Wie komme ich ins Schreiben?

Text: Peter Holzwarth

Wie komme ich ins Schreiben? Muster und Strategien für das wissenschaftliche Arbeiten

Im Folgenden werden vier Denkfiguren bzw. Muster für den Theorieteil einer wissenschaftlichen Arbeit vorgestellt, die den Einstieg ins Schreiben erleichtern können. Am Ende folgen weitere allgemeine Strategien. Der Beitrag basiert auf der Einheit «Beratungsprinzipien und typische Beratungsanliegen» der Schreibberatungsausbildung für Tutor:innen des Schreibzentrums der Pädagogischen Hochschule Zürich (Meienberg & Holzwarth 2022 u. 2023). Ich danke den Tutor:innen für ihr Feedback.

Vier Kriterien zur Überprüfung der Forschungsfrage (Quelle: Lifelong Learning Blog: «Heidi» forschend betrachtet)

Vier Denkfiguren für den Theorieteil

1. Konzept A vorstellen, Konzept B vorstellen und die Entscheidung für Konzept B begründen

Zwei (oder mehrere) Konzepte bzw. Theorien werden vorgestellt und es wird begründet, warum man sich im Kontext der Arbeit und der Fragestellung wie entschieden hat. Ein Beispiel zum Thema Umgang mit Medien: Eine Position propagiert Verbot und Einschränkung von Bildschirmmedien (Spitzer 2005), eine andere die Vermittlung von Medienkompetenz (Baacke 1999). Es erfolgt die Entscheidung für das Medienkompetenzmodell von Baacke, weil Verbieten im Zeitalter der Digitalisierung unmöglich ist und weil die Dimension Medienkritik prominent mitgedacht ist.

Ein weiteres Beispiel: Verschiedene Identitätskonzepte werden im Theorieteil vorgestellt und am Ende fällt die begründete Wahl auf das Konzept «Patchworkidentität» von Keupp (Keupp et al. 1999), weil es die ungleich verteilten Ressourcen mitberücksichtigt, weil es auf transkulturelle Kontexte anwendbar ist (Identitätskonstruktion im Kontext von Migration) und weil die Unabgeschlossenheit und Prozesshaftigkeit von Identitätsarbeit betont wird.

2. Die zwei Konzepte A und B zusammenbringen

Ein weiteres Muster kann darin bestehen, zwei Konzepte zusammenzubringen beziehungsweise zusammenzudenken, beispielsweise im Kontext von Medienwirkung den «Uses-and-Gratifications-Ansatz» («Was machen die Menschen mit Medien?») und den behavioristischen Ansatz/Stimulus-Response («Was machen Medien mit den Menschen?») (vgl. Süss et al. 2010; Bonfadelli 2004). Die Verbindung der beiden Perspektiven erfolgt in Form der Vorstellung eines dritten Konzeptes – in diesem Fall der «dynamisch-transaktionale Ansatz» von Früh & Schönbach (1982). Er berücksichtigt die Dimensionen Person, Medium und Kontext und sieht die oben genannten Fragen quasi als zwei Seiten einer Medaille (vgl. Früh 2008).

Im folgenden Zitat wird die Idee der Verbindung von zwei unvollständigen Perspektiven noch weiter ausgeführt:

Medienwirkung wurde – vereinfacht ausgedrückt – auf zwei Grundfragen bezogen: «Was machen Medien mit den Menschen?» (Betonung der Wirkungsmacht des Mediums) und «Was machen Menschen mit den Medien?» (Betonung der Selektions- und Verarbeitungskompetenz der Person).

Eine dritte Perspektive verbindet beide Fragen und berücksichtigt die drei Ebenen Person, Medium und Kontext (vgl. Früh 2008).

Grundfrage(n)BesonderheitTheorie
Was machen Medien mit den Menschen?Betonung der Wirkungsmacht der Medien
Mensch: passiv
Stimulus-Response-Theorie
Behaviorismus
Was machen die Menschen mit Medien?Betonung der Selektions- und Verarbeitungskompe­tenz der Person
Mensch: aktiv
Nutzen- und Belohnungs­ansatz
(Uses and Gratifications Approach)
Was machen die Menschen mit Medien?
und
Was machen Medien mit den Menschen?
Betonung der kontextspezifischen Medienwirkung je nach Person, Medium und Aneignungskontext.
Mensch: aktiv und passiv
Dynamisch-transaktionaler Ansatz von Früh & Schönbach (1982)

Zum Nachlesen: Wikipedia (Holzwarth 2022, 160)

Es ist wichtig zu betonen, dass nicht in allen Fällen ein drittes verbindendes Konzept vorliegt. Teilweise muss die verbindende Perspektive auch selbst hergestellt werden.

3. Konzept vorstellen und Ergänzungsnotwendigkeit aufzeigen

Eine Theorie wird vorgestellt und im Anschluss daran die Notwendigkeit einer Ergänzung. Beispielsweise Identitätskonstruktion als Narration (Keupp et al. 1999): Menschen erzählen sich gegenseitig Geschichten über sich selbst und konstruieren damit Identität. Eine Kritik an dieser an sich wertvollen Perspektive kann darin bestehen, dass auch die nichtsprachliche Dimension der Identitätsarbeit mitberücksichtigt werden muss (Körpersprache, Kleidung, Symbolgebrauch etc.). Das Konzept von Keupp muss in Hinblick auf diese Dimensionen ergänzt werden, um zu verhindern, dass wichtige Aspekte menschlichen Ausdrucks unberücksichtigt bleiben und dass weniger sprachlich orientierte Zielgruppen benachteiligt werden (vgl. Holzwarth 2008).

4. Konzept vorstellen und auf neue Kontexte übertragen

Ein bereits etabliertes Konzept wird vorgestellt und auf einen neuen Kontext übertragen bzw. an einen neuen Kontext angepasst. Es kann zum Beispiel das bereits genannte Konzept Medienkompetenz (Baacke 1999) auf die Bereiche KI (Künstliche Intelligenz) und Robotik bezogen werden. Was bedeuten beispielsweise die Dimensionen Medienkunde, Medienkritik, Mediennutzung und Mediengestaltung für den Umgang mit KI-Programmen wie Chat GPT? Döring (2011) hat das Medienkompetenzmodell von Baacke mit den vier genannten Dimensionen auf das Phänomen Pornografie übertragen und den Begriff Pornografie-Kompetenz geprägt.

Weitere Strategien und Ideen, um ins Schreiben zu kommen

  • Ein «Mind Map» oder ein «Concept Map» produzieren und an der Stelle, die am meisten Interesse auslöst, beginnen zu recherchieren, zu lesen, zusammenzufassen und zu schreiben.
  • Texte lesen und zusammenfassen und darüber in den Schreibprozess kommen.
  • Eine zentrale Textstelle aus einem Buch, einer Zeitschrift oder einer Onlinequelle abzuschreiben beginnen und selbst weiterschreiben (Meienberg & Holzwarth 2023). Über das Abschreiben eines fremden Textes kann möglicherweise der eigene Schreibprozess gestartet werden. Hinweis: Im fertigen Text muss immer klar sein, wann wörtlich zitiert wurde, wann paraphrasiert wurde und wann eigene Gedanken entwickelt wurden. Im Film «Forrester Gefunden» (Originaltitel: «Finding Forrester», USA/UK 2000, Gus Van Sant) kommt diese Methode für einen literarischen Text zur Anwendung.
  • Am Handy oder Computer einen eigenen Text mündlich eingeben und automatisch in Schrift umsetzen lassen. (Manchen Menschen fällt es leicht, differenziert zu sprechen, aber das Schreiben bereitet Schwierigkeiten.) Mit dem automatisch umgesetzten Text, der noch korrigiert und optimiert werden muss, kann weitergearbeitet werden.
  • In manchen Fällen hemmt die fehlende thematische Fokussierung das Schreiben. Das eigene Themenfeld kann mit der «Themenpyramide» eingegrenzt werden (vgl. Schmitts u. Zöllner 2007).
  • Manchmal hindert eine ungeklärte Fragestellung den Schreibprozess. Die Brauchbarkeit der Fragestellung kann mit vier Kriterien überprüft werden (vgl. Holzwarth u. Maurer 2019; Holzwarth 2019).
  • Auch die Technik «Color Coding» kann helfen, den Schreibprozess zu strukturieren und damit das Schreiben zu vereinfachen (siehe Video Color-Coding und Youtube-Kanal «Improving Writing in Psychology»).
Das  Schreiben erleichtern mit «Color Coding» (Quelle: Youtube)
  • Hilfreich ist auch die Entwicklung und Anwendung eines persönlichen Markierungs- und Anmerkungssystems (analog und digital) (z.B. Markierung «Z» am Rand für «potenzielles wörtliches Zitat», «?» für «Verstehe ich nicht», «`?`» für «Ich stelle die Aussage in Frage», «!» für «finde ich interessant/relevant», «gelbe Markierung» für «Wichtig» etc.)
  • Die Bezugnahme einer klassischen Gliederung beim Schreiben kann bei der Orientierung helfen z. B. «Titelblatt», «Inhaltverzeichnis», «Einleitung», «Hauptteil» («Theoretische Durchdringung des Themas», «Methode», Ergebnisse»), «Diskussion» und «Literaturverzeichnis» bei Roos u. Leutwyler (2017). Zu bedenken ist, dass die formalen Titel in der eigenen Arbeit zu inhaltlichen Titeln werden (z. B. Ergebnisse «Haltungen von Lehrpersonen gegenüber Schüler:innen mit Migrationserfahrung» anstelle von «Ergebnisse»).
  • Über Chat GPT einen Schreibeinstieg produzieren lassen (vgl. Röhl 2023). Hier ist Vorsicht geboten, da die Gefahr besteht, sich grössere Textteile einer Arbeit via Chat GPT schreiben zu lassen und sich selbst um wichtige Lernprozesse zu bringen. Der Lerngewinn wäre dann in etwa so minimal wie beim Abschreiben von Hausaufgaben. Weitere Gefahren bestehen darin, dass falsche Information übernommen werden könnten, dass falsche Quellen aufgegriffen werden, dass Klischees über bestimmte Gruppen reproduziert werden und dass keine innovativen Inhalte entstehen. Spannagel betont die hohe ethische Verantwortung, die mit der Nutzung von Chat GPT verbunden ist:

Sie verantworten Ihre Arbeitsergebnisse. Alle Hilfsmittel haben ihre Grenzen. Informationen in Medien können falsch sein. Taschenrechner können nicht mit reellen Zahlen rechnen. Und KI-Sprachmodelle wie Chat GPT können zwar gut formulieren, sie machen aber inhaltliche Fehler und reproduzieren Vorurteile. Bevor Sie also mit Ergebnissen und Impulsen weiterarbeiten, müssen Sie diese überprüfen und gegebenenfalls überarbeiten. Das Werkzeug denkt nicht für Sie, sondern Sie denken mit Hilfe des Werkzeugs. (…) Am Ende stehen Sie aber für Ihre Lösung ein. Sie müssen Ihre Lösung anderen erklären können. Und für Fehler in der Lösung sind Sie verantwortlich (nicht das Werkzeug).

Spannagel 2023
  • Nach wie vor ist ungeklärt, ob es sich bei einem Text aus einem KI-Tool um ein multiples Plagiat handelt und ob es legitim ist, eine Autorenschaft zu beanspruchen, wenn man sich den Text lediglich aus vielen verschiedenen Fremdtexten zusammensetzten lässt. Bei der Diskussion um KI-Nutzung ist zu bedenken, dass es verschieden Grade von Eigenaktivität gibt: (1) Sich den Text von der KI ausgeben lassen und 1:1 verwenden, (2) sich den Text ausgeben lassen und selbst überarbeiten, (3) sich lediglich einen Text ausgeben lassen, der als Schreibeinstieg dient, (4) einen eigenen Text von der KI überarbeiten lassen und (5) die KI lediglich als Inspiration und Ideenlieferant verwenden.
  • Hinweise, Ressourcen und konkrete Beispiele zum wissenschaftlichen Arbeiten wie z.B. im «A–Z des wissenschaftlichen Schreibens» von Daniel Ammann (2024) oder im «Zitierkompass zum Chicago Manual of Style» erleichtern den Schreibprozess. Man kann sich zur Orientierung Beispiele aus dem Zitierkompass in das eigene Literaturverzeichnis kopieren und nach dem Schema die eigene Literaturquelle angeben.

INFOBOX

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Zum Autor

Peter Holzwarth ist Dozent für Medienpädagogik an der PH Zürich. Er leitet das Fachteam Medienpädagogik, arbeitet im Schreibzentrum und im Digital Learning (DLE). Ausserdem ist er Berater bei der Stelle für Personalfragen (SteP) der PH Zürich.

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