Text: Dagmar Engfer
Der Blogbeitrag «Entscheidungsprozesse an Hochschulen: Entscheiden lassen – Entscheide steuern – Entscheide bewirken» thematisierte die Beratungstätigkeit mit lateral Führenden. Diese Führungspersonen stellten u.a. in Landkarten der Macht dar, wie Entscheidungsprozesse funktionieren. Jetzt wenden wir uns der Frage zu, wie Führungspersonen Entscheidungsprozesse erleben. Wir ergründen diese mit Prof. Dr. Christine Böckelmann, Direktorin der Hochschule Luzern – Wirtschaft und Prof. Dr. Matthias Briner, Leiter Zentrum für Ausbildung und Studiengangleiter MSc Angewandte Psychologie, FHNW.
Kein Tag ohne Entscheiden
Führungspersonen an Hochschulen fällen täglich Entscheide auf verschiedenen Ebenen, mit kurz- bis langfristiger Tragweite und auf unterschiedlichen Flughöhen. Die Folgen von Entscheidungen lassen sich, so Böckelmann, oft nur schwer abschätzen, da die Sachlage oft mehrdeutig und die Prognosen entsprechend unsicher sind. Das Risiko von Fehlentscheidungen ist gross und Entscheidungsprozesse können sich hinziehen; Betroffene müssen Unsicherheiten oft lange aushalten.
Sollen Mitarbeitende in Entscheidungsprozesse einbezogen werden?
Führungspersonen in Expert:innenorganisationen sind oft mit der Erwartung der Mitarbeitenden konfrontiert, ihre Expertise einzubringen. Darin sieht Briner sowohl eine Herausforderung als auch eine attraktive Chance.
Böckelmann regt an, zwischen der Partizipation am Entscheidungsprozess selbst und dem Fällen des Entscheides zu unterscheiden. Diese Differenzierung kann helfen, die Frage des Einbezugs von Mitarbeitenden sinnvoll zu klären.
Entscheide an Hochschulen gestalten sich dann besonders anspruchsvoll, wenn divergierende Erwartungen berücksichtigt werden müssen und verschiedene Organisationseinheiten oder gar die gesamte Organisation betroffen ist, wie etwa bei strategischen oder strukturellen Weiterentwicklungen einer Hochschule.
Böckelmann betont: «Kollektive Entscheidungen sehe ich vor allem in überschaubaren Arbeitsteams und Gremien. Betrifft die Entscheidung eine grössere bzw. komplexe Organisation als Ganzes, kann es bei kollektiver Beschlussfassung zu einer Mehrheitsentscheidung kommen, welche die Anliegen und Bedürfnisse kleinerer Einheiten kaum berücksichtigt und möglicherweise auch den strategischen Zielen der Organisation widerspricht.»
Vom Unterwegs in Partizipation bis zum Mitdenken von Risiko
Briner unterstreicht ebenfalls die Relevanz der Gesamtorganisation. Die Breite der Abstützung ist je nach Grösse der Tragweite einer Entscheidung unterschiedlich. Es bereichere Entscheide, wenn die Perspektivenvielfalt verschiedener Involvierter berücksichtigt werde. Nötig dafür sei, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Gleichzeitig erhöht sich dadurch die Komplexität, Prozesse werden schwerfälliger und es wird anspruchsvoller, die gewünschten gemeinsamen Ziele zu verfolgen. Ein mögliches Vorgehen in solchen Situationen ist, in grösseren Gremien Stimmungsbilder abzuholen, nach Mehrheitsbildern zu suchen, Interessen zu erfragen und daraus eine Auslegeordnung als Entscheidungsgrundlage zu erstellen. Es lohnt sich, die Opportunitätskosten abzuwägen und sich zum Beispiel zu fragen: «Was passiert, wenn…?», «Wie sieht es mit der Balance zwischen Aufwand und Ertrag aus?». Entsprechend gehört zu Entscheiden grösserer Tragweite ein Abwägen von Chancen und Risiken.
Betreffen Entscheidungen die Arbeitssituation Mitarbeitender substanziell, sollte Partizipation am Prozess der Entscheidungsfindung eine Selbstverständlichkeit sein, so Böckelmann. Voraussetzung dafür ist, zu Beginn zu definieren, welche Fragen partizipativ bearbeitet werden und was aufgrund von Vorgaben oder Zielen der Gesamtorganisation nicht verhandelbar ist. Pseudopartizipation frustriert alle Beteiligten.
Entscheiden unter Zeitdruck
Noch ein Blick auf Nicht-Entscheide und Entscheide, die in Eile gefällt werden (müssen).
In Expert:innenorganisationen gehört der wissenschaftliche Diskurs zum Alltag. Das damit verbundene Vorgehen wirkt mitunter in Entscheidungsprozessen jedoch hemmend. So wäre es manchmal besser abzuwarten und noch nicht zu entscheiden, merkt Briner an. Doch geht dies nicht in jedem Fall. Im Nachhinein hätten es wohl alle besser gewusst. Beide Vorgehensweisen – Abwarten oder schnell Entscheiden und allenfalls einen Fehlentscheid in Kauf nehmen – haben ihren Preis. Ein Entscheid ist selten 100% richtig. Er lässt sich nur fällen aus der aktuellen Situation und mit Blick auf die bekannten und antizipierten Bedingungen. Zentral ist darum eine offene Fehlerkultur: allfällige Fehler offenlegen, daraus lernen und weitergehen. Deshalb ist Vertrauen für Briner eine relevante Basis, um tragfähige Entscheide zu fällen.
Zum Umgang mit schnellen Entscheiden meint Böckelmann: «Müssen Entscheidungen von grösserer Reichweite in Eile getroffen werden, dann ist in der Organisationsentwicklung vermutlich etwas schiefgelaufen oder wir haben es mit einer akuten Krisensituation zu tun.
In Krisensituationen müssen Führungspersonen unter Umständen schnell entscheiden können. Je nachdem ist dann eine Partizipation nicht möglich, oder sie muss sich z.B. auf eine kleine Gruppe beschränken, die stellvertretend für verschiedene Gruppen von Fachpersonen als «Sounding-Board» zur Verfügung steht. Liegt keine Krisensituation vor, dann dürfte es sich lohnen, darüber nachzudenken, warum man in eine Situation geraten ist, in der eine Entscheidung von grosser Reichweite eilt. Möglicherweise lassen sich Prozesse so verändern, damit dies – hoffentlich – ein Ausnahmefall bleibt.»
Briner teilt Böckelmanns Ansicht, dass Entscheide in Eile eher direktiver werden. Dennoch sei es zentral, mit jemandem zu reflektieren und einen Schritt zurückzutreten. Wenn ein Entscheid noch nicht reif ist, könne es wichtig sein, Zeit zu gewinnen.
Es hilft zudem, einen Entscheid in sinnvolle, bewältigbare Portionen zu segmentieren und damit eine zeitliche Staffelung herbeizuführen. Eine weitere Strategie ist, den Entscheid in einem grösseren Ganzen zu verorten und vielleicht zu relativieren – dies ermöglicht eine einigermassen zuversichtliche Gelassenheit.
Gelungene Entscheidungsprozesse sind nicht immer logisch
Abschliessend wenden wir uns der Frage zu, was für Entscheidungsprozesse typisch ist und wie sie gelingen können.
Böckelmann meint dazu: «Charakteristisch scheint mir, dass Entscheidungsprozesse in der Regel nicht so ‹wohl-sortiert› und in logisch strukturierten Schritten ablaufen, wie man sich das zu Beginn vorgestellt oder geplant hat. Dies liegt unter anderem daran, dass Organisationen von unterschiedlichen Rationalitäten geprägt sind. Je nach Rolle und Funktion, die jemand hat, werden Dinge unterschiedlich gewichtet und bewertet. Man hat je eigene Interessen, Denk- und Sichtweisen sowie entsprechend unterschiedliche Problemwahrnehmungen. Damit wird der Prozess selbst durch verschiedene Perspektiven mitgesteuert.» Auch Briner erlebt sich oftmals in einer Vermittlungsposition. Für ihn ist zudem charakteristisch, dass Entscheide einen «vorbereiteten Acker» benötigen.
Konkrete Tipps für Projektleitende und Studiengangleitende
Welche Haltung und Handlungskompetenzen brauchen Projektleitende und Studiengangleitende, um Entscheidungsprozesse mitzugestalten, vorwärtszubringen oder zielführend zu unterstützen?
- Prozesse vorausschauend planen mittels einem ausgereiften Projektmanagement.
- Offenheit und Toleranz für unterschiedliche Positionen; diese wahrnehmen und würdigen, selbst wenn nicht alles berücksichtigt werden kann. Somit auch über den eigenen Schatten springen können und Ideen anderer annehmen.
- Kommunikatives und diplomatisches Geschick sowie strategische Zusammenhänge verstehen, um mit unterschiedlichsten Stakeholdern zu verhandeln.
- Ein gutes Mass an Frustrationstoleranz, um Zusatzschlaufen und ungeplante Interventionen von Vorgesetzten «auszuhalten», und sich davon verabschieden, es allen recht machen zu wollen.
- Geduld, Bescheidenheit und Gelassenheit.
- Mut, mit bedachtem Risiko etwas wagen.
«Entscheide erfordern auch Mut; Mut, etwas zu tun.», bilanziert Briner: «Begeisterte Gelassenheit – gelassene Begeisterung»
INFOBOX
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Zur Autorin
Dagmar Engfer ist Coach, Organisations-beraterin, Teamentwicklerin und Führungs- und Laufbahnberaterin BSO, stellvertretende Leiterin sowie Verantwortliche Beratung und Dozentin am Zentrum Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich. Zudem ist sie Co-Leiterin des Lehrgangs CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen.