Erwachsenenbildung auf Expansionskurs

Beitrag von René Schneebeli

Als Teil des Bildungswesens hat die Erwachsenenbildung bzw. Weiterbildung in den letzten Jahrzehnten enorm expandiert. Kein anderer Bildungsbereich erreicht so viele Menschen und begleitet sie so lange. Die Kompensation von früheren Bildungsdefiziten, die Entwertung des Wissens sowie der technologische und wirtschaftliche Wandel treiben diese Entwicklung weiter voran. 2016 beteiligten sich in der Schweiz 62 Prozent der Bevölkerung an einer Weiterbildung (BfS, 2018). Die etwa 100’000 Weiterbildungen, die von mehr als 2’500 staatlichen und privaten Organisationen (Schläfli & Sgier, 2014) angeboten werden, generieren ein Marktvolumen von ungefähr 5,3 Milliarden Franken (BfS, 2018) und machen die Weiterbildung damit auch zu einem veritablen Wirtschaftsfaktor.

Berufsbildung
Weiterbildung bzw. Erwachsenenbildung ist ein heterogenes Feld.

Weiterbildung ist ein sehr heterogenes Feld: Sie erfolgt über die ganze Lebensspanne, in den verschiedensten Lernwelten und Lernarten (informell, formal und non-formal ) und in den unterschiedlichsten Formaten (Kurse, Seminare, Tagungen etc.). Auch die Motive für die Teilnahme streuen breit: Die Teilnehmenden wollen Wissen erwerben, Karrierechancen erhöhen oder etwas Nützliches lernen. Sie tun es schlicht zum Vergnügen oder weil sie ein persönliches Interesse haben (BfS, 2018).

Weiterbildung zwischen Staat und Markt

Diese Heterogenität spiegelt die Vielfalt der gesellschaftlichen Bedürfnisse, die an die Weiterbildung gestellt werden. Die Dynamik in Gesellschaft und Arbeitswelt verlangt dafür schnelle, flexible und passgenaue Angebote, die keine formale Qualifikationen brauchen. Das führt zu einer marktnahen Ausgestaltung des Weiterbildungsmarkts, die sich weitgehend der staatlichen Steuerung und Kontrolle entzieht.

Umso bemerkenswerter ist in diesem Zusammenhang die Einführung des Weiterbildungsgesetzes. Zwar nennt das Gesetz in den Grundsätzen die Verantwortung des Einzelnen sich weiterzubilden. Gleichzeitig anerkennen Bund und Kantone damit die volkswirtschaftliche Bedeutung der Weiterbildung und machen sie zu einem vollwertigen Bildungsbereich. Trotzdem spiegelt sich das Paradigma vom lebenslangen Lernen nur halbherzig im politischen Handeln. Das Gesetz beinhaltet nur wenige, punktuelle Fördertatbestände und ist mit verhältnismässig bescheidenen finanziellen Mitteln ausgestattet. Dies, obwohl Bildungsdisparitäten, Angebotslücken, Intransparenz und Qualitätsdefizite Grund genug für staatliche Interventionen wären, um Funktionalität und Effektivität des unterdessen grössten Bildungsbereichs sicherzustellen.

Professionalisierung in der Weiterbildung

Diese ambivalenten Entwicklungen in der Politik und der noch immer fehlende Sukkurs der Gesellschaft prägen letztlich das Selbstverständnis des Weiterbildungspersonals. Beides sind jedoch Voraussetzungen um dieser Berufsgruppe als Kollektiv Autonomie und Selbstverpflichtung in ihrem Tätigkeitsbereich zuzubilligen und individuelle Professionalität zu ermöglichen (Nittel & Seltbrecht, 2008). Eine eigentliche Professionalisierung hat deshalb auch noch nicht stattfinden können. Davon zeugen die noch immer prekären Arbeitsverhältnisse, eine fehlende Lobby und eine nicht existierende Gewerkschaft. Kein Wunder also, gelingt es bis heute nur wenigen in der Branche, ihre Tätigkeit zum Kern ihrer Erwerbsarbeit zu machen.

Wenn der Weiterbildung aber die Aufgabe der Scharnierfunktion zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und die Förderung der Chancengerechtigkeit zufällt, dann bestehen sowohl betriebs- als auch volkswirtschaftliche Interessen, diese Lernprozesse professionell zu gestalten. Damit verbunden sind allerdings auch Ansprüche an die Kompetenzen und Qualifikationen des Weiterbildungspersonals, die aufgrund des sehr heterogenen Berufsfelds wohl nicht einfach umzusetzen sein dürften.

Erwachsenenbildung
Weiterbildung bildet das Scharnier zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt.

Die Rolle der Hochschulen in der Erwachsenenbildung

Professionalisierung hat auf der individuellen Ebene massgeblich mit Kompetenzentwicklung zu tun. Die Akteure in der Weiterbildung müssen sich dafür mit Theorien zum Lernen Erwachsener in den unterschiedlichsten Lebenskontexten auseinandersetzen und daraus wirksame Lehr- und Lernarrangements entwickeln.

Die Basis dafür bildet die etablierte wissenschaftliche Disziplin der Erwachsenenbildung. Sie generiert wissenschaftliches Wissen zum Lernen Erwachsener, zu Wissen und Kompetenz, zu professionellem Handeln, zur Institutionalisierung sowie zu System und Politik. Durch das Weiterbildungsgesetz wurde die Weiterbildungsforschung nicht tangiert. Die Beantwortung theoretischer Fragen wurde lange Zeit nur punktuell von den unterschiedlichsten Bezugsdisziplinen vorgenommen. Mit den ersten Professuren zur Erwachsenenbildung an der Fachhochschule der Nordwestschweiz und der PH Zürich begann sich das zu ändern. Die Professur in Zürich trägt neben der Erwachsenenbildung auch die höhere Berufsbildung im Titel. Das scheint nicht ohne Wirkung geblieben zu sein. Insbesondere durch die Digitalisierung und den Strategieprozess «Berufsbildung 2030» fehlen aktuell an vielen Orten in der Erwachsenenbildung – und insbesondere in der höheren Berufsbildung – wissenschaftsbasierte Grundlagen für die Neugestaltung von Bildungsangeboten und dazugehörige Regularien. Entsprechend haben sich an der PH Zürich die Anfragen zu den Dienstleistungen und Weiterbildungsangeboten in diesem Bereich erhöht.

Die PH Zürich hat sich aufgrund dieser Entwicklungen entschieden, das neue Zielpublikum der höheren Berufsbildung sowie der Erwachsenenbildung mit einem dezidiert forschungsorientierten Angebot anzusprechen. Es soll praxisorientierte Angebote nicht konkurrenzieren, sondern um die Perspektive der Wissenschaft ergänzen. Angesiedelt wird das Angebot bei der Einheit, die bisher für die Weiterbildung der Berufsfachschulen zuständig war und das auch bleiben wird. Die Erweiterung um die neuen Zielpublika wird auch zu einer Anpassung des Einheitsnamens führen: Ab dem 1. Mai 2020 heisst dieses Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung.

INFOBOX

Willkommen zum Startanlass!

Der Angebotsstart erfolgt mit der Abendveranstaltung vom 24. September 2020. Thema sind Prozesse der Digitalisierung in Bildungsgängen und Angeboten der höheren Berufsbildung und Erwachsenenbildung.  Erik Haberzeth stellt Forschungsbefunde vor und Dominic Hassler wird diese Befunde exemplarisch für didaktische Fragen nutzbar machen. Es folgt ein Panel-Gespräch mit den Referierenden sowie mit Brigitte Steinmann vom MBA, zuständig für die höhere Berufsbildung im Kanton Zürich und Reto Wegmüller, Prorektor des KV Zug. Wir schliessen den Abend mit einem kleinen Apéro. Anmelden können Sie sich hier.

Zum Autor

Rene_Schneebeli_swRené Schneebeli ist Leiter des Zentrums Weiterbildung Berufsfachschulen der PH Zürich

 

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Von Lernherausforderungen zu Lerngelegenheiten

Beitrag von Petra Weiss

Decoding the Disciplines
Das eigene Fach muss von Lehrenden für Lernende entschlüsselt werden.

«Meine Studierenden können keine Texte lesen.» – «Die Studierenden haben ja überhaupt keine Mathe-Kenntnisse.» Solche und ähnliche Aussagen äussern Lehrende immer wieder, z.B. im Rahmen hochschuldidaktischer Fortbildungen. Was steckt dahinter? Woran machen Lehrende ihre Einschätzungen fest? Und wie gehen sie weiter damit um? Nehmen sie ihre Eindrücke resigniert zur Kenntnis und fahren ratlos und eher unlustig mit «ihrem Stoff» fort, in der Hoffnung, dass sich das schon irgendwie geben wird? Oder aber: Können sie genau diese Knackpunkte in Lehrveranstaltungen für das Lernen «fruchtbar» machen und dazu nutzen, echte Lerngelegenheiten zu schaffen?

Denk- und Arbeitsweisen vermitteln

Mit dieser Grundidee arbeitet der Decoding-the-Disciplines-Ansatz, den David Pace und seine Kollegin Joan Middendorf bereits 2004 an der Indiana University entwickelt haben.

Implizites explizit machen! Der Decoding-Ansatz basiert auf dieser fast schon trivialen Forderung. Doch gerade in der Hochschullehre kommt es nicht selten vor, dass Lehrende Inhalte oder Vorgehensweisen, die für sie vollkommen selbstverständlich geworden sind, nicht (mehr) zum Gegenstand der Lehre machen. Aber genau solche automatisierten und selbstverständlichen fachlichen Denk- und Arbeitsweisen sollen «bewusst» vermittelt werden. (Mehr dazu erfahren Sie im Workshop «Denken im Fach vermitteln – Lernhindernisse überwinden».)

Decoding the Disciplines in sieben Schritten

Wie finden Lehrende nun aber heraus, was sie tatsächlich tun, wenn sie (wissenschaftlich) arbeiten? Hier kommt die Reflexion ins Spiel. Durch das Nachdenken über eigene Erfahrungen, über das eigene wissenschaftliche Denken und Handeln können sie identifizieren, was sie genau tun, welche Denk- und Arbeitsschritte sie verfolgen, um fachliche Fragestellungen zu bearbeiten. Im Folgenden wird anhand von sieben Schritten erklärt, wie der Decoding-Ansatz konkret funktioniert:

Decoding the Disciplines
Decoding: sieben Schritte zur Identifikation disziplinärer Denk- und Arbeitsweisen (Abbildung nach: Kaduk und Lahm 2018, 84)
  • Schritt 1: Lehrende identifizieren (disziplinäre) Lern- oder Erkenntnishindernisse von Studierenden, z.B: Studierende können keine Texte interpretieren. Sie bilden zu wenige Hypothesen und kommen zu schnell zu Schlussfolgerungen oder wissen nicht, wie sie wissenschaftliche Literatur lesen (sollen).
  • Schritt 2: Das Problem wird genauer gefasst. Lehrende springen also nicht direkt zur Lösungssuche, sondern reflektieren zunächst, wie sie selbst als Fachexpert/innen vorgehen, wenn sie das tun, woran ihre Studierenden scheitern: Was macht eine Literaturwissenschaftlerin, wenn sie einen Text interpretiert? Wie kommt ein Biologe zu Thesen?
  • Schritt 3: Lehrende überlegen, wie das eigene Vorgehen für Lernende modelliert, d.h. nachvollziehbar und anschaulich gemacht werden kann. Wie liest z.B. eine Historikerin einen Text?
  • Schritt 4: Lehrende entwickeln Ideen für Aufgabenstellungen, mit denen sie Lernende fachliche Vorgehensweisen üben lassen können.
  • Schritt 5: Hier werden motivationale und affektive Aspekte in den Blick genommen, z.B: Wie bringen Lehrende Studierende dazu, wissenschaftliche Texte anders zu lesen als Romane?
  • Schritt 6: Lehrende überlegen, wie sie Rückmeldung einholen und das Gelernte prüfen können.
  • Schritt 7: Ein wichtiger Aspekt des Modells ist schliesslich die Frage, wie die eigenen Überlegungen und Lösungsmöglichkeiten mit anderen Lehrenden geteilt werden können.

Was sind Bottlenecks?

Decoding the Disciplines Bottlenecks
Der Decoding-Prozess startet mit der Identifikation von Bottlenecks.

Ausgangspunkt des Decoding-Ansatzes sind Lernhindernisse oder Lernengpässe, sogenannte Bottlenecks. Bottlenecks können essenzielle Konzepte oder zentrale Fähigkeiten eines Fachs sein, die den Studierenden beim Verstehen und Erlernen Schwierigkeiten bereiten oder sie gar scheitern lassen. Die Studierenden kommen im jeweiligen Fach jedoch nur weiter, wenn sie diese grundlegenden Konzepte erworben oder verstanden haben.

Auf die Identifikation und exakte Analyse der Lernhindernisse legt der Decoding-Ansatz mit den Schritten 1-3 also besonders grossen Wert, während es sich bei den Schritten 4-6 letztlich um die üblichen didaktischen Schritte bei der Planung einer Lehrveranstaltung handelt. Schritt 7 geht über die übliche Konzeption einer Lehrveranstaltung hinaus: Während der Austausch über Forschung selbstverständlich ist, ist dies beim Thema Lehre nicht unbedingt der Fall. Der Decoding-Ansatz enthält diesen Aspekt als inhärenten Bestandteil, sei es informell im Kolleg/innenkreis bis hin zur Idee des Beforschens der eigenen Lehre und einer Publikation der Ergebnisse (vgl. Scholarship of Teaching and Learning SoTL).

Wie erkennt man Bottlenecks?

Und wie geht man Bottlenecks auf den Grund? Die klassische Methode sind die sogenannten Decoding-Interviews: Entweder stellen sich Kolleg/innen (z.B. in Workshops) gegenseitig Fragen, um Lernhindernisse zu identifizieren oder (geschulte) Hochschuldidaktiker/innen führen (z.B. im Rahmen von Beratungen) ein entsprechendes Interview. Die Befragung kann auch schriftlich erfolgen. Besonders gut funktioniert der Ansatz im Austausch mit fachfremden Kolleg/innen, da dann besonders viel Explizitheit gefordert ist. Auch die direkte Rückmeldung von Studierenden kann dabei helfen herauszufinden, an welchen Stellen im Lernprozess sich Bottlenecks befinden.

Warum Decoding the Disciplines? – Ein Fazit

  • Mit dem Decoding-Ansatz können Lehrende eine Sprache für ihr fachliches Handeln entwickeln. Dies ist eine Voraussetzung, um Lernende im jeweiligen Fach zu disziplinärem Vorgehen anzuleiten.
  • Der Ansatz konzentriert sich auf fachliche Denk- und Arbeitsweisen, nicht primär auf fachliche Inhalte. Er zielt somit auf nachhaltiges Lernen und Verstehen ab.
  • Der Ansatz kann als grundlegendes Modell zur Konzeption und Planung von Lehrveranstaltungen herangezogen werden. Die konkrete Ausgestaltung von Aufgabenstellungen bzw. Feedback- und Prüfungsformen erfolgt fachlich bzw. disziplinär.
  • Der Ansatz kann über Lehrveranstaltungen hinaus auch zur Entwicklung eines Curriculums herangezogen werden.
  • Nicht zuletzt kann der Ansatz auch der kritischen Selbstreflexion in der Hochschuldidaktik dienen und so vielleicht die Fachsensibilität fördern.
INFOBOX

Petra Weiss gehört seit Februar 2020 zum Team des ZHE und bringt eine reiche Erfahrung als Hochschuldidaktikerin mit.
In ihrem Workshop vom 2. April 2020 «Denken im Fach vermitteln – Lernhindernisse überwinden» gibt sie eine Einführung in den Decoding-Ansatz und regt die Teilnehmenden dazu an, über ihr eigenes fachliches Tun nachzudenken.

Zur Autorin

Petra Weiss Blog

Petra Weiss ist Dozentin für Hochschuldidaktik am ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich. Sie leitet den CAS Hochschuldidaktik «Sommerstart» sowie weitere hochschuldidaktische Lehrgänge und Kurse und berät bei der (Weiter-)entwicklung von Curricula.

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