Ein Interview mit Prof. Dr. Dieter Euler von Mònica Feixas & Zippora Bührer
Über «personalisiertes Lernen» wird derzeit auf allen Bildungsstufen diskutiert – so auch an Hochschulen. Während beispielsweise Fernhochschulen seit langem Lernkonzepte und -angebote entwickeln, die verstärkt auf individuelle Bedürfnisse, Interessen und Kompetenzen eingehen, wird personalisiertes Lernen an traditionellen Hochschulen oft als Herausforderung angesehen. Aber was macht personalisiertes Lernen überhaupt aus? Welche Formen sind an Hochschulen sinnvoll umsetzbar?
Die Kurztagung des ZHE am 25. April 2018 widmet sich diesen Fragen und diskutiert personalisiertes Lernen an Hochschulen mit spannenden Gästen. Vorab hatten wir Gelegenheit, mit Prof. Dieter Euler vom Institut für Wirtschaftspädagogik der Universität St. Gallen zu sprechen. Er hält die Keynote an unserer Kurztagung.
Personalisiertes Lernen und seine Verwandten
Mònica Feixas (MF): Dieter Euler, was bedeutet «Personalisiertes Lernen»?
Dieter Euler (DE): Das Konzept des «personalisierten Lernens» gehört zu eine Reihe verwandter Konzepte, welche die Frage nach der Steuerung des Lernprozesses stellen. Soll das Lernen eines Studierenden vollständig fremd- oder selbstgesteuert verlaufen? Dabei besteht weitgehend Einigkeit darin, dass die beiden Extrempole in der Realität der Bildungsinstitutionen nicht anzutreffen sind. Sondern es existieren in der Bildungspraxis Realisationsvarianten, die mehr dem einen oder dem anderen Pol zuneigen. Etwas differenzierter zeigt sich das Spektrum von Fremd- vs. Selbststeuerung, wenn man konkretisiert, was Steuerung meint: Haben Lernende die Möglichkeit, den zeitlichen und räumlichen Rahmen des Lernens, das ‹Wann› und das ‹Wo›, zu steuern? Oder können sie auch das ‹Wie›, die Methoden des Lernens, steuern?
Personalisiertes Lernen geht in einer radikalen Vorstellung davon aus, dass Lernende nicht nur Zeit, Ort und Methode steuern, sondern auch Inhalte und Ziele ihres Lernens. Lehrende haben in dieser Vorstellung einzig die Aufgabe, bei Bedarf Rückmeldungen und Unterstützung zu geben.
In einer weicheren Vorstellung bettet sich personalisiertes Lernen in einen umfassenden Bildungsprozess ein, innerhalb dessen die Lernenden auch Phasen der selbstgesteuerten Themen- und Zielbestimmung gestalten können.
MF: Sie haben verwandte Konzepte angesprochen, die ebenfalls die Steuerung des Lernprozesses thematisieren. Wo liegen Gemeinsamkeiten z.B. zu «individualisiertem Lernen» oder «differenziertem Lernen»? Wo gibt es Unterschiede?
DE: Individualisiertes Lernen beschreibt ein Konzept, das auf der didaktisch-methodischen (wie) und lernorganisatorischen Ebene (wann und wo) das Lehren möglichst genau auf die individuellen Voraussetzungen der Lernenden ausrichtet. Themen und Ziele sind jedoch weiterhin durch den Lehrenden gesteuert. Differenziertes Lernen wird häufig nicht trennscharf von individualisiertem Lernen unterschieden. Ich würde dieses Konzept auf der curricularen Ebene verorten. Lernende können dabei bestimmte Lerneinheiten aus einem Wahl- oder Wahlpflichtangebot auswählen. Innerhalb der Lerneinheiten sind jedoch auch hier die Themen und Ziele durch den Lehrenden vorgegeben. Damit sind indirekt die Unterschiede zu personalisiertem Lernen bezeichnet: Personalisiertes Lernen schliesst die Bestimmung von Themen und Zielen durch die Lernenden ein, sei es auf der didaktisch-methodischen oder auf der curricularen Ebene.
MF: Personalisiertes Lernen ist gegenwärtig hauptsächlich auf Volksschulstufe bekannt. Ist es auch in der Hochschuldidaktik ein Thema?
DE: In der Hochschuldidaktik ist personalisiertes Lernen eher ein Orchideen-Thema. Dort werden momentan Konzepte diskutiert, mit deren Hilfe die durch die Bologna-Reform vermeintlich verursachten Schwachstellen in Studium und Lehre ausgeglichen werden sollen. Dabei dominieren dann Konzepte wie «deep learning» (im Kontrast zu «surface learning»), «integratives Lernen» (im Kontrast zu fragmentiertem Lernen) und kompetenzorientiertes Lernen (im Kontrast zu inhaltsorientiertem Lernen). Hinzu kommt die Diskussion des traditionellen Spannungsfeldes zwischen Bildung und Qualifizierung.
MF: Inwiefern ist personalisiertes Lernen dennoch auf Hochschulebene relevant? Vielleicht über die Veranstaltungsebene hinaus auf Studiengangsebene gedacht?
DE: Auf der Ebene der Studienprogramme wird personalisiertes Lernen beispielsweise mit der Einführung von Lernportfolios, Lerntagebüchern oder Peer-Coaching diskutiert. Die konkrete Frage besteht jeweils darin, welchen Stellenwert und welche Verbindlichkeit diese Facetten personalisierten Lernens innerhalb eines Studienprogramms besitzen. In diesem Zusammenhang ist die Frage besonders wichtig, ob diese Realisationsformen auch in die Gestaltung von Prüfung und Assessments einfliessen.
MF: Welche Strategien, organisational, curricular oder didaktisch ermöglichen denn personalisiertes Lernen auf Hochschulebene?
DE: Organisational geht es prinzipiell darum, Freiräume für Formen personalisierten Lernens innerhalb eines Studienprogramms zu gewähren und zu sichern. Dies kann durch Wahlmöglichkeiten oder auch reflexionsbetonte Formen der Lernunterstützung wie etwa Portfolios geschehen. Curricular erfordert die Umsetzung personalisierten Lernens, dass Lernenden die Möglichkeit geboten wird, eigene Themen und Ziele in die Gestaltung des Studiums einzubringen. Dies gilt sowohl für die Ebene des Lehrens und Lernens als auch für die Assessments. Und didaktisch geht es prinzipiell darum, das Diktum umzusetzen, die Lernenden dort abzuholen, wo sie stehen. Das heisst, dass das Studium den Studierenden Möglichkeiten bieten muss, ihre Themen und Ziele einzubringen und zum Gegenstand von Reflexion und Austausch zu machen.
Aushandlung individueller Lernpläne als Paradoxie
MF: Was halten Sie von der Idee, personalisierte Lernpläne an Hochschulen einzuführen, im Sinne von ausgehandelten individuellen Plänen, um die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben?
DE: Prinzipiell kommt diese Idee dem Typus eines akademischen Studiums nahe. Zugleich ist jedoch zu berücksichtigen, dass Universität und Studium unterschiedlichen Anspruchsgruppen verpflichtet sind, nicht nur den Studierenden. So erwarten beispielsweise die Gesellschaft bzw. die ‹Abnehmer› des Beschäftigungssystems, dass die verliehenen Zertifikate vergleichbar und aussagekräftig sind und dass die Absolventen eines Studiengangs einen Kanon an grundlegenden Kompetenzen erworben haben.
Vor diesem Hintergrund kann es nicht um ein entweder-oder, sondern es muss um ein sowohl-als-auch gehen. Fremd- und selbstbestimmtes, gesellschaftlich Relevantes und individuell Interessantes sind in eine Balance zu bringen.
Und zurück zu den ausgehandelten individuellen Lernplänen; die sind strenggenommen eine Paradoxie: sobald die Studierenden ihre individuellen Interessen mit externen Anforderungen abgleichen und in Kompromisse überführen müssen, ist zumindest die radikale Vorstellung eines personalisierten Lernens nicht mehr gegeben.
MF: Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Herausforderungen personalisierter Lernkonzepte an Hochschulen?
DE: Aus Studierendensicht setzt personalisiertes Lernen ein ausgeprägtes Bewusstsein sowie ein starkes Interesse an gegebenen Themen bzw. die Verfolgung bestehender Ziele voraus. Die Entwicklung von Zielen ist dann bereits abgeschlossen. Dies kann bei den meisten Studierenden sicherlich nicht umfassend vorausgesetzt werden. Aus Dozierendensicht erfordert personalisiertes Lernen eine spezifische pädagogische Haltung: Geschehenlassen, keine bzw. minimale Steuerung, ein Rollenverständnis des unterstützenden Begleiters, etc. sind Elemente einer solchen Haltung. Auch dies kann bei dem Gros der Dozierenden an Hochschulen nicht umfassend vorausgesetzt werden. Übergreifend ist wie gesagt zu berücksichtigen, dass Hochschulen gesellschaftliche Funktionen ausüben, die über die Förderung der Studierenden hinausgehen. Qualifizierungs- sowie Selektionsfunktion sind zumindest teilweise nicht mit den (radikalen) Vorstellungen eines personalisierten Lernens vereinbar.
MF: Wie sehen Sie die Rolle von digitalen Ressourcen, z.B. Learning Analytics, im Zusammenhang mit personalisiertem Lernen? Können sie personalisiertes Lernen voranbringen und weshalb?
DE: Digitale Ressourcen können eine instrumentell-unterstützende Funktion in der Umsetzung wahrnehmen. Insgesamt wird ihre Unterstützungskraft jedoch deutlich überschätzt. Learning Analytics sind zum einen derzeit eher ein Buzzword denn ein weiterführendes didaktisches Konzept. Zum anderen ist das Konzept im Kontext von personalisiertem Lernen zweifelhaft, da es – zumindest in einer spezifischen Auslegung – davon ausgeht, dass der Lernprozess aufgrund analysierter Daten über das Verhalten der Lernenden von aussen, also fremdgesteuert gestaltet werden soll. Der Steuerungsimpuls liegt dann nicht in den Händen eines Dozierenden, sondern in den Algorithmen der Software – aus meiner Sicht für einen Pädagogen keine beruhigende Vorstellung.
Mehr von Dieter Euler hören Sie an der Kurztagung «Personalisiertes Lernen an Hochschulen – Wie viel darf es sein?» am 25. April 2018. Zudem erwarten Sie praxisorientierte Workshops von Per Bergamin und Wilhelm Bach. >> Weitere Informationen Literaturhinweise: Euler, Dieter (2017): Personalisiertes Lernen – ein Konzept für pragmatische Idealisten? im Magazin des BCH/FPS Berufsbildung Schweiz «folio» (05/2017)
Im Interview mit…
Prof. Dr. Dieter Euler, Direktor des Instituts für Wirtschaftspädagogik der Universität St. Gallen.
Zu den Autorinnen
Mònica Feixas ist Professorin an der Universitat Autònoma Barcelona (UAB) und Lehrbeauftragte am ZHE.
Zippora Bührer ist wissenschaftliche Assistentin am ZHE und Redaktorin des Lifelong Learning Blogs.