Warum in die Ferne schweifen? Bildungsreisen früher – und heute

Text: Simone Heller-Andrist und Anne Bosche

Eine kleine Reise ist genug, um uns die Welt zu erneuern.

Marcel Proust
2019 organisierte die PH Zürich eine Studienreise nach Japan.

Neulich erzählte mir eine Kollegin von ihrer Reise nach Kuba: wie eindrücklich die Gastfreundschaft, wie widersprüchlich die Lebensarten, wie hindernd die Ideologie für den Alltag. Und: Ihre Familie habe die Reise mit Urlaub verwechselt: Da habe es viele Diskussionen gegeben. Reise und Urlaub: was unterscheidet die beiden Aktivitäten?

Man könnte darauf antworten, dass sie sich in ihren Zieldimensionen unterscheiden: Auf der Reise erfahren wir explorativ etwas Anderes, uns Neues. Sind neugierig auf die Vergleiche, wollen überrascht und herausgefordert sein, in den Austausch mit den Menschen und ihren Geschichten an anderen Orten kommen. Es geht um Einlassung in für uns neue Kontexte. Die Reise hat somit den transformativen Charakter, den Proust ihr zuschreibt.

Urlaub wiederum könnte zum Ziel haben, Distanz zum eigenen Kontext zu gewinnen. «Abzuschalten», sich «auszuklinken» – in dieser Entkoppelung in erster Linie Regeneration zu erfahren. Erholung, Genuss, Entspannung assoziieren wir mit dem Begriff.

Hierfür werden Heterotopien in der Ferne konzipiert. Mit Heterotopie bezeichnet Michel Foucault inszenierte Utopien an realen Orten, die alle gewohnten kulturellen Realitäten unserer eigenen Gesellschaft zugleich repräsentieren, infrage stellen und damit untergraben (Foucault 1986, S. 24). Zum Zweck, in der Distanz das Gewohnte nicht missen zu müssen, gibt es «Urlaubskolonien». Wir verbringen in der Ferne eine hürdefreie Zeit und suchen nicht die Herausforderungen, die uns oder unseren Blick auf die Welt verändern könnten. Gemäss Foucault birgt die Künstlichkeit der Heterotopie für aufmerksame Betrachter aber ebenfalls das Potenzial, das Gewohnte zu hinterfragen. So werden die Ziele Erkenntnisgewinn und Erholung oft vereint: In der Ferne suchen wir sowohl unbekannte Kulturgüter als den Genuss lokaler Kulinarik in einem langsameren Takt. Der transformative Charakter der Reise und das «in sich Ruhen» des Urlaubs werden kombiniert. Je geschützter der Rahmen allerdings, so würde man meinen, desto weniger Transformationspotenzial ist vorhanden. Um uns zu verändern, müssen wir uns aussetzen, wenn auch nur gedanklich. Ein Blick in die Geschichte des Reisens und des Urlaubs zeigt eine komplexe Verflechtung der zwei vermeintlich getrennten Prinzipien Erkenntnis und Vergnügen.

Religion, Ruhm und Ehre, Repräsentation und Exotik: Eine Geschichte der Bildungsreise

Die Kombination von Erkenntnissuche und Erholung (unter Seinesgleichen) ist das Produkt einer langen Kulturgeschichte des Reisens, allerdings oft nur privilegierten Mitgliedern – vorerst Männern – privilegierter Gesellschaften vorbehalten. Der Charakter der Bildungsreise ändert sich mit den Zeichen der Zeiten.

Aus der ritterlichen mittelalterlichen Reisetradition, die der religiösen Bildung, der Frömmigkeit durch Besuche von religiösen Stätten im «heiligen Land» bis in die Zeit des Humanismus dienten und Pilgerfahrt, Abenteuer und Erziehung kombinierten, entstand im 16. Jahrhundert die Reiseaktivität zur Erlangung von vera nobilitas – «wahrem Stand». Während die Reisen der Gelehrsamkeit (nobilitas erudita) in ritterlicher Tradition dienten, waren sie nun zusätzlich als soziale Erfahrung konzipiert. Es ging darum, die leblosen Relikte vergangener Zeiten mit den Berichten zeitgenössischer Gelehrten zu verbinden (Freller 2007, S. 10). Die Pilgerreise selbst wurde während der Entwicklung der neuen Bildungsreise als eigene Form weitergeführt.

Im 18. Jahrhundert, der Zeit des Ancien Régime, war die «Kavaliersreise» gleichzeitig Erziehungs- und Erfahrungsreise entlang gesetzter Zentren des Abendlands (Ausgangspunkt London, weisse Stadt Paris, ewige Stadt Rom, Kunst in Florenz, Rückreise über Deutschland, Handelshäfen in Amsterdam, etc.) und der Gesellschaft (europäische Herzogshöfe) als auch Portal zum Eintritt in die «berufliche Welt des Adels». Die jungen Adligen traten die mehrere Jahre dauernde Reise etwa im Alter von 20 Jahren an. Das Absolvieren der «Grand Tour» in Begleitung eines reiseerfahrenen Mentors machte einen jungen Aristokraten zum Mann von Welt, zu einem «honnête homme» (Freller 2007, S. 7). Für die Position als Mentor, der Erzieher, Reiseführer, Vaterfigur und Berater zugleich war, war oft ein Universitätsabschluss als Qualifikation Voraussetzung. Die Studienziele der Tour fokussierten auf Zivil- und Militärwissenschaften, davon insbesondere die «Kavaliersfächer» Rechtswissenschaften, Geschichte (inklusive Genealogie), Mathematik (v.a. auch Geometrie), Architektur (auch Festungswesen) und Geographie.

Bildungsreisen in der Schweiz um 1800

Aber auch im Bereich der Pädagogik waren Bildungsreisen durchaus üblich. Die Schweiz und insbesondere Zürich waren um 1800 ein Zentrum des europäischen Gelehrtennetzwerks (Grube 2017, S. 16). Es war in privilegierten Kreisen üblich, eine Bildungsreise anzutreten, um verschiedene Arten der Erziehung und Bildung kennenzulernen. Darüber hinaus blieb man über Briefkorrespondenzen in regem Austausch und debattierte über zentrale Themen der Aufklärung. Dabei galt nicht das Gebot der harmonischen Verständigung. Vielmehr erzählt die immense Schriftenproduktion von Konflikten – etwa den Zusammenhang von Schulbildung und gesellschaftlicher Sittlichkeit.

So reisten um 1800 etwa zahlreiche Pädagogen nach Yverdon. Dort hatte der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) ein Erziehungsinstitut, in dem er sein Erziehungskonzept erprobte, das bis heute unter der Kurzformel «Kopf, Herz und Hand» bekannt ist. Damit gemeint ist eine ganzheitliche Herausbildung von Einsicht, Liebe und Berufskraft. Nur auf diese Weise – so Pestalozzis Überzeugung – können Menschen Vollendung und Sittlichkeit erreichen.

Zu den Bildungsreisenden gehörten unter anderem auch Peter Friedrich Theodor Kawerau (1789-1844) und Johann Wilhelm Mathias Henning (1783-1868) zwei deutsche Pädagogen, die sich an Pestalozzis Institut weiterbilden liessen und so zur Verbreitung seiner innovativen Ideen beitrugen. Sie diskutierten in Briefwechseln rege über dessen Ideen und reflektierten neue Erkenntnisse in Tagebüchern. Diese Dokumente geben uns Einblick in die Gedankenwelt der Gelehrten um 1800 – in Positionierungen, Argumentationen und Konfliktlinien. Und sie lassen uns durch die Reiseberichte Anteil an ihrem Leben haben. Für das vorindustrielle Europa zeugen die Berichte von einer erstaunlichen Mobilität.

Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen
Kinderzeichnung aus der Schweiz, entstanden zwischen 1940 und 1980. Signatur: NLS_521_049
(Sinnbild für die Bildungsreise)

Bildungsreise, Urlaub und Pläsier

Mit der Verbesserung der einheimischen Universitäten, Akademien und Erziehungsinstituten wie dem oben vorgestellten Institut von Pestalozzi ging ein Wandel des Bildungsideals einher – und die Bildungsreisetätigkeit in der ausgedehnten und vorstrukturierten Form kam gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum Erliegen. Die Bildungsreise wandelte sich in eine stärker individualisierte Form des Reisens. Ab dem viktorianischen Zeitalter Englands, also im 19. bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts, begab sich die junge adlige Person zum geniesserischen Erleben in die Fremde. Vorbildfunktion hat der englische Adel mit bevorzugter Destination Italien, dem europäischen Ort der klassischen Antike. So rückt «Pläsier» in den Vordergrund: Das Bestaunen historischer Monumente, lokaler Folklore aber auch «Shopping» in Modemetropolen. Moderne touristische Elemente kommen ins Spiel.

Die Bildungsreise war in den vergangenen Jahrhunderten also Privileg der besonderen Art, vor allem zu Beginn nur für Männer «von Rang». Zahlreiche Merkmale der traditionellen Bildungsreise des 18. Jh. lassen sich aber auch in der heutigen Bildungsreise wiedererkennen. Das Format der «Auszeit» und des «Pläsiers», des Urlaubs, entwickelte sich aus den Traditionen des frühen 19. Jahrhunderts und wurde im Verlauf der Zeit auch weniger privilegierten Mitgliedern der Gesellschaft ermöglicht (ob gewerkschaftlich, gesundheitlich oder ökonomisch motiviert est disputandum).

Gesetzliche zwei Wochen Ferien pro Jahr gibt es für Schweizer:innen übrigens erst seit 1966, mindestens vier Wochen seit dem 1. Juli 1984. Die erste Ferienregelung der Schweiz stammt aus dem Jahr 1879 – Ferien für Beamte aus Gründen des Sauerstoffmangels. Arbeiter, die draussen arbeiteten, litten gemäss Argumentation nicht daran. Vorreiterin für individuelle Ferienregelungen für ihr akademisches Personal ist die ETH: Seit 1854 gibt es Regelungen für Erholung und individuelle Weiterbildung. Das Wort «Urlaub» selbst stammt aber von den Sitten des Adels ab: Den Hof eines Adligen konnte man nicht einfach so verlassen, man musste um «Urloup» (Erlaub) bitten, im Alt- oder Mittelhochdeutschen etwa gleichbedeutend mit «Erlaubnis», «Freistellung vom Dienst».

Reisen als transformativer Akt

Auch wenn auf der Reise die Reisenden die einzige Konstante sind, kommen sie als andere zurück. Jede Reise, ob Bildungsreise oder Urlaub, hat potenziell transformativen Charakter. Die bewusste Wahrnehmung eines Anderen, anderer Möglichkeiten im Umgang mit der Welt, der Bildung, des Alltags und der Vergleich des Vertrauten mit dem Neuen, ein Abwägen des Sinns im Anderen und das Potenzial, Sinnvolles zu übernehmen, machen die Transformation aus.

Reisen ist also ein reflektierter Perspektivenwechsel in Bewegung, die Reise der performative Akt der Neugier (vgl. auch Prahl und Steinecke, S. 135). Wir begeben uns aus bekannten in unbekannte Kontexte. So bekommen wir als reflektierte Menschen die Möglichkeit, uns selbst in neuen Kontexten zu erleben: Das Heideggersche «Ins Jetzt Geworfen-Sein» ergänzt sich ums «Ins Sich-Geworfen-Sein»: Wir sind gezwungen, unsere bestehenden Grenzen zu erfahren und wenn nötig zu verschieben. In diesen Verschiebungen, die der neue Kontext uns abverlangt, entsteht das Potenzial persönlicher Veränderung.

Auf gesellschaftlicher Ebene gleichen Reisen grossen Kalibrierungen: provisorische Integrationen in der Fremde basieren auf einer Oszillation zwischen Anpassung und Distanzierung. Wir befinden uns in konstanter Vergleichsarbeit – machen Unterschiede und Gemeinsamkeiten aus und bewerten sie. Mit jeder Bildungsreise tut sich die Möglichkeit eines solchen Selbst- und Vergleichsversuchs auf.

INFOBOX

Angebot der PH Zürich
Die nächste Möglichkeit potenzieller Transformation durch Bildungsreise ist die Studienreise nach Japan im September 2025. Die Reise ist bereits ausgebucht, es wird aber eine Warteliste geführt.

Für 2027 ist eine erneute Studienreise nach Japan geplant. Interessierte dürfen sich gerne bei Mònica Feixas melden: monica.feixas@phzh.ch.

Aufruf: Das Zentrum Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich möchte weitere Bildungsreisen durchführen. Wir nehmen gerne Anregungen wie Reiseziele, Themen für Bildungsreisen, etc. dazu entgegen (via Kommentarfunktion oder per Mail an Simone Heller-Andrist: simone.heller@phzh.ch).

Sammlung Pestalozzianum
In der Sammlung des Pestalozzianums sind zahlreiche Zeitzeugen zu finden:
- Pestalozzis Vermächtnis – Zeitreisen Pestalozzianum
- Von Cholera zu Corona – Zeitreisen Pestalozzianum
- Die Briefe und Tagebücher: Willkommen – Stiftung Pestalozzianum

Mögliche Bilder aus dem Pestalozzianum – darunter auch das oben integrierte
- Schulreise bspw.: Auf der Schulreise – Stiftung Pestalozzianum

Zu den Autorinnen

Simone Heller-Andrist arbeitet am ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich als Studiengangsleiterin, Dozentin und Beraterin. Sie leitet den CAS Hochschuldidaktik Winterstart sowie den CAS Berufsfeldbezug stärken.

Anne Bosche ist Prorektorin Ausbildung an der PH Schaffhausen. Bis Mitte 2024 war sie Geschäftsführerin der Stiftung Pestalozzianum und Projektleiterin «Sammlungen Pestalozzianum»  an der PH Zürich.

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