Auf dem Rollenkarussell: Bewusst und besonnen Rollen wechseln

Text: Simone Heller-Andrist

Zum Einstieg in den Tag nehme ich an der Teamsitzung teil. Danach folgt ein Telefonat mit einer Weiterbildungsteilnehmerin: Ich begleite sie in ihrem Praxisprojekt, welches sie gemeinsam mit ihrem Praxispartner durchführt. Nach dem Mittagessen steht eine Fachberatung an, bevor ich eine Informationsveranstaltung zu meinem Studiengang leite, für welche ich eine Informationslandschaft auf dem online-Whiteboard gestaltet habe. Ich agiere im Wechsel zwischen Teamkollegin, Fachexpertin, Beraterin, Leitungsperson – ich beurteile, begleite, unterstütze, vertrete und gestalte.

Die Rolle, so die sozialpsychologische Definition nach Mirjam Kalt, ist ein Bündel von Verhaltensweisen, für die wir uns als Antwort auf Erwartungen in einem bestimmten Kontext entscheiden (2010, S. 239). Unsere Rollengestaltung ist idealerweise das Resultat aus erwarteter Verhaltensweise, dem Role-Giving unseres Gegenübers, und dem, wie wir die Rolle ausfüllen möchten, dem Role-Taking (vgl. dazu Weil 2020). Unablässig, jeden Tag von morgens bis abends, werden mir also Rollen gegeben, die ich aktiv ausfülle. Sie sind mir alle bekannt, manche schon länger, einige, wie bspw. diejenige der online-Architektin, etwas weniger lang. Die Rollen sind alle gleichzeitig da. Ich wechsle sie situativ, teils in schneller Abfolge, und finde meinen Platz.

Das Bild der Auswahl und des Platznehmens in einem dynamischen Umfeld lässt sich mit Fahrten auf einem Karussell vergleichen. Dieses dreht sich unablässig, während wir unseren Platz wählen. Die Platzwahl – oder eben das Einnehmen einer Rolle – erfolgt nicht zufällig und lässt die anderen Plätze oder Rollen nicht verschwinden. Ganz im Gegenteil: sie sind alle zeitgleich da – machen Wechsel möglich und ein Rollenbewusstsein nötig.

Vom Rollenstrauss zum Rollenkarussell

Das Bild des Rollenkarussells knüpft an Geri Thomanns Bild des Rollenstrausses an. Man stelle sich dabei nicht einfach das traditionelle Karussell vor, in welchem man abwechslungsweise mit dem Pferd, dem Feuerwehrwagen, dem Schwan oder der Vespa unterwegs ist. Man stelle sich eher jene Bahn vor, die an drei Armen zusätzlich drehende Kabinen mit sich führt: Mit viel Schwung und hohem Tempo zeigt sich der stete Rollenwechsel. Auch wenn wir den privaten Bereich ausblenden und auf unsere Tätigkeit an der Hochschule fokussieren, gestaltet es sich als anspruchsvoll, Rollenklarheit zu bewahren. Es empfiehlt sich dabei, den Übergängen zwischen den Fahrten und vor der eigentlichen Platzwahl besondere Aufmerksamkeit zu schenken und sich darauf zu besinnen, dass es eine grosse Bereicherung und ein Ausweis für einen Reichtum an Kompetenzen ist, in so vielen Rollen unterwegs zu sein.

In Geri Thomanns Darstellung des Rollenstrausses von Lehrenden an Hochschulen – hier übernommen und erweitert fürs Karussell – werden die Erwartungen der Studierenden an die Dozierenden als Pfeile dargestellt. Die Erwartungen führen nicht nur zur Wahl der Rolle, sondern auch zu einer Entscheidung dazu, wie die Rolle ausgefüllt wird:

Abb. 1: Rollenkarussell, basierend auf dem Rollenstrauss nach Geri Thomann (2019) und ergänzt um die Rollen der Regisseurin, des Architekten etc., die insbesondere der digitalen Organisationsform geschuldet sind.

Zu Thomanns Rollenstrauss sind zahlreiche weitere Rollen dazugekommen: So hat die digitale Organisation Lehrende zu Architektinnen gemacht, die mit Konferenztools Räume bauen und mit digitalen Lernlandschaften bespielen. Sie produzieren Lernvideos und fungieren darin manchmal in der Regie, manchmal als Darsteller. Während Thomann konstatiert, dass sich die Rolle von Dozierenden schwerpunktmässig von Inhaltsvermittelnden zu Begleitenden im Lernprozess verschiebt, erleben wir heute die Erweiterung zu Lehrenden als Navigierenden und Orientierung Vermittelnden, in einem Studium, dessen Räume und Landschaften zu grossen Teilen digital gebaut sind. Diese werden von den Studierenden auch asynchron, also in Abwesenheit der Lehrenden, genutzt.

Bezugsfelder und Rollen

Mirjam Kalts Definition der Rolle weist uns darauf hin, dass wir für Rollenklarheit zuerst einmal Kontextklarheit benötigen. Folgendes Modell von Scherrer et al. definiert drei Bezugsfelder, in welchen sich Dozierende bewegen und in welchen Rollenerwartungen an sie gerichtet werden. Nehmen wir bspw. eine Dozentin Fachdidaktik Englisch Zielstufe Sek I an der Pädagogischen Hochschule: Sie braucht fachwissenschaftliche und fachdidaktische Kompetenzen in Englisch, die sie aufgrund institutioneller Rahmenvorgaben wie Curriculum und gemäss definierten Prozessen auf ihre Lehre zuschneidet (organisationale Kompetenzen) und mit den aktuellen Anforderungen des Berufsfelds an die künftigen Lehrpersonen Sek I in ihrem Fachbereich abstimmt (berufsfeldbezogene Kompetenzen):

Abb. 2: Kompetenzbereiche in Modell nach Scherrer et al. als Bezugsfelder für die Rollengestaltung (Scherrer, Heller-Andrist, Suter & Fischer, 2020)

Die Kompetenzbereiche als Bezugsfelder implizieren ein jeweiliges Gegenüber, welches Erwartungen an die Rollengestaltung im jeweiligen Feld hat, und dessen erwartetes Verhalten wir in der Rollengestaltung mit unseren Gestaltungsvorstellungen abgleichen. Die Fachdidaktikerin sieht sich also je nach Bezugsfeld anderen Personengruppen gegenüber: in ihrer Lehre den Studierenden oder dem Fachkollegium, in der Organisation bspw. einem Team, im Berufsfeld ihren Praxispartner:innen:

Abb. 3: Bezugsfelder und zugehörige Gegenüber, die Rollenerwartungen an Dozierende richten (Heller-Andrist auf der Basis von Scherrer, Heller-Andrist, Suter & Fischer, 2020)

Während die Rollen von Dozierenden in oben abgebildetem Rollenkarussell umfassend, wenn auch nicht abschliessend, aufgeführt sind, sind die Rollen im organisationalen Kontext in mannigfaltigen Modellen zugänglich. Dazu gehören bspw. die Rollen im Team (vgl. z.B. Teamrollen nach Belbin), diejenigen gegenüber einer vorgesetzten Person, gegenüber verschiedenen weiteren Stellen, die Erwartungen äussern wie bspw. die Verwaltung mit Prozessen und institutionellen Vorgaben. Die Rollengestaltung gegenüber unseren Partnern und Partnerinnen im Berufsfeld ist insofern komplex, als sie stark zielabhängig, und insbesondere im Kontext der Weiterbildung abhängig vom Lerngegenstand ist.

Expert:innen im Austausch

Um Aus- und Weiterbildungsangebote wissenschaftlich fundiert auf die Bedürfnisse der Berufspraxis auszurichten, um praxisrelevante Forschung zu betreiben und um die Studierenden adäquat auf ihre künftige Berufspraxis vorzubereiten, ist der Bezug zum Berufsfeld unablässig. Die Rollengestaltung in der Zusammenarbeit mit dem Berufsfeld kann dabei durch Muster in der eigenen Berufsbiografie, also bspw. die eigene oder die aus einer Aussenperspektive wahrgenommene Dozierendenrolle in der Ausbildung von Lehrpersonen, geprägt sein. Hatte ich in der Ausbildung der jetzigen Praxispartner:innen eine leitende und beurteilende Rolle inne, war ich die Inhaltsexpertin und mein Gegenüber ein:e Lernende:r, so stehen wir uns nun in anderen Rollen gegenüber.

Umso wichtiger ist die Rollenklärung in der Zusammenarbeit mit meinen Praxispartner:innen. Führt man bspw. ein gemeinsames Projekt durch, gehen beide Seiten in die jeweilige Expertenrolle: Die Hochschulangehörigen agieren als Expertinnen und Experten der Wissenschaftspraxis, also der Praktiken an der Hochschule, und bringen ihre Expertise ins Projekt ein. Die Partner:innen der Berufspraxis hingegen sind Experten der Berufspraxis. So können die jeweils anderen Praxen zum Lerngegenstand der einzelnen Beteiligten werden, ein Austausch auf dieser Basis erfolgen und Projektprodukte mit beiden Praxen abgestimmt werden. Die Rollengestaltung in einer solchen Zusammenarbeit könnte folgendermassen abgebildet werden:

Abb. 5: Rollengestaltung als Expert:innen in der Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Berufsfeld (Heller-Andrist auf der Basis von Scherrer, Heller-Andrist, Suter & Fischer, 2020)

Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist abhängig von der Rollengestaltung der beteiligten Personen. Überlegungen dazu, wie ich eine Rolle einnehmen möchte, eine besonnene Erwartungs- und Rollenklärung sowie die zugehörige Rollenverhandlung sind dabei zentral.

Das Rollenkarussell dreht auch im CAS-Studiengang zur Stärkung des Berufsfeldbezugs

Im CAS-Studiengang «Den Berufsfeldbezug stärken!» befassen sich die Teilnehmenden intensiv mit ihren Rollen an der Hochschule: Abgestimmt auf ihre jeweiligen Aufgaben an der Hochschule, beispielsweise in der Lehre (Rollen in der Lehre), bearbeiten sie konkrete Fragestellungen zusammen mit Partnerinnen und Partnern im Berufsfeld (Rollen in der Berufspraxis). Dies erfolgt gerahmt durch die organisationalen Bedingungen, in Absprache mit den direkten Vorgesetzten bzgl. der Laufbahnmöglichkeiten an der eigenen Institution (Rollen in der Organisation).

Der CAS beruht auf einer Kooperation von elf Pädagogischen Hochschulen (Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik HfH, PH Bern, PH Fachhochschule Nordwestschweiz, PH Graubünden, PH Luzern, PH St. Gallen, PH Schaffhausen, PH Schwyz, PH Thurgau, PH Zug, PH Zürich). Während im Studiengang der Austausch mit Teilnehmenden anderer Hochschulen zentral ist, findet er auch an verschiedenen Durchführungsorten statt: Reisend und kreisend – so dreht das Rollenkarussell im und um den CAS-Studiengang «Den Berufsfeldbezug stärken!».

INFOBOX

CAS Berufsfeldbezug stärken
Der CAS-Studiengang startet erneut im September 2023, alle Informationen dazu finden Sie auf unserer Webseite. Bei Interesse am CAS sind Sie herzlich eingeladen zu den online Informationsveranstaltungen vom Donnerstag, 20. April, oder Dienstag, 16. Mai 2023, jeweils von 17–18 Uhr. An den Veranstaltungen geben ehemalige Teilnehmende des CAS Einblick in ihre Projektarbeiten im Berufsfeld.

Zur Autorin

Simone Heller

Simone Heller-Andrist arbeitet am ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich als Projektleiterin für Entwicklungs- und Weiterbildungsangebote im Hochschulbereich. Sie leitet den CAS Hochschuldidaktik «Winterstart» sowie den CAS «Den Berufsfeldbezug stärken!».

Kreatives Schreiben und Life Skills

Text: Peter Holzwarth

«Wenn du deine Rolle in der Welt besser verstehen willst, dann schreib. Versuche deine Seele ins Schreiben zu legen, auch wenn niemand es liest, oder, was schlimmer ist, jemand es liest, obwohl du es nicht wolltest. Der einfache Akt des Schreibens hilft uns, Gedanken zu ordnen und klar zu sehen, was uns umgibt. Ein Stück Papier und ein Kugelschreiber können Wunder bewirken – Schmerzen heilen, Träume in Erfüllung gehen lassen, verlorene Hoffnung wiederbringen.
Im Wort liegt Kraft.»

(Paolo Coelho 2007, S. 52)

«Ohne zu schreiben, kann man nicht denken; jedenfalls nicht in anspruchsvoller, anschlussfähiger Weise.»

(Niklas Luhmann 1992, S. 53)

«Schreiben heißt: sich selber lesen.»

(Max Frisch [1950] 1985, S. 19)

Der folgende Beitrag zeigt verschiedene Möglichkeiten auf, kreatives Schreiben mit der Entwicklung von Lebenskompetenzen zu verbinden.

Das Konzept Life Skills wurde von der World Health Organisation (WHO) eingeführt. Life Skills werden folgendermassen definiert:

«Life skills are abilities for adaptive behaviour that enable individuals to deal effectively with the demands and challenges of everyday life» (World Health Organisation 1997, S. 1).

Es werden zehn zentrale Skills definiert: Decision-making (Fertigkeit, Entscheidungen zu treffen), Problem-solving (Problemlösefertigkeit), Creative thinking (kreatives Denken), Critical thinking (kritisches Denken), Effective communication (Kommunikationsfertigkeit), Interpersonal relationship skills (Beziehungsfähigkeit), Self-awareness (Selbstwahrnehmung), Empathy (Empathie/Einfühlungsvermögen), Coping with emotions (Gefühlsbewältigung) und Coping with stress (Fähigkeit zur Stressbewältigung).

Über kreative Schreibprozesse können Life Skills angeeignet und weiterentwickelt werden. Im Folgenden ein paar Beispielszenarien:

  • Ein Teenager wird sich seiner ambivalenten Gefühle bewusst, indem er ihnen in Form eines kleinen Gedichts ästhetische Gestalt verleiht. (Self-awareness, Coping with emotions, Coping with stress)
  • Eine junge Lehrerin hat sich angewöhnt, jeden Tag drei Dinge aufzuschreiben, die gut gelaufen sind bzw. die ihr Freude bereitet haben (vgl. Beitrag «Ehemalige Tutorin Antonia Rakita im inside 2/2022» im SchreibBLOGzentrum). (Coping with stress, Coping with emotions)
  • Eine Schülerin schreibt einen kurzen Text aus der Perspektive einer Figur in einem Spielfilm. (Empathy)
  • Ein Heranwachsender verfasst einen Liebesbrief an sich selbst, in dem er all das würdigt und zum Ausdruck bringt, was er an sich mag. (Self-awareness)
  • Eine Schülerin lernt das Prinzip der Wiederholung von Textstellen kennen und empfindet Selbstwirksamkeit in Bezug auf das entstandene eigene Gedicht.
  • Eine Weiterbildungsteilnehmerin entdeckt eine spannende ästhetische Interaktion zwischen einem selbstgemachten Foto und einem selbstgeschriebenen Text.

Lernprozesse können auf mehreren Ebenen stattfinden:

  • Sich selbst besser kennen lernen (Selbstreflexion, Inneres Erleben durch Schreiben nach Aussen bringen und es dann mit Abstand betrachten können (Veräusserung und Resubjektivierung))
  • Phänomene der Welt besser deuten können (sich über Schreibprozesse einem Gegenstand annähern und schreibend verstehen)
  • Literarische Aspekte kennen lernen (z. B. das ästhetische Prinzip der Wiederholung, das Prinzip der kreativen Aneignung von Vorlagen im Sinne eines Remakes)
  • Stolz empfinden in Bezug auf das eigene Produkt (Selbstwirksamkeit, den Mut haben, den eigenen Text einem Publikum zu präsentieren, Anerkennung von anderen bekommen, sich selbst wertschätzen können)
  • Über Kritik und Feedback lernen und sich weiterentwickeln (z. B. Kritik und Feedback von anderen können helfen, den eigenen Text aus einer neuen Perspektive zu sehen (z. B. andere Lesarten), sich der eigenen Leserlenkungspotenziale bewusst zu werden und den eigenen Text noch besser zu machen)
  • Zusammenhänge von Denken, Fühlen und Schreiben ausloten (vgl. Eingangszitat von Niklas Luhmann oben)

Im Folgenden werden ausgewählte Projektideen aus dem Buch «Life Skills mit Medien» (Holzwarth 2022) vorgestellt:

Fotogedicht «Vergnügungen»

Ein Remake zum Gedicht «Vergnügungen» von Bertolt Brecht wird produziert und mit einem Foto kombiniert (Leis 2019, S. 130 u. 131; Holzwarth & Maurer 2014).

Brecht zählt in seinem sprachlich sehr einfachen Gedicht alltägliche Dinge auf, die Vergnügen bereiten können, wie z. B. der erste Blick aus dem Fenster am Morgen oder das Wiederfinden eines alten Buchs. Das Verfassen eines Remakes hilft den Schreibenden, sich ihrer «Alltagsschätze» bewusst zu werden: Man braucht nicht auf das große Glück zu warten, weil der Alltag bereits sehr viele kleine Reichtümer enthält. Man muss sie nur entdecken und bewusst machen.

«VERGNÜGUNGEN

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein»

(Bertold Brecht, Suhrkamp Verlag 1990, S. 1022)
Abbildung 1: «Vergnügung» (Schulprojekt)

Fotogedicht «Rondell»

«Poesie macht einem die schwierigen Zeiten erträglicher.
Und Poesie macht die schönen Seiten noch schöner und strahlender.»

Heinz Rhyn, Pädagogische Hochschule Zürich, «PH Goes Poetry», 23.9.2021 (Übertragen aus dem Berndeutschen)

Die Gedichtform «Rondell» lebt von bestimmten Wiederholungen. Die Zeilen 1, 4 und 7 sind identisch und Zeile 2 ist gleich wie Zeile 8.

Ein Gedicht kann 8 Zeilen lang sein oder mehrere Strophen von 8 Zeilen hintereinander haben. Die folgende Darstellung visualisiert die Wiederholungsstruktur des «Rondells»:

Abbildung 2: Struktur «Rondell»

Was mein Leben reicher macht

«Beim Schwimmen im kühlen Badsee untertauchen und das eigene Herz schlagen hören.
Anita Chasiotis, Osnabrück»

(Lechner 2012, S. 63)

«Was mein Leben reicher macht» ist der Titel eines Buches, in dem Beiträge von Lesenden aus einer Kolumne der Zeit zusammengetragen wurden (Lechner 2012). In Anlehnung an diese Serie werden die Teilnehmenden gebeten aufzuschreiben, was ihr Leben reicher macht und den Text mit einem Bild zu kombinieren. Es muss sich dabei nicht um eine exakte Visualisierung des Geschriebenen handeln. Auch abstrakte Bilder können eine Rolle spielen. Weitere Projektideen zum kreativen Schreiben, sowie Ideen für Fotografie, Videoproduktion und Medienreflexion sind in Holzwarth 2022 zu finden.

INFOBOX

Schreibmodule
Unter dem Motto «Dem eigenen Schreiben auf der Spur» bieten Prof. Dr. Daniel Ammann, Erik Altorfer und Dr. Martina Meienberg zwei Module zum literarischen Schreiben an, die separat oder kombiniert gebucht werden können.

Das erste Modul «Biografisches Schreiben – das Leben erzählen» bietet Anfänger:innen wie Fortgeschrittenen Gelegenheit, sich im Schreiben mit Erlebnissen, Erinnerungen und persönlichen Lebenserfahrungen zu beschäftigen, um daraus eigene Prosatexte und Geschichten entstehen zu lassen.

Das zweite Modul «Literarisches Schreiben – Wege zum eigenen Schreibprojekt» widmet sich dem fiktionalen Schreiben und vermittelt Methoden des realistischen und fantastischen Erzählens.

In beiden Modulen erhalten Sie in Präsenzveranstaltungen und individuellen Coachings Anregungen und Impulse zum literarischen Schreiben und lernen Techniken der kreativen Textarbeit kennen.
Beide Module sind für den CAS Beraten im Bildungsbereich anrechenbar und sind mit je 1 ECTS dotiert.
Das erste Modul startet am 26. April 2023. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!

Workshop
Workshop des Schreibzentrums zum Thema:
Kreatives Schreiben leicht gemacht: Das motivierende Prinzip «Remake»,
Peter Holzwarth, Mi. 3. Mai 2023, 17.30–19 Uhr

Zum Autor

Peter Holzwarth ist Dozent für Medienpädagogik an der PH Zürich. Er leitet das Fachteam Medienpädagogik, arbeitet im Schreibzentrum und im Digital Learning (DLE). Ausserdem ist er Berater bei der Stelle für Personalfragen (SteP). 

Life Writing – Schreiben als Leben?

Beitrag von Daniel Ammann

«Wer ist berechtigt, seine Erinnerungen zu schreiben?», fragte Mitte des 19. Jahrhunderts der im Exil lebende Philosoph und Autor Alexander Herzen. Seine Antwort hat nach wie vor Gültigkeit: Jede und jeder. Schliesslich sei niemand verpflichtet, sie zu lesen. Es genüge, «einfach ein Mensch zu sein, der etwas zu erzählen hat».

Alle können ihre Erinnerungen aufschreiben. (Quelle: Adobe Stock)

Zwischen Fakten und Fiktion

Die Wirklichkeit ist ein unförmiger Brei. Auf unsere Wahrnehmung ist kaum Verlass. Auf die Erinnerung schon gar nicht. Also stülpen wir der Realität Geschichten über, die wir irgendwann für die Wirklichkeit halten. Wir verknüpfen Episoden und Fragmente und verwandeln das Chaos mit narrativen Mitteln in ein zusammenhängendes Sinngebilde. Wenn wir die Welt schon nicht begreifen, bietet sich vielleicht die Möglichkeit, im Kleinen zu beginnen und schreibend dem eigenen Leben auf die Spur zu kommen. Hier setzt das Life Writing an.

Life Writing hat viele Facetten. Egodokumente und Selbstzeugnisse gibt es als Tagebucheinträge, Bekenntnisse, Reiseberichte, Briefe oder Memoiren schon lange. In den letzten Jahrzehnten hat das autobiografische Schreiben jedoch mit einer neuen Spielart den Markt erobert. Die Rede ist von Autofiktion, einer Mischung aus Autobiografie und Erfindung. Gegenstand und Erzählanlass dieser Geschichten sind Vorkommnisse und Erinnerungen aus dem Lebensumfeld der Autorin oder des Autors, die im Text selber als Romanfigur und Erzählinstanz vorkommen.

Autofiktion ist eine neue Spielart des autobiografischen Schreibens. (Quelle: Adobe Stock)

Annie Ernaux, die kürzlich mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, gilt als Meisterin dieses schillernden Genres und wird gelegentlich als Begründerin der Autofiktion gehandelt. Bereits die dänische Autorin Tove Ditlevsen (1917–1976) hat in ihrer (wiederentdeckten) Kopenhagen-Trilogie und dem Roman Gesichter die Grenzen zwischen Autobiografie und Fiktion ausgelotet. Max Frischs Erzählung Montauk liefert ebenfalls ein frühes Beispiel: «Ich möchte nichts erfinden», heisst es dort, «ich möchte wissen, was ich wahrnehme und denke, wenn ich nicht an mögliche Leser denke.»

Autofiktion ist im besten Fall mehr als Selfie-Literatur oder eitle Selbstbespiegelung. Die Autor:innen gehen über die faktische Rekonstruktion von Vergangenheit hinaus und betreiben eine Art von «Autoethnografie». Sie arbeiten mit zeitlichen Perspektivenwechseln und richten den forschenden Blick auf soziale wie kulturelle Kontexte. Schreiben stellt dabei den Versuch dar, Lebensereignisse und persönliche Erfahrungen nicht nur getreu wiederzugeben, sondern in der Rückschau zu analysieren und prägende Muster offenzulegen. In der Form des Romans nutzen die Schreibenden den Spielraum der Fiktion, um kreativ und mit erzählerischer Eindringlichkeit mehr «Wirklichkeit» oder Wahrhaftigkeit zu schaffen.

Geschichte(n) erzählen

Fiktionale Darstellungen bedienen sich raffinierter Tricks, um einen Realitätseffekt zu erzeugen. Mit diesen Verfahren arbeitet auch die Geschichtsschreibung. Der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White hat in diesem Zusammenhang schon auf die «Fiktion des Faktischen» hingewiesen und nachgewiesen, dass historisches Erzählen immer durch Formen der Plotstrukturierung und der Argumentation gestaltet wird. In gleicher Weise spielen in der Nachrichtenberichterstattung heute Storytelling und Narrative eine bedeutende Rolle.

«Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt.»

So formuliert es der Schriftsteller Christoph Ransmayr im Vorwort zu Atlas eines ängstlichen Mannes.

Das Leben als Roman

Wenn früher das eigene Leben für eine Geschichte Modell stand, sprach man einfach von autobiografischen Bezügen – gelegentlich von einem Schlüsselroman, falls sich das fiktionale Personal trotz Tarnnamen als fadenscheiniger Abklatsch der privaten Realität erwies oder gar mit pikanten Details aus dem Alltag der Autor:innen aufwartete.

Beim Schreiben gehe es darum, so Stephen King, eine Geschichte so unbeschädigt wie möglich aus dem Boden zu heben. (Quelle: Adobe Stock)

Der Protagonist in Ian McEwans aktuellem Roman Lektionen zeigt sich überrascht und enttäuscht, dass er in den biografisch gefärbten Romanen seiner Ex-Frau überhaupt nicht vorkommt. Als er sich Jahrzehnte später in ihrem neusten Buch dann doch endlich als Figur erkennt, ist er wiederum schockiert, dass sie ihn als Tyrannen und gewalttätigen Ehemann dargestellt. Die Verfasserin reagiert auf seinen Vorwurf mit grösstem Erstaunen: «Das ist ein Roman. Keine Autobiografie.» Ob nun als Autobiografie oder Fiktion – authentisches Schreiben nimmt wenig Rücksicht auf Empfindlichkeiten. Es stellt sich alten Verletzungen und spürt «Schmerzkerne» auf. «Der Hintergrund und Antrieb jeden literarischen Schreibens», hat Urs Widmer in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen betont, «ist ein Leid, ein blinder Kern, in dem es sich – vom Schreibenden begrifflich nicht zu fassen – hochkonzentriert und zur Explosion bereit verbirgt.» Ein ähnliches Bild beschwört Erfolgsautor Stephen King in Das Leben und das Schreiben herauf, wenn er von Fundstücken oder Fossilien spricht. Beim Schreiben gehe es darum, eine Geschichte so unbeschädigt wie möglich aus dem Boden zu heben. «Manchmal legt man ein kleines Fossil frei: eine Muschel. Manchmal ist es riesengross, ein Tyrannosaurus Rex mit gigantischen Knochen und grinsendem Schädel.»

Life Writing als Entdeckungsreise

Wenn junge Autor:innen heute vermehrt den unspektakulären Alltag als Rohstoff für ihre Geschichten nutzen, illustriert dies, dass wir alle ein Produkt unserer Lebensumstände sind und beim Erzählen aus dem Persönlichen schöpfen. Das Vertraute wie etwas Fremdes zu betrachten und literarisch zu ergründen, mag auch all jenen Mut machen, die weit davon entfernt sind, ihre Memoiren zu publizieren und Privates in die Öffentlichkeit zu tragen. Denn Life Writing gehört allen. Um herauszufinden, ob der Zeitpunkt passt, fängt man besser früher als später damit an.

Wohin geht die literarische Reise? (Quelle: Adobe Stock)

Man muss nicht Erfinder, Nobelpreisträgerin, Olympiasieger, Künstlerin oder Staatsoberhaupt sein. Dieser einzigartige Prozess der Sinnfindung und Gestaltung steht allen offen. Wer flüchtige Einfälle im Tagebuch festhält, Vergangenes dokumentiert, Erlebnisse und Empfindungen zu einer persönlichen Geschichte formt, schafft einen Raum für Reflexion und Entwicklung. Lifelong Writing bedeutet Lifelong Learning.

Allen sprichwörtlichen Behauptungen zum Trotz: Das Leben erzählt keine Geschichten. Der Mensch – homo narrans – ist das erzählende Wesen. «Wir alle sind Fiktion», so Doris Dörrie in Leben, schreiben, atmen: Eine Einladung zum Schreiben, «aber das glauben wir nicht, weil wir uns mitten in ihr befinden wie in einem Fortsetzungsroman.»

INFOBOX

Unter dem Motto «Dem eigenen Schreiben auf der Spur» bieten Prof. Dr. Daniel Ammann, Erik Altorfer und Dr. Martina Meienberg zwei Module zum literarischen Schreiben an, die separat oder kombiniert gebucht werden können.
Das erste Modul «Biografisches Schreiben – das Leben erzählen» bietet Anfänger:innen wie Fortgeschrittenen Gelegenheit, sich im Schreiben mit Erlebnissen, Erinnerungen und persönlichen Lebenserfahrungen zu beschäftigen, um daraus eigene Prosatexte und Geschichten entstehen zu lassen.
Das zweite Modul «Literarisches Schreiben – Wege zum eigenen Schreibprojekt» widmet sich dem fiktionalen Schreiben und vermittelt Methoden des realistischen und fantastischen Erzählens.
In beiden Modulen erhalten Sie in Präsenzveranstaltungen und individuellen Coachings Anregungen und Impulse zum literarischen Schreiben und lernen Techniken der kreativen Textarbeit kennen.
Beide Module sind für den CAS Beraten im Bildungsbereich anrechenbar und sind mit je 1 ECTS dotiert.
Das erste Modul startet am 26. April 2023. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!

Zum Autor

Daniel Ammann ist Dozent für Medienbildung, Mitarbeiter des Schreibzentrums der PH Zürich sowie freier Literaturkritiker (SRF-Bestenliste, NZZ, Buch & Maus) und Autor. Seine Schwerpunkte sind literarisches und wissenschaftliches Schreiben, Filmbildung und narrative Kinder- und Jugendmedien. 

Der folgende Beitrag, ursprünglich veröffentlicht am 21. April 2020, wurde 2020 von allen im selben Jahr publizierten Beiträgen des Lifelong Learning Blogs am meisten aufgerufen. Gerne präsentieren wir Ihnen daher den «Best of 2020» hier noch einmal:

A good turn: das Konzept Flipped Classroom

Beitrag von Maik Philipp

Wäre es nicht schön, könnte man die Lernzeit in der (hoch)schulischen Bildung höchst (inter)aktiv nutzen? Das kann gelingen, wenn Lernende vorbereitet in die Veranstaltung kommen. Das setzt wiederum voraus, dass Lehrende ihnen zuvor (digital) eine Wissensgrundlage zur Verfügung stellen. Der «Flipped Classroom» scheint das zu ermöglichen. Zeit, dieses Konzept auf den empirischen Prüfstand zu stellen.

Flipped Classroom
Wer den Hörsaal betritt, hat sich bereits mit dem Stoff auseinandergesetzt
– so jedenfalls sieht es das Konzept des Flipped Classroom vor.

Was ist der «Flipped Classroom»?

Das Konzept des Flipped Classroom als Form des Blended Learnings erfährt momentan ein starkes Interesse in Praxis und Forschung. Wie der Name es schon andeutet, dreht das Konzept das Lernen gleichsam um, was sich in einer aktuellen und breit angelegten Definition niederschlägt: Beim Flipped Classroom

  • werden die meisten Lehraktivitäten zur Informationsübertragung aus der lokalen Lernumgebung entfernt,
  • wird die dadurch zeitlich entlastete Unterrichtszeit in der Präsenzphase für aktive und soziale Lernaktivitäten genutzt und
  • werden die Lernenden dazu verpflichtet, vor bzw. nach den örtlich durchgeführten Lektionen spezifische Aktivitäten zu absolvieren (z. B. voraufgezeichnete Vorlesungen oder andere Videos anzusehen), um so den vollen Nutzen aus dem Flipped-Classroom-Konzept zu ziehen.

Das wirkt überzeugend, weil die Lernenden eine aktivere Rolle einnehmen können und die wertvolle Zeit des Lehrens und Lernens von der Vermittlung von Fakten zunächst entlastet zu sein scheint. Ausserdem werden motivationale Grundbedürfnisse mutmasslich befriedigt und günstigere Rahmenbedingungen in puncto kognitiver Belastung geschaffen. Zudem besteht prinzipiell die Möglichkeit einer besser auf die Lernenden zugeschnittenen Darbietung der Inhalte durch Adaptionen und Differenzierung.

Das sagen aktuelle Metaanalysen aus

Ein so hoffnungsfroh stimmendes Konzept wirft natürlich die Frage auf, ob es seinen Mehrwert empirisch entfaltet. Dieser Frage gehen inzwischen diverse Studien weltweit nach. Diese wurden inzwischen auch metaanalytisch für das Lernen in Hochschulen ausgewertet, z. B. von Lo et al. (2017), Chen et al. (2018), Cheng et al. (2019), Låg & Sæle (2019), van Alten et al (2019) und Strelan et al. (2020). Die empirische Essenz dieser Metaanalysen – im Sinne statistisch signifikanter Effekte mitsamt Effektstärkenangaben (ES) – wird im Folgenden anhand verschiedener Leitfragen dargestellt.

a) Hat das Konzept Flipped Classroom einen leistungssteigernden Effekt bei kognitiven Massen?

Ja. Hier sind sich die Metaanalysen einig, wenn auch nicht unbedingt in der Höhe der Effekte, die sich teils um das Doppelte unterscheidet (ES = 0.19 (Cheng et al., 2019), ES = 0.30 (Lo et al., 2017), ES = 0.35 (Låg & Sæle, 2019), ES = 0.36 (van Alten et al., 2019), ES = 0.48 (bezogen nur auf Studierende; Strelan et al., 2020)). Die Befunde verweisen darauf, dass sich der Flipped Classroom in Testleistungen im Vergleich zu traditionellen Formen der hochschulischen Wissensvermittlung in Tests, Noten und Prüfungen auszahlt.

b) Profitieren Lernende aus bestimmten Leistungsdomänen stärker als andere?

Ja. Die Metaanalysen haben je nach zugrundeliegender Datenbasis und nach Kodierschema die Primärstudien etwas anders kodiert. Allgemein scheinen aber Lernende in Geistes- und Sozialwissenschaften besonders vom Flipped Classroom zu profitieren (Cheng et al., 2019; Låg & Sæle, 2019; van Alten et al., 2019; Strelan et al., 2020). Andere Fächergruppen zeigten allerdings auch Leitungszuwächse, diese waren im Vergleich freilich nicht ganz so stark.

Flipped Classroom
Flipped Classroom scheint sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften besonders zu bewähren.

c) Verbessert der Flipped Classroom die Motivation?

Das ist derzeit eher unklar. Eine von zwei Metaanalysen (van Alten et al., 2019) hat auf breiterer empirischer Basis geprüft, ob Personen in Flipped Classrooms zufriedener mit dieser Lernumgebung waren als Kontrollgruppenmitglieder in traditionellen Lernumgebungen. Hier gab es einen nicht-signifikanten Nulleffekt (ES = 0.05). Eine andere (Låg & Sæle, 2019) fand nur einen geringen positiven Effekt (ES = 0.16), bei dem jedoch anzunehmen ist, dass es hier eine Überschätzung aufgrund eines Publikationsbias gibt.

d) Welche Merkmale des Flipped Classrooms sind empirisch lernförderlich?

Hier haben insbesondere grosse Metaanalysen geprüft, ob es einzelne Merkmale in den einzelnen Primärstudien gab, die sich auf breiterer Basis positiv oder negativ niederschlugen. Dies wurde für Leistungsdaten in mehreren Metaanalysen tatsächlich beobachtet, allerdings nicht für viele Merkmale:

  • Formative Lernerfolgskontrollen sind hilfreich: In gleich zwei Metaanalysen erwies es sich als günstig, wenn Quiz-Bestandteile vorhanden waren, also die Studierenden zu den Inhalten der ausgelagerten Lernaktivitäten Fragen beantworteten (ES = 0.19 (van Alten et al., 2019) bzw. 0.57 (Lo et al., 2017)).
  • Die Zeit mit Lernen in Face-to-Face-Situationen sollte nicht zulasten der Flipped-Classroom-Anteile gekürzt werden. Es hat sich als lernunwirksamer erwiesen, wenn die Lernzeit mit ausgelagertem Flipped Classroom länger war als jene mit Anwesenheit in der Hochschule (ES = -0.26; van Alten et al., 2019). Dies spricht für einen ausgeglichenen Einsatz von beiden Bestandteilen des Blended Learnings.
  • Es ist lernwirksamer, das Konzept Flipped Classroom als einen hochschuldidaktischen Bestandteil unter mehreren einzusetzen. Dies ergibt sich daraus, dass sich in einer der Metaanalysen, einer der grössten bislang durchgeführten (Strelan et al., 2020), dann höhere Effekte einstellten, wenn nur ein Teil der Inhalte bzw. des Kurses über Flipped Classroom realisiert wurde (ES = 0.77 ggü. ES = 0.42 bei vollständiger Behandlung von Inhalten im Flipped-Classroom-Format).

Fazit: Auf dem Weg zum bedacht eingesetzten Flipped Classroom

Das Konzept Flipped Classroom scheint im Lichte vieler Studien ein hochschuldidaktisch sinnvolles Werkzeug zu sein, um kognitive Leistungen zu steigern. Allerdings scheint es hierbei günstiger zu sein, nicht alleinig darauf zu vertrauen, sondern ausgewählte Inhalte – und diese nicht zulasten von Face-to-Face-Lernsituationen innerhalb der Präsenzphase – zu vermitteln. Auch die niederschwellige formative Erfassung des Lernerfolgs zu den ausgelagerten Lernsituationen als Bestandteil der Face-to-Face-Settings scheint ein Merkmal des günstigen Nutzens dieser Form des Blended Learnings zu sein.

Natürlich ist diese Form des Lehrens kein Selbstgänger, sondern didaktisch und logistisch anspruchsvoll. Es ist daher besonders verdienstvoll, dass in einer sehr lesenswerten Metaanalyse von Lo et al. (2017, S. 62–66) zehn Prinzipien zum Einsatz des Flipped Classrooms nicht nur aus den empirischen Erträgen, sondern auch aus den Umsetzungsschwierigkeiten extrahiert wurden. Diese Prinzipien beziehen sich auf den grundsätzlichen Übergang (Prinzipien 1 und 2), die Gestaltung der Nicht-Präsenzphase (Prinzipien 3 bis 5) und schliesslich die Präsenzphase selbst (Prinzipien 6 bis 10).

  1. Schaffen Sie einen günstigen Übergang zum Flipped Classroom für die Lernenden. Diese sind nicht mit dem Konzept vertraut und benötigen eine Einführung.
  2. Schaffen Sie einen günstigen Übergang zum Flipped Classroom für die Lehrenden. Die Einarbeitung und Umstellung von Lehrenden auf dieses Konzept brauchen Zeit und Ressourcen.
  3. Erwägen Sie die Einführung von Einführungsmaterialien und die Bereitstellung von Online-Unterstützung in Videovorträgen. Nicht alles verstehen Lernende sofort, weshalb eine flankierende Hilfestellung durch Chats Verständnisschwierigkeiten unmittelbar beseitigen kann. Ausserdem kann es sich lohnen, komplexere Inhalte nicht in Videos, sondern in der Face-to-Face-Situation zu behandeln.
  4. Ermöglichen Sie effektives Multimedia-Lernen mithilfe von der Lehrperson erstellter Kurzvideos. Die Videos sollten nicht zu lang sein und den lernförderlichen Gestaltungsprinzipien des multimedialen Lernens folgen.
  5. Verwenden Sie Online-Übungen mit computerbasiertem Feedback, um die Vorbereitung der Lernenden zu motivieren. Um die Aneignung des Lernstoffs vorgängig zu unterstützen, empfiehlt sich der Einsatz von Feedbackmechanismen bereits in der Phase der ausgelagerten Vermittlung von Inhalten. Auch die Verwendung solcher Lernerfolgskontrollen für die finalen Noten kann erfolgen.
  6. Adaptieren Sie die Lektionsinhalte in der Präsenzphase in Bezug auf die Lernleistungen der Lernenden ausserhalb der Präsenzphase. Die Fehlanwendungen und Fragen der Lernenden, die ausserhalb der Präsenzphase erkennbar waren (z. B. im Chat oder bei Feedbackmechanismen), bieten die Möglichkeit der Konfektionierung.
  7. Aktivieren Sie die Lehrenden mithilfe einer strukturierten formativen Bewertung, z. B. eines Quiz‘ zu Beginn der Präsenzphase. Dies ermöglicht die Vorwissensnutzung, was generell als lernförderlich gilt.
  8. Fordern Sie die Lernenden auf, verschiedene Aufgaben und reale Probleme zu lösen. In solchen Anwendungen des Wissens können Motivation und Interaktion gefördert werden, zudem können sich auch kognitive Konflikte und metakognitive Prüfungen des eigenen Verständnisses ergeben.
  9. Erfüllen Sie die Bedürfnisse der Lernenden durch Feedback und differenziertere Inhalte und Vermittlungsformen. Die eingesparte Zeit durch die Auslagerung ermöglicht eine intensivere Interaktion und passgenauere Erläuterung.
  10. Fördern Sie kooperatives Lernen durch Lernaktivitäten in kleinen Gruppen. Nicht nur auf die lehrende Person kommt es an, auch die Gruppe der Lernenden kann in geeigneten Formen kooperativ lernen.
INFOBOX

Lesetipp: Die Handreichung «Lehre gestalten an der PH Zürich» liefert Anregungen und Ideen, wie Mischformen von Online- und Präsenzlehre sowie von synchronen und asynchronen Lehr-Lern-Formaten gestaltet werden können. In dieses Kontinuum wird auch der Ansatz des Flipped Classroom eingeordnet.

Zum Autor

Maik Philipp ist Professor für Deutschdidaktik an der PH Zürich. Seine Schwerpunkte sind Lese- und Schreibförderung mit Fokus auf Evidenzbasierung. Neuere Publikationen: «Multiple Dokumente verstehen» (2019), «Lesekompetenz bei multiplen Texten» (2018), «Lesestrategien» (2015) und «Grundlagen der effektiven Schreibdidaktik» (2018).

The Bridge Between Us

Text: Amel Meziane and Erik Altorfer

In spring 2019, the first network meeting of SINAN – The Swiss-North African Academic Network – took place at PH Zurich (PHZH). Lecturers and professors from colleges and universities in Tunisia, Egypt and Switzerland met during three days at the launch event of a project that was to last two years with more meetings in Tunisia in autumn 2019, Egypt (spring 2020) and a concluding symposium in Zurich (November 2021).

Second SINAN meeting, Carthage 2019

In addition to the scheduled meetings, participants had to form duos or trios with other Tunisian and Egyptian fellows in order to jointly work on topics related to teacher education. The aim of these international collaborations was to foster academic exchanges, share teaching experiences and identify similarities as well as differences in professional practices. 

The Importance of Creative Writing in Teacher Education Programmes

Lecturers with similar interests, backgrounds and the desire to make new experiences met. That is how Amel Meziane, a lecturer in English language and didactics at ISEAHZ (Higher Institute of Applied Studies in Humanities of Zaghouan), University of Tunis and Erik Altorfer, a staff member of the writing centre at PHZH embarked on a journey with the purpose to promote the importance of creative writing in teacher education programmes.

The two lecturers held creative writing sessions  for pre-service teachers. On one hand, Amel Miziane organized an informal creative writing club composed of eight pre-service teachers and six English language students, who met six times for one hour once a week. On the other hand, Erik Altorfer worked with his students in the German didactics module for secondary school students. The two lecturers jointly prepared two writing workshops – one on inner monologues and another one on aesthetic perceptions. Both workshops were based on writing creatively using pictures as a source of inspiration. 

The Power of Creative Writing

Once the creative writing sessions were over, both researchers collected relevant data based on reflective accounts which students had to fill in. They were most interested in asking the participants five questions about their feedbacks on the experiences, more specifically the impact these had on the personal, professional and academic levels. Although the data collection took place in two countries, both researchers decided to look at the similarities as well as the differences identified in the collected corpora without any interpretation based on the ground of cultural or geographical disparities. To begin with, most participants from both groups acknowledged creative writing as a way of communication which gives writers a voice to reflect upon private and life matters in a unique way. The power of creative writing to ensure psychological relief was mentioned by both groups as a very strong characteristic of creative writing. Also, its flexible artistic nature (emphasis on expression, perspective of narration, form and style rather than on more formal criteria) was seen as an asset that puts writers at ease, increases their motivation, lowers their apprehension and encourages them to overcome the difficulties they encounter in other more formal writing experiences. Both groups mentioned the effect of creative writing on developing writing skills, communication and creativity. Such findings corroborate to a great extent the literature on the benefits of teaching creative writing. Most importantly, the authors of this article strongly believe that the techniques taught in creative writing can enrich writers’ language, the style and the dramaturgy of their texts. It can also be transformed and made fruitful in other writing genres including academic writing.

Slam Poetry Competition

Poster poetry slam contest at ISEAHZ in Zaghouan, Tunisia, 2020 

Another equally interesting part of the joint endeavour was the Slam Poetry competition, that was held in both countries, yet on different dates. The Sea Between Us was chosen as a common title. Although the title hints at the sea as a barrier that stands between Tunisia and Switzerland, many candidates looked at it from various perspectives, thus yielding a variety of texts. With regard to the Tunisian call for participation, all three languages were welcomed.

Poster of the poetry slam final event in PHZH, Zurich, Switzerland, 2020

Two judges, who are also university language teachers with a great mastery of English, French and Arabic, read the texts and watched the performances with the aim of selecting the texts which achieved creativity, accuracy, relevance and depth of content. As for the competition that took place in Zurich, a jury consisting of a student, who is a tutor at the PHZH writing centre and two poetry slam authors selected eight texts. In Switzerland, the criteria for text pre-selection were content, language and performance quality. The publication of the booklet received an encouraging response.

Publication winner texts poetry slam competition and videos (QR-Codes), 2021 

The six winning texts, three of which were composed by Tunisian candidates and the remaining were written by Swiss candidates were published in a booklet (along with links to videos of the author’s performed readings) to celebrate the talent of those writers. 

In case the link does not work, please click here.

Everyone Can Write Creatively

It is worth mentioning that creative writing has long been mistakenly considered as a skill that only people born with a natural talent can master. The fruitful and enriching experience  which took place in teacher education universities in Tunisia and Switzerland questions such an assumption. Also, this unusual collaboration paved the way to a second edition of a Poetry slam competition which takes place in 2022. This time the chosen topic is «True Colors». Students, staff members and lecturers from both Zaghouan and Zurich are currently submitting their texts. As it was the case last year, a publication of the winning texts of both countries along with the QR-Codes to the performance videos is planned.

INFOBOX

The project «Swiss North African Academic Network» (SINAN), organized by the Department International Projects in Education (IPE) of the Zurich University of Teacher Education (PH Zürich), aimed to facilitate dialogue and exchange between teacher training universities in Egypt, Tunisia and Switzerland. Four meetings were held in Zurich, Zaghouan/Carthage and Cairo between March 2019 and November 2021.

About the Authors

Amel Miziane and Erik Altorfer in Carthage, Tunisia, October 2019

Amel Meziane is a lecturer in English language and didactics at ISEAHZ (Higher Institute of Applied Studies in Humanities of Zaghouan), University of Tunis.

Erik Altorfer is a staff member at the writing centre at PH Zurich, Switzerland.

Lasst uns darüber sprechen! Das Potenzial von Online-Feedback

Beitrag von Mònica Feixas und Franziska Zellweger

«Bestande» ist eine kostenlose App, die «den Studierenden den Studienalltag an der Universität und der ETH Zürich erleichtern» soll. Sie wird seit 2016 von einem ehemaligen Wirtschaftsinformatikstudenten unabhängig von den Hochschulen betrieben. Im Zentrum der App steht die Möglichkeit, die eigenen Noten und den Stundenplan zu verwalten. Mittlerweile hat «Bestande» verschiedene Zusatzfunktionen wie zum Beispiel quantitativ aufbereitete Informationen zur Schwierigkeit eines Moduls, den Notendurchschnitt sowie auch studentische Bewertungen der Qualität von Modulen. In einem Chat informieren Studierende sich gegenseitig über die Komplexität einer Prüfung, die Art der Fragen oder die Anlehnung der Prüfungsinhalte an den Kursinhalt.

Klingt praktisch? Zumindest aus Studierendensicht. Dozierende verfolgen solche studentischen Initiativen meist mit Ambivalenz. Müssen sich Dozierende auf diese Weise bewerten lassen ohne direkte Möglichkeit nachzufragen oder sich erklären zu können? Aber stellen sich für Studierende nicht ähnliche Fragen, wenn sie Feedback zur Qualität eines Leistungsnachweises zu Semesterende erhalten?

Gehaltvolles Feedback ist weit mehr als nur eine Note, Detailkommentare auf eine schriftliche Arbeit oder eine mündliche Rückmeldung auf eine Präsentation. Nach Carless & Boud (2018) ist Feedback ein Prozess, «bei dem die Lernenden Informationen über ihre Leistung erhalten und die sie nutzen, um die Qualität ihrer Arbeit oder ihrer Lernstrategien zu verbessern». Die Fokussierung auf die Übermittlung unidirektionaler schriftlicher Kommentare in der Feedback-Praxis ist typisch für das, was Carless (2015) als «altes Paradigma» bezeichnet; viele fordern einen Wechsel zu einem «neuen Paradigma», bei dem das Engagement der Studierenden mit dem Feedback und die Wirkungen des Feedbacks auf das Lernen im Vordergrund stehen. So lange Studierende nicht auf Feedback im Sinne eines Feedforward reagieren und es nutzen, gibt es keine Weiterentwicklung (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Altes und neues Feedback-Paradigma (in Anlehnung an Carless & Boud, 2018)

Aus der Perspektive des kognitiven Paradigmas liegt der Schwerpunkt von Feedback auf der Qualität der Botschaft und auf dem, was Lehrende tun, während beim neuen soziokonstruktivistischen Ansatz der Schwerpunkt auf dem Prozess der Verarbeitung des Feedbacks liegt oder darauf, was Lernende mit dem erhaltenen Feedback machen. Wir verstehen das neue Paradigma als eine Erweiterung des alten. Die Qualität der Botschaft ist immer noch wichtig, aber sie allein macht noch keinen sinnstiftenden Feedbackprozess aus. Um das Engagement mit Feedback zu stärken, ist es von grosser Bedeutung, sich auf die drei Ebenen «Aufgabe», «Prozess» und «Selbstregulation», die in den folgenden Schlüsselfragen zusammengefasst sind, zu fokussieren (Hattie und Timperley 2007; Nicol 2010):

  1. Wo will die/der Lernende hin? (Ziele, Feed up)
    • Feedback liefert den Studierenden qualitativ hochwertige Informationen über ihr Lernen.
    • Feedback hilft zu klären, was eine gute Leistung ist (Ziele, Kriterien, erwartete Standards).
    • Feedback fördert eine angemessene Selbsteinschätzung (Reflexion) beim Lernen.
  1. Wo steht die/der Studierende? (aktueller Stand, Feed back)
    • Feedback unterstützt den Dialog über das Lernen zwischen Dozierenden und Studierenden sowie zwischen Studierenden untereinander.
    • Feedback fördert positive motivationale Überzeugungen und das Selbstwertgefühl der Studierenden.
  1. Wohin als nächstes? (Schliessen der Lücke, Feed forward)
    • Feedback bietet Möglichkeiten, die Lücke zwischen aktueller und gewünschter Leistung zu schliessen.
    • Feedback ermöglicht Dozierenden, Informationen zu erhalten, die sie für die Gestaltung des Unterrichts nutzen können.

Die Fähigkeit, sich aktiv mit Feedback auseinanderzusetzen, ist eine Schlüsselkompetenz. Viele Studierende sind dafür nicht ausreichend gerüstet. Eine interessante Ressource ist das «Developing Engagement with Feedback Toolkit (DEFT)» (Winstone & Nash, 2016) zur Stärkung von Studierenden im Umgang mit Feedback.

An dieser Stelle verweisen wir auch auf den in diesem Blog erschienenen Beitrag von Georgeta Ion zum neuen Feedbackparadigma mit Fokus auf den Aspekt der Selbstregulation.

Im Kern aller dieser Ideen steht die Stärkung der aktiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Lernen. Welches Potenzial haben dabei neue Technologien?

Wie können digitale Technologien das Engagement mit Feedback unterstützen?

Nicht erst seit der Covid-Pandemie wurden zahlreiche Erfahrungen gesammelt, wie digitale Möglichkeiten wirksame Lernprozesse unterstützen könnten (OECD 2015). Um den Stand der Forschung zum Engagement von Studierenden mit Feedback in technologiegestützten Lernumgebungen zu untersuchen, hat die Erstautorin eine Literaturanalyse über den Zeitraum von 2010-2021 durchgeführt. Folgende Frage stand dabei im Fokus:

Engagieren sich die Studierenden stärker mit Feedback, wenn die Aufbereitung und Kommunikation mit neuen Technologien unterstützt wird?

Im Review-Prozess wurden Artikel aus verschiedenen Datenbanken und aus über 20 Zeitschriften in englischer, spanischer und deutscher Sprache zusammengetragen. Berücksichtigt wurden Publikationen, die von Expert:innen (Peer Review) begutachtet wurden und über die PH Zürich (Schweizer Hochschulkatalog) zugänglich sind. Dabei wurden die folgenden Schlüsselwörter verwendet: Feedback, Engagement, digital/online, Hochschulbildung, Pandemie, COVID-19, Lernumgebungen, Faktoren.

Die Ergebnisse der Literaturstudie weisen auf verschiede Aspekte hin, die für das Verständnis der digitalen Technologien zur Stärkung der Auseinandersetzung mit Feedback relevant sind (Feixas, M., Zellweger, F. & Ion, Students’ engagement with feedback in digital learning environments: a literature review of pre- and Corona studies, Geneva, 6-10.09.2021).

Qualität des Feedbacks

Der Review bestätigte, dass die Qualität der Botschaft zentral bleibt und sprachliche Elemente wie Terminologie, Sprache und Betonung sehr wichtig sind. Dozierende sollten sicherstellen, dass Kommentare verständlich, selektiv, spezifisch, kontextbezogen, nicht wertend sind und zeitnah kommuniziert werden (Nicol 2010). Studierende bevorzugen online Feedback gegenüber handschriftlichen Rückmeldungen, da die Zugänglichkeit, Lesbarkeit und Aktualität besser gegeben ist, wenn auch die handschriftliche Form als persönlicher wahrgenommen wird (Chang et al. 2013).

Aktualität von Feedback

Es hat sich gezeigt, dass online Feedback nützlicher ist, wenn es zum richtigen Zeitpunkt innerhalb eines Lernzyklus erfolgt: wenn es direkt umgesetzt und genutzt werden kann, um das Verständnis, das Lernen und das zukünftige Verhalten zu verbessern (Hepplestone et al. 2011). Ein lernförderlicher Dialog kann eher stattfinden, wenn Studierende noch voll in die Lernaufgabe eingebunden sind. Feedback ausschliesslich am Ende des Semesters oder in Form einer Note zeigt hingegen wenig Wirkung. Rechtzeitiges und individuelles Feedback steigert die positive Einstellung zum Lernen, fördert den Aufbau von Vertrauen und anerkennt die Leistungen der Studierenden.

Online-Quiz in Form von Selbsttests ermöglichen ein unmittelbares Feedback. Förster et al. (2018) fanden heraus, dass sich die Teilnahme an Quiz positiv auf die Abschlussnote auswirkte: Studierende mit schlechten Leistungen profitierten stärker von der Quizteilnahme als Studierende mit guten Leistungen. Ergänzend bieten webbasierte Antwortsysteme (z. B. Poll Everywhere, Mentimeter oder «Clicker») ebenfalls Raum für direktes Feedback (Ludvigsen et al. 2015), da die Reaktion auf eine Information sofort erfolgt. Nach Hunsu et al. (2016) haben diese aber wenig Einfluss auf die kognitiven Prozesse.

Engagement mit audio-visuellen Feedbackformaten

Mit der fortschreitenden Entwicklung der Technologie etablieren sich neben schriftlichen auch audio-visuelle Feedbackformate. Audio-visuelle Instrumente (z. B. Audio-, Video- oder Screencast-Technologie) führen zu einer grösseren Anzahl von Kommentaren im Vergleich zu schriftlichem Feedback (Thomas et al. 2017). Die Studierenden erwähnten auch, dass das Feedback leichter zu verstehen sei. Es sei umfangreicher und informativer, die wichtigsten Punkte seien besser hervorgehoben (Mahoney et al. 2019). Video-Feedback hat im Vergleich zu schriftlichem oder Audio-Feedback das Potenzial, die vertiefte Auseinandersetzung (z.B. durch mehrfache Betrachtung) und die soziale Interaktion (z.B. Studierende tauschen sich über das Videofeedback aus) zu fördern (Crook et al. 2012).

Triangulation von Feedback Quellen

Digitale Technologien erleichtern die Integration von Feedback von Peers, den Dozierenden, externen Expert:innen, der Technologie selbst (z.B. durch ein Online-Tool zur Selbsteinschätzung) oder dem Vergleich der eigenen Leistung mit jener von anderen (inneres Feedback). Die Wirkung von Feedback wird nicht durch ein einzelnes Ereignis erzielt, sondern durch die Synthese mehrerer Feedbackprozesse. Damit Studierende Feedback annehmen können, ist es förderlich, wenn sie die Gemeinsamkeiten und Tendenzen des Feedbacks erkennen, wenn das Feedback aus verschiedenen Quellen kommt, wenn es sich auf verschiedene Elemente ihrer Arbeit bezieht und wenn sie es bei verschiedenen Gelegenheiten erhalten (Kabilan & Kahn 2012).

E-Portfolios können Studierende in diesem Prozess unterstützen und ermöglichen es, personalisiertes Feedback auf der Grundlage von unterschiedlichen Bewertungsmomenten aufzubereiten (Schaaf et al. 2017). Auch Learning Analytics können Dozierende und Studierende im Lernprozess unterstützen, indem sie Daten über das Engagement der Studierenden bei Lernaktivitäten, ihre Bemühungen und ihre Leistungen sammeln (Sedrakyan et al. 2020). Aber da Algorithmen und Analytik das Potenzial haben, die Grundlogik von Bildung zu verändern, ist diese Entwicklung mit kritischem Blick zu verfolgen (Knox, Williamson & Bayne 2020).

Fazit: Online Feedback hat Potenzial

Feedback ist eine starke Kraft im Unterricht und es gibt Möglichkeiten sowie digitale Mittel um das Engagement der Studierenden mit Feedback weiter zu stärken. Die Technologie kann das Feedback verbessern – sie kann es effektiver, ansprechender, zeitnaher, dialogischer gestalten. Dies wird jedoch nicht automatisch geschehen. Selbst bei technologiegestütztem Feedback sollte der Schwerpunkt nicht darauf liegen, wie Lehrkräfte Videofeedback produzieren und vermitteln, sondern darauf, wie die Lernenden mit dem Feedback umgehen und wie sie ihre Fähigkeiten zum Umgang mit Feedback weiterentwickeln. Denn wir haben festgestellt, dass viele Anwendungen der Technologie kaum mehr tun, als alte Paradigmen der Feedbackvermittlung zu wiederholen, wenn auch über ein anderes Medium.

Um das Beispiel «Bestande» aufzugreifen, so wäre es für die Entwicklung einer sinnstiftenden Feedbackkultur wünschenswert, über das Feedback einen Dialog aufzubauen.  Wenn mehr über den Lehr-Lernprozess und künftige Strategien nachgedacht wird, also über die Ziele (feed up), die Botschaft, was funktioniert hat (feed back) und insbesondere auch, wie es weitergehen könnte (feed forward), dann wird Feedback der Studierenden auch in der Hochschullehre bedeutsam. Neben studentischen Initiativen sind dabei vor allem die Hochschulen selbst in der Pflicht. Ein guter Ansatzpunkt bietet das inzwischen breit eingesetzte Teaching Analysis Poll Verfahren, das den Dialog über die Unterrichtsqualität unterstützt.

INFOBOX

Am 2. Juni 2022 bietet das ZHE einen Kurs zum Thema an, gerne dürfen Sie sich anmelden: Feedback als Lernweg

Zudem möchten wir gerne auf die TAP (Teaching Analysis Poll)-Methode aufmerksam machen. Dies ist eine Methode, um die studentische Perspektive als Zwischenfeedback für Dozierende in die Lehre einzubringen. Das Verfahren wird an der PH Zürich aktuell breit erprobt. Dabei bauen wir auf die Erfahrungen, die unsere Kollegin Petra Weiss an der Universität Bielefeld sammeln konnte. Kontakt: petra.weiss@phzh.ch

Zu den Autorinnen

Franziska Zellweger ist Professorin für Hochschuldidaktik am Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich

Mit dem «Reflective Companion» Reflexionsprozesse sichtbar machen

Autor:innen: Gabriel Flepp, Tobias Zimmermann und Mònica Feixas

Einstiegsfrage: Welche der beiden Aussagen deutet auf tiefergreifendes Lernen hin?

Aussage A

«Man kann einem Vortrag nicht länger als 20 Minuten konzentriert folgen. Dessen war ich mir bis anhin so überhaupt nicht bewusst. Dieses neue Wissen hat einen sehr grossen Einfluss auf meinen Unterricht, der jetzt viel abwechslungsreicher ist und viel mehr Übungen und Aktivitäten enthält.»

Aussage B

«Ein Thema, das mich regelmässig beschäftigt: Wie regt man Studierende das zu lernen an, was man vermitteln möchte? Denn unser Schulsystem ist stark geprägt von einem richtig-falsch-Denken. Aber eigentlich möchten wir die Studierenden dazu ermutigen, eigenständig zu denken.»

Bitte antworten Sie hier.

Die Ergebnisse sind nach dem Ausfüllen ersichtlich. Wir gehen weiter unten im Blogbeitrag genauer auf die Beispiel-Aussagen ein.

Reflexives Denken

Komplexen Situationen mit Offenheit zu begegnen und diese kompetent zu gestalten, gehört zum professionellen Handeln von Hochschuldozierenden. Entscheidend dafür ist die Fähigkeit, das eigene Handeln reflektieren zu können.

Donald B. Schön (vgl. Schön 1992) hat vor diesem Hintergrund den Begriff des «Reflective Practitioner» als Leitfigur des Professionellen eingeführt. Er besagt, dass vor allem Reflexivität, neben Wissen, Erfahrung, Persönlichkeit und Ethos, ein massgebendes Element für professionelles Handeln ist. Reflective Practitioner durchleuchten Lehr- und Lernsituationen auf fachliche, fachdidaktische, pädagogische Ebenen und darüber hinaus. Sich ihrem eigenen Tun bewusst, analysieren sie auch pädagogische Situationen, einerseits für sich oder im Austausch mit Kolleginnen oder Kollegen. Wenn das eigene Handeln reflexiv wird, entstehen Handlungsalternativen, die es auszuloten gilt.

Reflexives Denken unterstützt Hochschuldozierende dabei, ihre akademischen und persönlichen Ziele in ihrer Rolle als Lehrende zu erreichen. Ein zielgerichteter Reflexionsprozess von Dozierenden ermöglicht es, die eigenen didaktischen Konzepte und Praktiken kritisch zu überdenken und mehr Vertrauen in den eigenen Lehransatz zu gewinnen (ganz im Sinne eines Reflective Practitioner).

Mit dem «Reflective Companion» entwickelt das ZHE ein Framework, das zur Bewertung des reflexiven Denkens in den Portfolios von Weiterbildungsteilnehmenden beitragen soll.

Das Framework für die Bewertung beinhaltet mehrere Dimensionen und betrachtet verschiedene Ebenen der Reflexivität. Die Umsetzung und Weiterentwicklung des Frameworks wird aktuell im Rahmen eines Teilprojekts des «Lernlabor Hochschuldidaktik» (kurz LeLa), vorangetrieben. Auf den bisherigen Arbeiten aufbauend wird das Framework digital aufbereitet, damit es benutzerfreundlich in verschiedenen Kontexten von Dozierenden genutzt werden kann.

Das Framework: «Reflective Companion»

Das Framework, das wir «Reflective Companion» (auf Deutsch übersetzt «Reflexion Begleiter») getauft haben, wurde dafür entwickelt, Qualitätsvorstellungen von Reflexion in Portfolios sichtbarer zu machen und entstand aus einer mehrjährigen theoretischen und wissenschaftlichen Fundierung. Denn viele Modelle, die Reflexivität erfassen, haben tendenziell denselben Zielkonflikt: Einerseits soll das Modell effizient in der Handhabung, andererseits jedoch auch ausreichend theoretisch verankert sein. Um den Einsatz des Frameworks für Hochschullehrenden möglichst einfach zu gestalten, wurde das Framework schon mehrmals überarbeitet. Angedacht ist, dass das Framework im Jahr 2022 in unseren hochschuldidaktischen CAS-Lehrgängen zum ersten Mal offiziell zum Einsatz kommt. Das Framework bildet wichtige Grundlagen, um die Teilnehmenden systematisch in ihren Reflexionsprozessen zu unterstützen. Gedacht ist es vor allem als Unterstützung bei der Selbstbeurteilung. Es kann aber auch bei Standortbestimmungen oder im Rahmen von Peerfeedbackprozessen verwendet werden.

Quelle: Adobe Stock

Grundstruktur des «Reflexive Companion»

Der «Reflective Companion» ist entlang von Inhaltsdimensionen aufgebaut. Diese entsprechen den Hauptelementen des Portfolios (siehe Abbildung 1):

Disziplin/FachLehrphilosophieEntwicklungsziele, Konzeption und Durchführung der KerninterventionEffekt der Lehre auf das LernenVerbindung Theorie & PraxisSelbsteinschätzung des Gelernten
Was wird gelehrt?Warum und wie wird es unterrichtet?Was wird untersucht? Wie wird untersucht?Was wird festgestellt?Was sind unsere theoretischen Referenzen?Was ist gelernt?
Abbildung 1: Inhaltdimensionen eines Portfolios im CAS Hochschuldidaktik

Die Portfolio-Inhalte zu den einzelnen Dimensionen können mit dem «Reflective Companion» in drei Reflexionsstufen unterschieden werden:

  1. Beschreibend: Die Schreiberin beschreibt neu erworbenes inhaltliches Wissen und Können und wie sie es umgesetzt hat. Sie reflektiert nicht (schriftlich), was dieses neue Wissen und Können für ihr Denken und Handeln bedeutet, und hinterfragt es auch nicht weiter.
  2. Reflektierend: Die Schreiberin beschreibt neu erworbenes inhaltliches Wissen und Können. Sie schildert darüber hinaus, was dieses neue Wissen und Können in Bezug auf ihr Denken und Handeln bedeutet: Wie wurde ihr Denk- und Handlungsraum erweitert/verändert?
  3. Meta-reflektierend: Die Schreiberin beschreibt neu erworbenes inhaltliches Wissen und Können. Sie schildert, was dieses neue Wissen und Können in Bezug auf ihr Denken und Handeln bedeutet: Wie wurde ihr Denk- und Handlungsraum erweitert/verändert? Zudem zeigt sie ein vertieftes Verständnis von sich selbst als lernender Person und nimmt kritische Distanz zu ihrem Lernprozess.

Beschreibung und Reflexion

Weisen inhaltliche Ausführungen in einem Portfolio eher einen beschreibenden Charakter auf, sind sie der Reflexionsstufe «beschreibend» zuzuordnen. Das erste Beispiel (Aussage A) aus der Eingangsfrage ist dieser Stufe zuzuordnen. Es stammt aus einem hochschuldidaktischen Portfolio und beschreibt die Lehr-Lern-Philosophie der schreibenden Person (vgl. unten Abb. 2): «Man kann einem Vortrag nicht länger als 20 Minuten konzentriert folgen. Dessen war ich mir bis anhin so überhaupt nicht bewusst. Dieses neue Wissen hat einen sehr grossen Einfluss auf meinen Unterricht, der jetzt viel abwechslungsreicher ist und viel mehr Übungen und Aktivitäten enthält.» Hier wird ein neues Wissenselement beschrieben und wie es die Praxis der schreibenden Person verändert hat. Das Wissen wird aber weder hinterfragt noch inwiefern sich der Denk- und Handlungsraum der Person verändert hat.

Eine solche Reflexion könnte sich z.B. in Äusserungen wie folgenden zeigen: «Die Erkenntnis, dass man einem Vortrag nicht länger folgen kann, hat in Kombination mit den Erkenntnissen aus der Hirnforschung (Aktivierung von Vorwissen, Lernen als Spurenlegen etc.) meine Haltung grundlegend verändert. Heute ist mir wichtig, dass der Aktivitätsschwerpunkt im Unterricht so oft und lange wie möglich bei den Studierenden liegt. Sie sollen sich aktiv mit den zu lernenden Inhalten beschäftigen. Dazu gehört auch, dass ich sie einmal machen lasse – auch Fehler, aus denen sie später etwas lernen können.» In einer solchen Äusserung wird deutlich präzisier erkennbar, wie das neue Wissen und Können das Lehrverhalten der schreibenden Person und ihren Umgang mit Studierenden verändert haben. Daraus wird ersichtlich, dass vertieftes Lernen stattgefunden hat: Die schreibende Person hat ihren Denk- und Handlungsraum nachhaltig erweitert.

Meta-Reflexion

Nochmals einen Schritt weiter geht die Reflexion, wenn sie quasi auch noch ihren eigenen Standpunkt in Frage stellt oder zumindest mitreflektiert. Dies ist, zumindest ansatzweise, im zweiten Beispiel (Aussage B) aus der Eingangsfrage der Fall: «Ein Thema, das mich regelmässig beschäftigt: Wie regt man Studierende das zu lernen an, was man vermitteln möchte? Denn unser Schulsystem ist stark geprägt von einem richtig-falsch-Denken. Aber eigentlich möchten wir die Studierenden dazu ermutigen, eigenständig zu denken.» Hier nimmt die schreibende Person Distanz zum eigenen Denken und Handeln. Dadurch kann sie eine Paradoxie beschreiben, an der sie sich reibt, nämlich die Frage, wie man Studierenden kritisches Denken lehren soll.

Wichtig ist, dass die hier beschriebenen Stufen aufeinander aufbauen: Eine gelungene Reflexion beruht in aller Regel auf einer guten Beschreibung, und Meta-Reflexion wird vor allem auf der Basis einer vertieften Reflexion möglich. Dementsprechend wäre es zu einfach, die verschiedenen Stufen direkt in eine Bewertung zu überführen. Ein Portfolio mit vielen beschreibenden Passagen ist nicht zwingend schwach – dies ist erst dann der Fall, wenn kaum reflexive und metareflexive Passagen enthalten sind.

Abbildung 2: Ausschnitt aus dem «Reflective Companion»

Weiterentwicklung des Frameworks

Der «Reflective Companion» wird im Rahmen des PgB-Projekts «Lernlabor Hochschuldidaktik» weiterentwickelt. Ein Projektteam mit Mònica Feixas, Gabriel Flepp und Dominic Hassler arbeitet momentan daran, das Framework in eine digitale und klickbare Version zu bringen. Weiter sollen Bewertungen/Einschätzungen einfach, aber datenschutzkonform ausgetauscht werden können.

Zudem kann das Framework Anlass sein für eine Diskussion über reflexive Praxis in der Hochschullehre, aber auch darüber wie die Entwicklung von Reflexionskompetenz von Studierenden unterstützt werden kann.

Interessierte Personen, die in ihrer Lehre in Aus- oder Weiterbildung mit dem «Reflective Companion» arbeiten bzw. ihn ausprobieren möchten, können sich gerne mit Gabriel Flepp in Verbindung setzen.

INFOBOX

Artikel zum Thema: «Degrees of reflection in academic development: Construction and application of a tool to assess critical reflection in portfolios and projects»

LeLa – Lernlabor Hochschuldidaktik für Digital Skills: www.lela.ch

Zu den Autor:innen

Gabriel Flepp ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich.

Meinungsgeröll oder wasserdichte Argumente? Zwei Schnelltests zur Diagnose

Beitrag von Alex Rickert

Schlüssig argumentieren zu können und «fake» Argumente zu erkennen, sind Schlüsselkompetenzen unserer Zeit. Noch nie war es so leicht wie heute, die eigene Meinung zu verbreiten. Digital und schnell. Im besseren Fall entstehen konstruktive Debatten. Im schlechteren Fall verhaften selbst faktenbasierte Argumentationen nicht. Immer wenn strittige Punkte verhandelt werden, tut man gut daran, zu wissen: Was ist ein schlüssiges Argument und woran erkannt man ein Scheinargument?

Diese Fragen möchte ich anhand eines Beispiels erläutern: Ein Food-Kolumnist des Magazins wollte in einer kürzlich erschienenen Kolumne seinen Leserinnen und Lesern Sojagranulat als Fleischersatz schmackhaft machen. Seine Behauptung lautete: Spaghetti Bolognese mit Sojagranulat schmeckt gleich gut wie mit Hackfleisch. Die Argumentation ging folgendermassen: 

  1. Der Geschmack der Bolognese-Sauce wird nicht durch Fleisch erzeugt.
  2. Der Geschmack der Bolognese-Sauce wird durch das Aufkochen von Öl, Zwiebeln, Tomaten, Gemüse und Knoblauch erzeugt.
  3. Sojagranulat hat keinen Eigengeschmack.
  4. Die Bolognese mit Sojagranulat schmeckt gleich (gut) wie jene mit Fleisch

Ist diese Argumentation wasserdicht? Fast. Ich komme später darauf zurück. Zuerst muss geklärt werden, was Argumente sind. Ein Argument besteht aus einer oder mehreren Prämisse(n) und einer Konklusion. Die Prämissen sind die Annahmen, aus denen die Konklusion folgt. Die Konklusion ist also diejenige Annahme, die begründet werden muss. Die Annahmen können verschieden zueinander in Relation stehen, zum Beispiel in Form von «wenn-dann»-, «genau dann-wenn»-, «und»-, «oder»-, «nicht»-, «alle(s)»- und «einige(s)»-Beziehungen (Hardy u. Schamberger 2018, 23). Zur Formulierung oder Überprüfung eines Arguments gibt es zwei Tests, die man anwenden kann, um zu eruieren, ob es überzeugend und schlüssig ist.

Solides Argument oder nur Blabla? Aussagen zu strittigen Punkten sollten genau durchleuchtet werden.

Test 1: Der Prämissentest

Der genaue Blick auf die Prämissen gibt Hinweise darauf, ob ein Argument glaubhaft ist. Man sollte sich fragen, ob die Prämissen und auch die Prämissen, die hinter den Prämissen stehen, faktisch korrekt, wahr oder mindestens plausibel sind. Zurück zum Beispiel: Ich bin kein Nahrungsmittelexperte, jedoch scheint die Prämisse (1) Der Geschmack der Bolognese-Sauce wird nicht durch Fleisch erzeugt aus meiner Sicht zumindest anzweifelbar. Die Prämisse hinter dieser Prämisse lautet, dass Fleisch entweder keinen Eigengeschmack hat oder dass der Eigengeschmack so dezent ist, dass er in der Bolognese nicht wahrnehmbar ist. Diese Prämisse wäre überprüfenswert. Das Argument überzeugt so gesehen nur bedingt.

Test 2: Der Schlüssigkeitstest 

Der zweite Test nimmt die innere Logik des Arguments unter die Lupe. Bei der Überprüfung der Schlüssigkeit (oder Gültigkeit) eines Arguments kommt es darauf an, ob die Konklusion sich logisch aus den Prämissen ergibt. Für den Schlüssigkeitstest spielt es keine Rolle, ob die Prämissen inhaltlich wahr oder falsch sind. Die zentrale Frage lautet: Können alle Aussagen des Arguments gemeinsam zutreffen? Übertragen auf das Beispiel ist zu prüfen, ob die Sätze (1) – (4) widerspruchsfrei gleichzeitig der Fall sein können. Können sie das? Ja. Ein Verstoss gegen die Schlüssigkeit des Arguments würde vorliegen, wenn die erste Prämisse beispielsweise lauten würde: Fleisch trägt wesentlich zum Geschmack der Bolognese-Sauce bei. Das würde verunmöglichen, dass die Bolognese in beiden Varianten gleich schmeckt. Aus formal-logischer Sicht ist die Argumentation des Kolumnisten also schlüssig. Dieser Test lässt sich auf alle deduktiven Argumente anwenden.  

Schwieriger ist es allerdings, induktive Argumente auf Schlüssigkeit zu überprüfen, da die Wahrheit der Schlussfolgerung nicht garantiert ist. Ein Beispiel: Angenommen zwanzig Personen würden im Direktvergleich keinen Unterschied zwischen Soja-Bolognese und Fleisch-Bolognese schmecken. Daraus würde man schliessen, dass dies für alle Personen zutrifft. Die Wahrheit dieser Konklusion ist aber nicht garantiert. Die Schlussfolgerung ist vorläufig und nur so lange gültig, bis sie widerlegt wird.

Induktive Argumentationen sind in der Wissenschaft und auch im Alltag gängig, sie legen aber einige Fallstricke, die es zu beachten gilt (Walter u. Wenzl 2016, 62-66). Diese sind:

  • Voreiliges Generalisieren aufgrund einzelner/weniger Beobachtungen 
  • Unpassende/falsche Kausalitäten (z.B. fleissiger Schüler -> prädestiniert für Arztberuf) 
  • Kausale Fehlschlüsse (z.B. Arbeitslosigkeit führt zu Depression. Die Kausalität ist u.U. umgekehrt) 
  • Vernachlässigung von verfügbaren Informationen 
  • Analogiefehler (Übertragung eines Zusammenhangs aus einem Bereich auf einen anderen)

Argumente sind mächtige Instrumente. Sie haben das Potential, Klarheit zu schaffen in der Frage, ob eine Sache wahr oder falsch ist, recht oder unrecht, schön oder hässlich. Plausible und schlüssige Argumente räumen mit Meinungsgeröll auf. Die zwei vorgestellten Tests helfen dabei, gute Argumente zu formulieren oder Argumente zu überprüfen. Und falls der Kopf vor lauter Argumentieren zu rauchen beginnt, bereitet man am besten Spaghetti Bolognese mit Sojagranulat zu. Das schmeckt genau gleich gut wie mit Hackfleisch. Oder etwa nicht?

INFOBOX

Das Schreibzentrum bietet ab 2022 eine CAS-Schiene mit drei Weiterbildungsmodulen zum Thema Schreiben und Schreibberatung im Rahmen des CAS «Beraten im Bildungsbereich» an. Die Module können einzeln oder als Teil des CAS gebucht werden.

Zwei von drei Modulen sind schon online:

«Dem eigenen Schreiben auf der Spur» – kreativ, biografisch, fiktional (6.4.–24.8.2022)

Wissenschaftliches Schreiben: schriftliche Arbeiten gezielt analysieren und Studierende effektiv unterstützen (28.9.–16.11.2022)

Zum Autor

Alex Rickert leitet das Schreibzentrum der PH Zürich. Er ist Dozent für Deutschdidaktik und leitet Weiterbildungen und Workshops zu wissenschaftlichem und beruflichen Schreiben sowie zu schulischer Lese- und Schreibförderung.

«Student Engagement» als Perspektive für die Studiengangsentwicklung

Februar 2020, eine leere Agenda, ein lausiger Winter am Bielersee. Zu Beginn meines halbjährigen Weiterbildungssemesters, das ich an einer kleinen Westschweizer Pädagogischen Hochschule verbringen wollte, habe ich mich in die Literatur zur Gestaltung der Studieneingangsphase von Bachelorstudiengängen vergraben. Wie könnte diese ausgestaltet werden, um der wachsenden Diversität der Studierenden zu begegnen? Dabei stiess ich auf das im deutschsprachigen Raum noch wenig diskutierte Konzept des Student Engagements.

Student Engagement – Ursprünge der Diskussion

Die Prämisse, dass das Engagement der Studierenden ein wesentlicher Prädiktor für Studienerfolg darstellt, ist Grundlage für einen umfangreichen Diskurs im US-amerikanischen Raum vor dem Hintergrund hoher Drop-out-Quoten. Student Engagement als Konzept hat nicht nur in der Forschung, sondern auch im Qualitätsmanagement hohe Aufmerksamkeit erzeugt durch die von George Kuh und seinen Mitarbeitenden ins Leben gerufene National Survey of Student Engagement. Student Engagement wird dabei definiert als «the energy and effort that students employ within their learning community, observable via any number of behavioral, cognitive or affective indicators across a continuum» (Bond et al., 2020, S. 317). Es wird als Rahmenkonstrukt verstanden für eine Reihe von Ideen, die auf Forschung über Lernerfahrungen und deren Einfluss auf das studentische Lernen beruhen.  Ausgehend davon setzte unter dem Stichwort High Impact Practices auch eine hochschuldidaktische Diskussion ein, die Praktiken ins Zentrum stellte, die empirisch nachweisbar einen hohen Einfluss aufs Lernen haben. Dazu gehören beispielsweise Seminare im ersten Studienjahr, die eine kleine Gruppe von Studierenden in einen regelmässigen Kontakt mit einer/einem Dozierenden bringen: «The highest-quality first-year experiences place a strong emphasis on critical inquiry, frequent writing, information literacy, collaborative learning, and other skills that develop students’ intellectual and practical competencies» (Kuh, 2008, S. 34ff.).

Eine sozio-kulturelle Perspektive

Ein persönliches Schlüsselerlebnis war noch im Februar 2020 die Lektüre von Ella Kahus Rahmenmodell (vgl. Abbildung 1). Ein halbes Jahr später konnte ich sie gewinnen für den Auftakt einer Webinartriologie.

Diese Arbeiten rund um die standardisierte Messung von Student Engagement wurden von Ella Kahu aus einer sozio-kulturellen Perspektive kritisiert, da diese stark das effektive Tun der Studierenden ins Zentrum stellen, das emotionale Erleben aber wenig Beachtung erfährt. Wie sie in ihrem Webinar ausführte, nimmt sie in ihrer Arbeit mit nicht-traditionellen Studierenden in Neuseeland einen sozio-kulturellen Blick ein und entwickelt das in Abbildung 1 dargestellte Rahmenmodell. Sie versteht studentisches Engagement als eine gemeinsame Verantwortung der Lernenden und der Institution. Als wichtige moderierende Konstrukte, die das Engagement der Studierenden beeinflussen, diskutiert sie die Selbstwirksamkeit, das emotionale Erleben, das Gefühl von Zugehörigkeit sowie das Wohlbefinden der Studierenden.

Abbildung 1. Rahmenmodell nach Kahu & Nelson, 2018, vgl. Video Ella Kahu ab Minute 15:00

Mein Weiterbildungssemester, aber auch meine Forschungsfragen nahmen nach vier Wochen mit dem Lockdown im März 2020 eine überraschende Wendung. Wäre es nicht wichtig zu untersuchen, wie es um das studentische Engagement auf Distanz steht?

Die Rolle von Educational Technology

Wer sich mit der Rolle von Educational Technology und studentischem Engagement auseinandersetzt, stösst früher oder später auf die systematischen Literatur Reviews von Melissa Bond. Besonders spannend ist die laufend weiterentwickelte Sammlung von Arbeiten zur Pandemie.

In einem weiteren Webinar zeigte Melissa eindrücklich auf, wie sich in der Literatur die Bedeutung gewisser Engagement Indikatoren in Flipped Learning (vgl. Abbildung 2 linke Spalte) im Vergleich zu Untersuchungen zur Pandemie (rechte Spalte) darstellt, auch wenn natürlich ein direkter Vergleich nur unter Vorbehalten möglich ist.

Abbildung 2. Top Engagement und Disengagement Indikatoren im Vergleich zweier Studien (vgl. Video Melissa Bond ab Minute 51:00)

In der Betrachtung der Engagementfaktoren fällt in der Flipped Learning Studie die hohe Bedeutung der Interaktion im Vergleich zur Pandemie auf. Im Bereich der Disengagement Faktoren ist denn auch die soziale Isolation als grosse Herausforderung während der Pandemie bemerkenswert. Darüber hinaus variiert die Häufigkeit, in welcher über Disengagement in der Literatur berichtet wird, kaum. Frustration und Verwirrung sind dabei zentrale Faktoren, die ein Engagement erschweren.

Die Ergebnisse aus unserer eigenen Forschung in der Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerbildung im Frühlingssemester 2020, aber insbesondere auch in der Untersuchung der Erstsemesterstudierenden im Winter 20/21 zeigen in eine ähnliche Richtung. Die zugewandte und verlässliche Kommunikation der Dozierenden, der aktivierende Charakter der Lernumgebung sowie Feedback und Assessment stehen in einem deutlichen Zusammenhang mit dem Engagement. Besonders relevant scheint vor allem aber ein vertieftes Verständnis der emotionalen Dimension. Die Selbstwirksamkeit, lernbezogene Emotionen, Belastung und das Zugehörigkeitsgefühl sind Ansatzpunkte zum Verständnis des sehr heterogenen Erlebens in dieser aussergewöhnlichen Studienzeit.

Perspektiven für die Studiengangsentwicklung – Ein Zwischenfazit

In der Bewältigung der Pandemie ist vor allem die Frage im Fokus, welcher Umfang und welche Qualität Präsenzlehre künftig einnehmen soll und inwiefern Phasen des Wissenserwerbs virtualisiert werden könnten. Verhandelt wird eher die äussere Form denn die Frage, welcher Rahmen die sehr unterschiedlichen Studierenden in ihrem Engagement unterstützt. Aus meiner Sicht sollten vielmehr folgende Fragen ins Zentrum gerückt werden:

  • Wie steht es um das aktive Lernen im Sinne eines kognitiven Engagements? Was brauchen Studierende, um sich vertiefter auf Lernprozesse einzulassen? Welche Lernstrategien? Wieviel Freiraum und wie viel Struktur? Welche Form des sozialen Austauschs? Wie sind aktivierende Aufgaben zu gestalten?
  • Welche Lernkultur unterstützt das emotionale Engagement und die soziale Integration? Inwiefern müsste die Rolle der Peers stärker in den Fokus gerückt werden?

Solche Fragen können nicht ein für alle Mal unabhängig des Kontexts eines spezifischen Studiengangs geklärt werden. Anknüpfend an Kahu stehen Studierende und die Institution in einer gemeinsamen Verantwortung. Die Diskussion um studentisches Engagement ist denn auch eng verbunden mit jener der studentischen Partizipation. Im dritten Webinar plädiert Peter Felten für einen ressourcenorientierten Blick auf die Studierenden (Make higher education ready for students not students for higher education) und einen «partnerschaftlichen» Rahmen, in welchem sich Studierende engagieren können. High Impact Practices sind nicht nur wirksam, weil sie kognitiv anregend sind, sondern weil sie Studierende emotional anders in die Hochschule integrieren.

Während ich an diesem Text arbeite, herrscht draussen graues Oktoberwetter (2021). Die Studierenden sind mehrheitlich zurück am Campus. Ist somit alles wieder beim Alten? In der Auseinandersetzung mit dem Konzept des Student Engagements ist für mich deutlich geworden, dass wir aus institutioneller Perspektive noch viel bewusster an einem Rahmen arbeiten sollten, der das Engagement vielfältiger Studierender unterstützt. Vor Ort oder virtuell ist dabei eine nachgelagerte Frage. Engagieren wir uns doch gemeinsam für ein vertieftes Verständnis über Bedingungen, Wirkungen und Ansatzpunkte zur Stärkung studentischen Engagements. Wo setzen Sie an?

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

Bond, M., & Bedenlier, S. (2019). Facilitating Student Engagement through Educational Technology: Towards a Conceptual Framework. Journal of Interactive Media in Education, 2019(1), 1-14.

Kahu, E. R., & Nelson, K. (2018). Student engagement in the educational interface: understanding the mechanisms of student success. Higher Education Research & Development, 37(1), 58-71.

Bovill, C., Cook-Sather, A., Felten, P., Millard, L., & Moore-Cherry, N. (2016). Addressing potential challenges in co-creating learning and teaching: overcoming resistance, navigating institutional norms and ensuring inclusivity in student–staff partnerships. Higher Education, 71(2), 195-208.

Zur Autorin

Franziska Zellweger ist Professorin für Hochschuldidaktik am Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich

Führen von Expertinnen und Experten – eine komplexe Aufgabe

Beitrag von Geri Thomann

Führungsaufgaben in Expertinnen- und Expertenorganisationen gelten allgemein als anspruchsvolle Tätigkeit. Mintzberg (1979) bezeichnet die Bedingungen und Funktionsweisen von Expertinnen- und Expertenorganisationen in ihrer schöpferischen Aufgabe als «Profi-Bürokratie». In Abgrenzung zur «Maschinen-Bürokratie» ist die «Profi-Bürokratie» gekennzeichnet durch die grosse Anzahl an Mitarbeitenden, die fachlich hoch qualifiziert sind und eine erhebliche Kontrolle über die eigene Arbeit haben.

In der Summe werden dabei jedoch häufig ambivalente und teilweise paradoxe organisationale Bedingungen für Expertenorganisationen sichtbar (Thomann & Zellweger, 2016, S. 49).

  • Expertinnen- und Expertenorganisationen zeichnen sich durch Mitarbeitende aus, die hoch qualifizierte Spezialistinnen und Spezialisten sind und in ihrem Fachbereich möglichst autonom arbeiten wollen und können. Sie verfügen folglich über eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit und ein nicht zu unterschätzendes Beharrungsvermögen. Nur mit überzeugenden Argumenten lassen sie sich in eine bestimmte Richtung bewegen. Widerstand gegen Entscheidungen von aussen ist Programm, flache Hierarchien und Konzepte des Intrapreneurships führen zu Konkurrenz, zu Machtkämpfen und zu Deregulierung – und dadurch wieder zu übergeordnetem Regulierungsbedarf.
  • Expertinnen- und Expertenorganisationen kennzeichnet, dass Expertinnen und Experten sich eher ihrer jeweiligen Berufsgruppe gegenüber verpflichtet sehen als der organisatorischen Einheit, oder der Gesamtorganisation zu der sie gehören. Karriere und Laufbahnen werden mehrheitlich in der Logik der Profession und damit weniger abhängig von der Organisation definiert. Dies schafft eine Ambivalenz zwischen inhaltlicher Profilierung in der Fachcommunity und dem organisationalen Commitment. Eine Paradoxie besteht darin, dass gerade die Reputation der einzelnen Expert:innen zentral ist für die Reputation der Gesamtorganisation (Laske et al. 2006, S. 207).
  • Inhaltliche Fachexpertise verfügt zudem traditionsgemäss über einen höheren Status als Führungs- (oder Management-)Expertise, sie repräsentiert sozusagen das «Kapital der Organisation». Führungsentscheidungen werden bei Expert:innen deshalb ambivalent bis skeptisch wahrgenommen; es ist zudem eine grundsätzliche Hierarchieaversion zu konstatieren.
  • Partizipation an Entscheidungen gehört zur organisationalen Kultur in Expertinnen- und Expertenorganisationen – gleichzeitig ist nicht selten latent eine subtile fachliche Konkurrenz allgegenwärtig.
  • In Expertinnen- und Expertenorganisationen stehen inhaltlich orientierte Aufgaben in Spannung zu Verwaltung und Management. Beide Kulturen benötigen unterschiedliche (Führungs-)Konzepte. Eine solche Spannung ist nicht einfach auflösbar, kann aber durchaus produktiv genutzt werden.
  • Zudem lassen die Anforderungen an eine zunehmende Spezialisierung auf Seiten der Expert:innen oft Organisationsstrukturen entstehen, welche nach fachlichen Profilen aufgebaut sind. Dies führt wiederum zu einem wachsenden Integrationsbedarf auf der Ebene Gesamtorganisation. Die notwendige Verknüpfung von hoch autonomen Einheiten ist anspruchsvoll.
  • Einerseits sollen sich gerade staatliche Expertinnen- und Expertenorganisationen zunehmend kostenbewusst oder sogar unternehmerisch verhalten. Andererseits kann das Spannungsfeld zwischen den Steuerungsebenen (staatliche Geldgeber, strategische Führung und operative Führung) eine Paradoxie erzeugen: Die Forderung nach unternehmerischem Handeln wird andauernd durch bürokratische Vorgaben unterlaufen.

Führungshandeln als «Covert Leadership»

Für die Leitung von Expertinnen- und Expertenorganisationen benötigen Führungspersonen nach Mintzberg (1998, S. 140-147) spezifische Fähigkeiten, welche unter dem Begriff «Covert Leadership» zusammenfasst werden. Mit Covert Leadership ist ein Verständnis von Führung gemeint, welches im konkreten Prozess der Zusammenarbeit auf der Basis von Vertrauen, Beziehungsorientierung und Respekt «aus dem Hintergrund» Einfluss nimmt.

In den letzten Jahren zeigt sich in Expertinnen- und Expertenorganisationen – gerade an Hochschulen – ein neues Führungsverständnis, welches auf dem Covert Leadership Gedanken aufbaut. Als Beispiel sei hier die laterale Führung genannt (Thomann & Zellweger 2016 oder Zellweger & Thomann 2018). Dieses Modell beruht auf flacheren und flexibleren Strukturen und der Zunahme von «Hybrid Professionals» (Kels & Kaudela-Baum 2019, S. 21), welche ihre Expertise «quer», transdisziplinär und projektbezogen aufbauen. Mit anderen Worten: Lateral Führende verfügen über keine formalen Weisungsbefugnisse, über keine disziplinarischen oder andere direkten Sanktionsmöglichkeiten. Die Geführten sind nicht zwingend aus derselben Organisationseinheit und bewegen sich oft auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen.

Führung und Expertise – ein Spannungsfeld

Das Spannungsfeld zwischen Führung und Expertise kann nicht aufgelöst werden, es kann lediglich ein für die Institution und seine Ziele förderlicher Umgang gefunden werden. Für die Führungspersonen – aber auch für die Expert:innen – können sich dabei unter anderem folgende Fragen stellen:

  • Inwiefern müssen Führungskräfte zu ihrer Legitimation über einen so genannten Berufsfeldbezug verfügen? Wie führt man Expert:innen ohne eigene Expertise im selben Fachbereich?
  • Wie wird Führungsexpertise im Vergleich zu inhaltlicher Expertise oder fachlicher Erfahrung gewichtet und bewertet, wie ist der Status von Führung in Expertenorganisationen? Wieviel inhaltliche Erfahrung oder aktuelles Fachwissen brauchen Führungskräfte, um führen zu können?
  • Inwieweit können Führungskompetenzen Fachkompetenzen ersetzt oder kompensiert werden? Wie steht es mit der Führungskompetenz als Expertise?
  • Inwieweit stimmt die Hypothese der (latenten) Konkurrenz zwischen Führungspersonen und Expert:innen? Was bedeutet das für das Führungshandeln?
  • Wie ist die Sicht der Geführten «im Sandwich» zwischen Fachexpertise und Management? Handelt es sich dabei eher um ein Spanungsfeld?
  • Wie lässt sich autonomes Handeln von Expert:innen steuern? Wie reagieren Expert:innen darauf?
  • Wie reagieren Expertinnen- und Expertenorganisationen und ihre Führungskräfte auf Krisen, wie bewältigen sie diese?
Die drei Gastgebenden des diesjährigen Kaminfeuergesprächs «Führungskräfte als Schlüsselpersonen für organisationale Resilienz» auf Schloss Au: Geri Thomann, Wiltrud Weidinger und Sylvia Kaap-Fröhlich.

Mit solchen Fragen beschäftigen sich Expert:innen aus Bildung und Gesundheit seit 2017 an den so genannten Kaminfeuergesprächen für Führungskräfte auf Schloss Au – veranstaltet von der PH Zürich in Zusammenarbeit mit dem Careum Bildungsmanagement.

INFOBOX

Die fünfte Durchführung des Kaminfeuergesprächs der PH Zürich mit dem Titel «Führungskräfte als Schlüsselpersonen für organisationale Resilienz» findet am 9. Dezember 2021 von 15.30-20.30 Uhr auf Schloss Au in Wädenswil statt.

Integriert findet dabei die Vernissage des Band 11 der Buchreihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung, «Zwischen Expertise und Führung», statt.

Zum Autor

Geri Thomann ist Leiter der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Als Inhaber einer ZFH-Professur forscht und publiziert er regelmässig über Aspekte der Hochschulentwicklung und Führungsfragen.

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