sein müssen, damit Menschen motiviert sind: das Bedürfnis nach Autonomie, nach Kompetenzerleben und nach sozialer Eingebundenheit (siehe Abb. 1). Diese drei Bedürfnisse werden in Lehrveranstaltungen vor allem dann gut befriedigt, wenn asynchrone und synchrone Lehrphasen kombiniert werden.

Asynchrone Lehrphasen gewähren den Studierenden Autonomie; sie können frei entscheiden, wann sie welche Aufgabe bearbeiten und welches Video oder welchen Text sie wie intensiv bearbeiten. So viel Autonomie ist weder in der virtuellen Präsenzlehre noch in der Präsenzlehre möglich. Durch das selbstständige Bearbeiten von Aufgaben in der asynchronen Phase können sich Studierende ausserdem als kompetent erleben. Werden die Aufgabenlösungen dann in der synchronen Phase besprochen, so dass die Studierenden ein Feedback erhalten, so wird dieses verstärkt.

Gleichzeitig erfüllen die synchronen Lehrphasen das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit, welches in asynchronen Lehrphasen schwerer zu befriedigen ist.

Selbstbestimmungstheorie nach Deci & Ryan, 1993

Fazit

Es zeigt sich also: Mit einer Kombination aus synchronen und asynchronen Lehrphasen holen wir als Dozierende das Beste aus beiden Welten. So lange wir rein online lehren müssen, nutzen wir Videokonferenztools für die synchronen Lehrphasen. Wenn wir wieder in Präsenz unterrichten dürfen, halten wir sie in Präsenz ab. Die asynchronen Phasen sollten wir aber definitiv in die Präsenzwelt übernehmen.

INFOBOX

Das Best-Practice aus dem Distanzmodus fliesst in den CAS Hochschuldidaktik ein, der zwei Mal jährlich startet.

Zu den Autorinnen

Ulrike Hanke ist Dozentin und Beraterin für Hochschuldidaktik und als Studiengangsleiterin im CAS Hochschuldidaktik Sommerstart für das ZHE tätig. Weitere Informationen zu Ulrike Hankes Tätigkeit finden Sie hier: www.hanke-teachertraining.de

 

Bianca Morath studiert Bildungswissenschaft an der Universität Freiburg im Breisgau und ist seit fast zwei Jahren studentische Mitarbeiterin im Bereich Hochschuldidaktik bei Ulrike Hanke – Hanke-Teachertraining.

Vom Hellraumprojektor zum Streaming im Unterricht

Beitrag von Arlette Haase

Digitalisierung, Digitalität, digitale Transformation – Schlagwörter, die uns seit Jahren begleiten, manche mehr, manche weniger, aber sie betreffen praktisch jeden. Die zunehmende Digitalisierung ist auch im Bildungsbereich, besonders seit Beginn der Pandemie, sehr stark spürbar. Während ich zu Beginn meiner Laufbahn als Lehrperson (und ich zähle mich zur jüngeren Generation) nur einen Hellraumprojektor und einen Fernseher mit Videorekorder zur Verfügung hatte, sassen am Ende meiner Tätigkeit als Berufsschullehrerin und zu Beginn meiner Funktion als Dozentin an der PHZH die Lernenden mit dem eigenen Notebook im Unterricht, WLAN überall im Schulhaus war selbstverständlich und Filme wurden gestreamt. Die Lehrbücher waren nur noch digital verfügbar, die Arbeitsblätter auf Moodle abgelegt, die Dateien der Lernenden wurden auf Onedrive gespeichert. Während die meisten Lehrpersonen noch für einen Unterricht ohne digitale Medien ausgebildet wurden, findet sich heute praktisch kein Klassenzimmer mehr ohne Smartphones und Notebooks. Jugendliche verfügen meistens über mehrere digitale Geräte, so dass sich durch die Veränderung hin zu einem «one to many» zusätzliche Chancen und Herausforderungen für Lehrpersonen und den Unterricht ergeben.

Eine weit verbreitete Annahme besteht darin, dass Unterricht mit digitalen Medien vor allem darin besteht, dass statt auf Papier nun im Word geschrieben wird und bewährte Unterrichtsmethoden durch digitale Tools ersetzt werden. Arbeitsblätter werden den Lernenden digital zur Verfügung gestellt, die diese dann in ihrem virtuellen Ordner speichern. Doch solche Szenarien greifen zu kurz und schöpfen die Möglichkeiten bei weitem nicht aus. Es geht nicht darum, eine vielfach bewährte Methode im Unterricht einfach durch ein digitales Tool zu ersetzen, statt der Wandtafel nehmen wir jetzt halt die digitale Pinnwand oder ein Arbeitsblatt stellen wir nun als pdf anstatt als ausgedruckte Kopie zur Verfügung. Vielmehr geht es darum herauszufinden, welche neuen Möglichkeiten sich durch die digitalen Medien für unseren Unterricht ergeben. Wie lassen sich Lernziele mit digitalen Medien effizienter, aber vor allem auch effektiver erreichen? Wie können wir beispielsweise die unendliche Informationsflut und -vielfalt des Internets kritisch und gewinnbringend nutzen? Welche Rolle spielen Social Media beim Lernen und wie können soziale Netzwerke genutzt werden, um ein persönliches Lernnetzwerk zu bilden? Wie gestalten wir die Zusammenarbeit im digitalen Raum? Wie können Gamification-Elemente spielerisch in unseren Unterricht einfliessen? Wie verändern sich unsere Unterrichtsziele und unsere Rolle als Lehrperson, wenn Lernende ihre Informationen auch aus dem Internet holen können? Und welche Kompetenzen benötigen unsere Lernenden und wir als Lehrpersonen, damit uns dies gelingt?

Der neue CAS Lehren und Lernen digital der PH Zürich für Lehrpersonen der Sekundarstufe II möchte hier eine Brücke schlagen und aufzeigen, welche neuen Möglichkeiten digitale Medien im Unterricht bieten können. Die Bandbreite der Themen reicht dabei von E-Didaktik für den Präsenzunterricht wie auch für Blended-Learning-Szenarien über digitales Prüfen bis hin zu Wikipedia und Social Media sowie Games / Gamification im Unterricht. Aber auch Themen wie digitale Kompetenzen und Kultur der Digitalität finden im neuen CAS Platz. Die Teilnehmenden, sowohl Berufsschul – als auch Gymnasiallehrpersonen, stellen sich aus einem breiten Modulangebot ein Weiterbildungsprogramm zusammen, das auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Das bereits bestehende Modul «Pädagogischer ICT-Support light für Berufsfachschulen» (PICTS light BFS) wird in den neuen CAS integriert und richtet sich insbesondere an Lehrpersonen, die eine Themenführerschaft an ihrer Schule übernehmen möchten. Weitere Informationen zum neuen CAS Lehren und Lernen digital sowie das Anmeldeformular werden im Frühling 2021 auf der Homepage des Zentrums für Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich aufgeschaltet.

INFOBOX

Der Lehrgang «CAS Lehren und Lernen digital» startet im August 2021. Jedes Modul kann auch einzeln gebucht werden. Am 22. April 2021 findet ein Informationsanlass dazu statt.

Zur Autorin

Arlette Haase ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Themenbereich «Digitales Lernen» des Zentrums Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich.

Kann in dem Sprachen-Mischmasch noch was gelernt werden? Sprachen, Vielfalten und chancengerechte Sprachförderung

Beitrag von Tamara De Vito und Monique Honegger

Wie zeigt sich Vielfalt von Sprachen im Lernalltag? Wie lässt sich der Umgang mit Mehrsprachigkeiten im Berufs- und Schulalltag ändern? In diesem Beitrag reflektieren die Autorinnen mit Fragen an Lehrende und Lernende, wie sich der Blick auf Mehrsprachigkeiten im Berufs- und Schulalltag ändern lässt.

Menschen sprechen, denken und lernen in vielen Stimmen

Ist Ihnen schon aufgefallen, dass in Englisch gesprochenen Filmen die Stimmen der Schauspielerinnen und Schauspieler oftmals tiefer klingen als in den auf Deutsch synchronisierten Varianten? Sogar wenn die synchronisierte Stimme dieselbe ist wie etwa in «Inglorious Bastards», d.h. wenn ein und dieselbe Person spricht, Christoph Walz.

So verblüfft auch, wie zwei- und mehrsprachig aufgewachsene Menschen von der einen Sprache in die andere wechseln: Nicht nur verändert sich die Stimmlage, ebenso Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke, Vokabular, Ironie, Humor sowie Mimik und Gestik oder Körpernähe zum Gegenüber variieren mitunter stark. Was wechselt, hängt ab davon, welche Sprache gerade gesprochen wird. Auch lässt sich dieser «Wechsel» an den Inhalten beobachten: Während einige Themenbereiche in der einen Sprache eine zentrale Rolle spielen, tun sie es in der anderen aber kaum. Gewisse Gemüsesorten kennt eine Studentin nur von zuhause auf Kurdisch, nur auf Spanisch weiss sie, was an Begräbnissen gesagt werden muss. Auf Deutsch wüsste die Studentin dafür einiges über die Bronzezeit zu berichten, denn dies hat sie hier in der Schule gelernt.

Bilden und Lernen in vielen Sprachen

Sprechen wir in Schulen und Hochschulen von Fremdsprachigen oder Anderssprachigen, oder politisch korrekter, von Zwei- bzw. Mehrsprachigen, bezeichnen wir damit Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig (genug) sind. Es sind also Menschen, denen die deutsche Sprache «fremd» ist, bzw. eine «andere» als die deutsche Sprache zuerst oder gleichzeitig gelernt haben. Es ist komplex und unklar: Für die Zuordnung eines Gegenübers als mehrsprachig sind ausschlaggebend: das Ganze eines Menschen, inklusive sozio-ökonomische Hintergrund und Höhe des Salärs und die Sprachwirkung eines Menschen (vgl. Honegger, De Vito & Bach 2020). Müssen wir mit Mehrsprachigkeiten leben, den eigenen und derjenigen der anderen? Kann man lebenslänglich «fremdsprachig» bleiben? Ist ein C1-Nivau ein Ticket in die Liga der Deutscherstsprachlichen?

Der sprachliche Ausdruck wirkt also. Als Brücke und als Barriere. Die sprachliche Teilhabe entscheidet auch darüber, wie wir an einer Gesellschaft oder Gruppe teilnehmen. Der Auftrag der Bildung ist, diese Teilhabe für alle zu ermöglichen und zu fördern. (Enkulturation, Sturm 2020) Sprache ist hierbei zentral. Mitunter werden Sprachen auch als Schlüssel zu einer Gesellschaft bezeichnet. Wenn es nun viele Sprachen sind, die mitschwingen, wird es komplex.

Sprachen verwenden, Sprechen und Schreiben bedeutet, neben der bildungssprachlichen Performance (bei uns weitgehend in Hochdeutsch) aber auch die eigene Identität, die eigene Kultur, den eigenen Erfahrungsschatz zu zeigen – das ist immer ein individuelles Konglomerat von vielen Sprachen und Sprachformen – sowie in formellen Kontexten vom Gegenüber erkannt und dafür geschätzt zu werden. Diese Wechselwirkung formt wiederum die eigene mehrsprachige Identität. (NFP 56 «Sprachenvielfalt und Sprachenkompetenz in der Schweiz», (Allemann, et al. 2010, S. 7-16).

Drei Bremsen in den Köpfen der Lehrenden beim Jonglieren von Mehrsprachigkeiten

Wie integrieren wir Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eine für sie anderssprachige Welt, damit erfolgreiche schulische und berufliche Entwicklung möglich ist?

Im Bewusstsein der Lehrenden wirken drei Bremsen (vgl. Honegger, De Vito & Bach 2020)

Bremse 1: «Die Lokalsprache (Hochdeutsch/Deutsch) ist am wichtigsten.» Muss ein Mensch in Hochdeutsch gut performen können, um Bildungserfolg zu haben? Oder sitzen wir als Lehrende und Politiker einer nationalistisch verhafteten alten Idee auf? Warum sprechen wir von Deutsch als Zweitsprache und nicht von Sprachenvielfalt? Haben die Inhalte der schulischen Institutionen einen realen Bezug zur Berufs- und jeweiligen Lebenswelt?

Bremse 2: «Die Deutsche Sprache zerfällt, weil sie niemand mehr kann.» «Zuerst lernt man richtig Deutsch – und dann alles andere.» Diese simple Reihenfolge gibt es allerdings kaum (noch). Kulturen und Sprachen wandeln sich unentwegt. Empirische Untersuchungen zeigen etwas anderes: Ob es in vielen Sprachen oder in nur einer ist, wir werden hinsichtlich unserer sprachlichen Ausdruckskraft nicht schlechter, lediglich anders.

Bremse 3: «Sprachen zu können, ist eine Sache der Begabung.» «Es gibt Menschen, die schaffen es gut mit den Sprachen und andere schaffen es nicht. Das ist in den Genen.» Forschungsergebnisse zeigen, dass sich der subjektive Glaube an Sprachbegabung leider an den Schulen hält. Indem wir an Sprachbegabung glauben, zementieren wir die Wirkung des sozialen Hintergrunds. (Honegger, De Vito & Bach 2020). Die in der Bildungswelt stark vertretene «Mittelschicht» teilt untereinander vielfach ähnliche Vorstellungen, Ansichten und Werte. Diese werden in der Schule verlangt und bewertet.

Lebenswelten wirken mehr als Sprachbegabungen

Zwar kennt auch eine in der Deutschschweiz aufgewachsene junge Lernende oder Studentin nicht sämtliche Erfahrungshorizonte der «Deutschschweizer Kultur». Wenn sich Schulen darauf beziehen und den Unterricht darauf aufbauen, versteht eine solche Lernende bald, um welche Kulturen es sich handelt und kann entsprechend handeln. Bringen jedoch Lernende oder Studierende andere Erfahrungen mit sich unterscheidenden sozialen Regeln mit, entsteht ein Gap. Sie verstehen die neuen Kulturen nicht auf Anhieb, ihre eigenen Welten werden nicht erkannt und nützen kaum etwas. So schwingt beispielsweise in Aufnahmeprüfungen und Abschlussprüfungen der versteckte Bildungskanon mit, der stark auf diese kulturellen Kerne referiert. Er beeinflusst etwa Überlegungen von Lehrenden und Dozierenden zu Sprachförderung, zu Prüfungssettings sowie -fragen, die Beurteilung von Menschen, die Deutsch nicht von Anfang an oder nicht gut genug gelernt haben, weil sie in anderen Welten lebten oder gemischten Welten leben.

Die oben erwähnten drei Bremsen wirken auch heute noch, obschon vor mehr als zehn Jahren diverse Massnahmen, Strategien für den Sprachenunterricht in der obligatorischen Schule sowie Grundlagenblätter verabschiedet worden sind. Deren Inhalt und Ziel war die Kompetenzen der Muttersprachigen zu festigen. Ebenso wurden Massnahmen beschlossen zur Sprachförderung für ausländische und fremdsprachige Lernende sowie zum Fremdsprachenlernen. Hauptziele dieser nunmehr nicht mehr jungen Bestrebungen waren und sind:

  • das Sprachenlernen insgesamt verbessern (auch der ersten Sprache);
  • das Potenzial des frühen Sprachenlernens besser nutzen;
  • die Mehrsprachigkeit des Landes respektieren;
  • im europäischen Kontext konkurrenzfähig bleiben.

Auf der Sekundarstufe II werden vorab in der Berufsbildung Stützkurse angeboten, in denen Jugendliche ihre Sprach-, Lese- und Schreibkompetenzen verbessern können. Oft bleiben diese Angebote jedoch praktisch wirkungslos, da sie beispielsweise nicht mit dem Regelunterricht koordiniert werden. Auf Hochschulebene gibt es mittlerweile zahlreiche Sprachenzentren und Stellen, die diese Aufgabe übernehmen. (Grossenbacher & Vögeli-Mantovani, 2009)

Mit Blick auf die Praxis bleibt zu blianzieren, dass diese Strategien noch nicht wirkungsvoll umgesetzt worden sind.

Mit Fragen und Tipps zur Gerechtigkeit?

Durch andere Fragen kommen wir im Lernalltag in einen anderen Dialog. Die Kommunikation von Defiziten ist nicht lernförderlich. Folgende Fragen an Lernende und Studierende helfen und lösen Reflexion aus.

  • Können Sie sich vorstellen, dass Sie mehrere Erstsprachen haben?
  • Was können Sie in welcher Sprache gut ausdrücken?
  • Wie und worüber können Sie in welcher Sprache gut kommunizieren? (SMS/Telefon/formeller Brief/Kochrezepte/Wetter/Politik/Familie)
  • Was können Sie in der jeweiligen Sprache am besten?
  • Ihr «Mischmasch» in den Sprachen hilft Ihnen extrem. Um Sprachen weiter zu lernen und optimal zu kommunizieren müssen Sie nicht unbedingt perfektes Deutsch können. Wissen Sie das?

Didaktische Tipps

  • kulturelle Lebenswelten und Erfahrungswelten (in Beruf und Zuhause) der Lernenden und Studierenden wertschätzen, anderen Welten er- und anerkennen und thematisch im Unterricht integrieren
  • Mit Lernenden und Studierenden in Verbindung mit Ihrem Fach wiederkehrend Werte und Erfahrungen thematisieren
  • Werte-Irritationen (häufig Lachen oder Schweigen) oder «Regel-Irritationen» aufnehmen
  • Für Lernende und Studierende explizit benennen, welche Werte an Ihrer Hochschule/Schule gelten
  • Individuen eng begleiten, in ihrer Andersartigkeit. Sprachförderung und -lernen geschieht vorab über Beziehung, konkrete Kommunikation und «Stoff»

Bildungspolitische Tipps

  • Eingangs- und Ausgangstüren (Prüfungen) checken.
  • Mehrsprachigkeiten und der Umgang sind keine kleine vorübergehende «Krise». Es braucht eine Gesamtstrategie, welche die Zeit nach der obligatorischen Schulzeit miteinbezieht – also die Sekundarstufe II und die Hochschulen.
  • Professionalisierung der Lernsettings für Lehrende im Rahmen von Mehrsprachigkeiten, und zwar in allen Fächern.
  • Coaching, Mentoring als Weiterbildung- und Ausbildungsformen für Lehrende planen und finanzieren

Ungebremste effektive Sprachförderung von allen für alle?

Unabhängig vom Fach hilft es, wenn wir Lehrende – anstatt über mangelnde Sprachkompetenzen der Lernenden zu klagen – uns selbst fragen: Welches Verständnis von Kultur, Bildung, Sprache haben wir selbst? Ändert es sich?

«Eine unangenehme Erinnerung an meine Schulzeit ist, dass ich das Gefühlt hatte, in meiner Mehrsprachigkeit zu «schwimmen», von allem ein bisschen zu kennen, aber keine Sprache vertieft zu beherrschen»

Viele Sprachen in einem Menschen sind keine Bremsen, sie sind ein Schwimmring. Wir wissen es einfach noch nicht oder nicht immer.

INFOBOX 1

Der Lehrgang «CAS Sprachförderung in der Berufsbildung» richtet sich an Lehrpersonen verschiedener Fachrichtungen. Schwerpunkte sind u.a. szenariobasierter (DaZ)-Unterricht und bilingualer Fachunterricht (bili). Zentraler Inhalt ist, auf die sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten der Lernenden einzugehen.
INFOBOX 2

Eben erschienen ist dieser Band zu Mehrsprachigkeiten:
«Mit Vielfalt jonglieren – auf Sekundarstufe II und an Hochschulen»

Er zeigt und diskutiert mehrsprachige Praxen und Themen, Umgang mit Mehrsprachigkeiten.

Zu den Autorinnen

Tamara De Vito leitet den Themenbereich «Sprachen» im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich, sowie den CAS Sprachförderung in der Berufsbildung. Sie hat langjährige Unterrichtserfahrung an der Sekundarstufe II.

Monique Honegger ist Senior Teacher und ZFH-Professorin an der PH Zürich. Beratend, forschend, weiterbildend und bildend.


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