Grenzen von Lernräumen verflüssigen

Beitrag von Cornelia Dinsleder und Ulrich Kirchgässner

Lernen findet lebenslang statt und in Räumen: Warum wurde das Lebenslange Lernen erst beginnend in den 1970er Jahren zu einer «Entdeckung», die das Aus- und Weiterbildungssystem massgeblich verändert hat? Und weshalb wurde der Raum beim Lernen so lange Zeit kaum beachtet? Dieser Beitrag beschreibt die Dimensionen Zeit und Raum von Lernen sowie zugehörige Verflüssigungs- und Entgrenzungsprozesse.

Lernen in Sardinenbüchsen?

Welche Lernumgebungen sind in der Hochschullehre anzutreffen? Teilweise wird hier eine gewisse Einfallslosigkeit deutlich, die sich unter anderem in der gleichförmigen Ausgestaltung von Lehrräumen zeigt. Teils kann dies durch prestigeträchtige architektonische Würfe verschleiert werden. Lernen wird immer noch in Input-Output-Relationen gedacht, was exemplarisch an Hörsälen aufgezeigt werden kann, die nach wie vor Lernen in Sardinenbüchsen verfrachten. Aber auch Seminarräume sind selten abwechslungsreich eingerichtet – mögliche Veränderungen eines eingerichteten Raumes werden eher verhindert. Das kann dazu führen, dass Tische aneinandergeschraubt sind und damit unverrückbare Gegebenheiten bilden (so erlebt an einer Hochschule).

Warum gibt es kein «Aufbegehren», keine Bewegung, die die Widersprüchlichkeit der von starrer räumlicher Strukturierung und einem durch Individualisierung geprägten Lernverständnis thematisiert und anfängt das Zusammenspiel von Lernen und Raum hochschuldidaktisch zu gestalten? Warum schweigen Pädagogen, Pädagoginnen und Didaktiker:innen? Diese «lähmende Stille» wollen wir aufbrechen, indem wir anfangen, «besondere Räume» an Hochschulen aufzusuchen, die eine eigene Kultur ausstrahlen oder zum Programm gemacht haben. Wir wollen die «Zementierung» pädagogischer Verhältnisse in einschränkenden räumlichen Bedingungen aufbrechen. Es gilt, diese Bastion von in «Stein gemauerten Gewissheiten» abzutragen und nicht nur die Schule der Zukunft, sondern auch die Hochschule der Zukunft auf bewegliche, unterschiedliche und vielfältige Lernprozesse hinzugestalten.

Individualisierung von Lebensläufen

Der Begriff Lebenslanges Lernen hat die Qualität eines Hendiadyoins: Lernen vollzieht sich lebenslang und das ganze Leben ist ein Lernprozess. Dieses Lernverständnis ist aber noch relativ jung und es hat sich insbesondere seit den 1970er Jahren entwickelt. Davor war der Lebenslauf als ein Hintereinander von Schul-, Arbeits- und der Ruhestandsphase strukturiert. Mit Beginn der Berufstätigkeit hatte man/frau ausgelernt. Während Kindern mehr oder weniger Neugier und Lernbereitschaft zugesprochen wurde, schienen Erwachsene über einen Wissens- und Erfahrungsvorrat zu verfügen, mit dem sie für das berufliche Handeln oder auch die Kindererziehung ausreichend ausgestattet waren.

Dieses Biografieverständnis hat sich verändert. Der Soziologe Ulrich Beck beschreibt in den 1980er Jahren die Individualisierung von Lebensläufen und eine Pluralisierung der Lebenswelten als zentrale Kennzeichen von Biografien (Beck, 1986). Lebensverläufe sind demnach weniger einheitlich und kaum vorhersagbar. Parallel dazu hat sich das Verständnis von Lernen verändert: Es ist nicht mehr auf Kindheit und Jugend beschränkt, sondern findet lebenslang statt – ob bewusst und geplant, ob nebenbei oder auch nicht beabsichtigt – und manchmal auch «nicht ganz freiwillig».

Erweiterungs- und «Verflüssigungsprozess» des Lernverständnisses

Natürlich fand lebenslanges Lernen auch schon vor 100 Jahren statt, jedoch war es weder im Blick der Pädagogik noch lag es im Auftrag von Institutionen, Lernen über die Kindheit hinaus durch entsprechende Angebote zu begleiten: Heute stehen vielfältige zertifizierte Angebote bereit, die den Wert der Arbeitnehmer:innen (human ressources) bzw. ihre «employability» steigern. Lernen wird von der ökonomisch gesteuerten «Gesellschaftsmitte» in «Besitz genommen», Weiterlernen gilt als ein zentraler Auftrag an jede Person – ob jung oder alt. Wer nicht mehr lernen möchte, muss sich auf Vorwürfe oder Wettbewerbsnachteile am Arbeitsmarkt gefasst machen. Dies ist eine problematische Seite der an sich erfreulichen Entwicklung, das ganze Leben als Lernprozess zu verstehen. Eine weitere problematische Seite ist die zunehmende Anforderung einer dauernden Verfügbarkeit: morgens, mittags, abends, nachts, Montag bis Sonntag und jederzeit. Dieser Anspruch wurde durch die technischen Entwicklungen der Digitalisierung verstärkt und die Corona-Pandemie wirkt in diesem Prozess wie ein zusätzlicher Verstärker.

Der Erweiterungs- und «Verflüssigungsprozess» (in Anlehnung an Kurt Lewin) des Lernverständnisses wurde massgeblich durch den Diskurs um das lebenslange Lernen ausgelöst. Eine nur auf die zeitliche Dimension ausgerichtete Perspektive auf lebenslanges Lernen greift jedoch zu kurz: Er bezieht sich auch auf die Dimensionen Raum und Inhalt. Die vielfältigen Erweiterungen der inhaltlichen Lerndimensionen können an dieser Stelle nicht dargestellt werden. Verkürzt lässt sich jedoch sagen, dass eine Ausrichtung des Lernens auf Kompetenzen stattgefunden hat– nicht zuletzt aufgrund eines überbordenden Informations- und Wissensangebotes. In diesem Zusammenhang werden die Selbstorganisation, Selbststeuerung und Reflexion, aber auch Selektionsprozesse bezogen auf das eigene Lernen als zentral verstanden.

Formelle und informelle Lernräume

Die dritte Dimension neben Zeit und Inhalt bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Lernen und Raum. Die Ausdrucksweise «Der Raum als dritter Pädagoge» aus der Reggio-Pädagogik wird aktuell gerne als Begründung herangezogen, um auf die Bedeutung des Raumes als Rahmung für Lernprozesse insbesondere in der Schule hinzuweisen. Auch in der Erwachsenenbildung, beispielsweise in Bildungshäusern, werden besondere Räume genutzt, um Lernprozesse anzustossen und zu unterstützen. Exemplarisch zeigen wir ein Bild, welches eine Fortbildungsgruppe zum Thema Lernraumentwicklung auf dem Gelände des Klosters Chiemsee im Freien zeigt. Lernen ist nicht an dafür intendierte Räume gebunden: Die Einbettung des Lernens im Grünen kann als unterstützender Faktor gesehen werden. Neben formellen Räumen werden auch zunehmend informelle Räume genutzt.

Bild: Eric Sidoroff

Am 11. Mai 2021 stellen wir im Rahmen eines kostenlosen Webinars der PHZH Räume als bewusst gestaltete Lernumgebung an verschiedenen Hochschulen vor.

INFOBOX

Welche Rolle spielen Räume beim Lehren und Lernen – für Dozierende, für Studierende?

In der dreiteiligen Veranstaltungsreihe «Raum fürs Lernen» wird «Raum» für Reflexion, Verständigung und den Austausch mit den Teilnehmenden und verschiedenen Gästen geschaffen.

Wie Räume an Hochschulen als bewusst gestaltete Lernumgebungen aussehen könnten, ist Thema der Veranstaltung am 11. Mai 2021.

Der Abschluss der Serie erfolgt durch die dritte Veranstaltung mit dem Fokus «Wie sehen die Räume fürs Lernen in Zukunft aus?» am 15. Juni 2021.
Alle Informationen und Anmeldungen finden Sie hier.

Zum Autorenteam

Cornelia Dinsleder leitet das Projekt «Learning Environment Applications» (LEA) an der Schnittstelle zwischen Lernen und Raum am Institut für Professions- und Unterrichtsforschung an der PH Luzern.
Sie promovierte an der Universität Basel zur Kooperation unter Lehrerinnen und Lehrern und arbeitete an der PH FHNW in Projekten zur Lern- und Schulraumentwicklung (z.B. PULS).

Ulrich Kirchgässner ist Dozent für Erziehungswissenschaft an der Professur für Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsforschung, Institut Primarstufe, Pädagogische Hochschule FHNW. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Lern- und Schulraumentwicklung, Hochschuldidaktik und Gruppenpädagogik.

Vom Hellraumprojektor zum Streaming im Unterricht

Beitrag von Arlette Haase

Digitalisierung, Digitalität, digitale Transformation – Schlagwörter, die uns seit Jahren begleiten, manche mehr, manche weniger, aber sie betreffen praktisch jeden. Die zunehmende Digitalisierung ist auch im Bildungsbereich, besonders seit Beginn der Pandemie, sehr stark spürbar. Während ich zu Beginn meiner Laufbahn als Lehrperson (und ich zähle mich zur jüngeren Generation) nur einen Hellraumprojektor und einen Fernseher mit Videorekorder zur Verfügung hatte, sassen am Ende meiner Tätigkeit als Berufsschullehrerin und zu Beginn meiner Funktion als Dozentin an der PHZH die Lernenden mit dem eigenen Notebook im Unterricht, WLAN überall im Schulhaus war selbstverständlich und Filme wurden gestreamt. Die Lehrbücher waren nur noch digital verfügbar, die Arbeitsblätter auf Moodle abgelegt, die Dateien der Lernenden wurden auf Onedrive gespeichert. Während die meisten Lehrpersonen noch für einen Unterricht ohne digitale Medien ausgebildet wurden, findet sich heute praktisch kein Klassenzimmer mehr ohne Smartphones und Notebooks. Jugendliche verfügen meistens über mehrere digitale Geräte, so dass sich durch die Veränderung hin zu einem «one to many» zusätzliche Chancen und Herausforderungen für Lehrpersonen und den Unterricht ergeben.

Eine weit verbreitete Annahme besteht darin, dass Unterricht mit digitalen Medien vor allem darin besteht, dass statt auf Papier nun im Word geschrieben wird und bewährte Unterrichtsmethoden durch digitale Tools ersetzt werden. Arbeitsblätter werden den Lernenden digital zur Verfügung gestellt, die diese dann in ihrem virtuellen Ordner speichern. Doch solche Szenarien greifen zu kurz und schöpfen die Möglichkeiten bei weitem nicht aus. Es geht nicht darum, eine vielfach bewährte Methode im Unterricht einfach durch ein digitales Tool zu ersetzen, statt der Wandtafel nehmen wir jetzt halt die digitale Pinnwand oder ein Arbeitsblatt stellen wir nun als pdf anstatt als ausgedruckte Kopie zur Verfügung. Vielmehr geht es darum herauszufinden, welche neuen Möglichkeiten sich durch die digitalen Medien für unseren Unterricht ergeben. Wie lassen sich Lernziele mit digitalen Medien effizienter, aber vor allem auch effektiver erreichen? Wie können wir beispielsweise die unendliche Informationsflut und -vielfalt des Internets kritisch und gewinnbringend nutzen? Welche Rolle spielen Social Media beim Lernen und wie können soziale Netzwerke genutzt werden, um ein persönliches Lernnetzwerk zu bilden? Wie gestalten wir die Zusammenarbeit im digitalen Raum? Wie können Gamification-Elemente spielerisch in unseren Unterricht einfliessen? Wie verändern sich unsere Unterrichtsziele und unsere Rolle als Lehrperson, wenn Lernende ihre Informationen auch aus dem Internet holen können? Und welche Kompetenzen benötigen unsere Lernenden und wir als Lehrpersonen, damit uns dies gelingt?

Der neue CAS Lehren und Lernen digital der PH Zürich für Lehrpersonen der Sekundarstufe II möchte hier eine Brücke schlagen und aufzeigen, welche neuen Möglichkeiten digitale Medien im Unterricht bieten können. Die Bandbreite der Themen reicht dabei von E-Didaktik für den Präsenzunterricht wie auch für Blended-Learning-Szenarien über digitales Prüfen bis hin zu Wikipedia und Social Media sowie Games / Gamification im Unterricht. Aber auch Themen wie digitale Kompetenzen und Kultur der Digitalität finden im neuen CAS Platz. Die Teilnehmenden, sowohl Berufsschul – als auch Gymnasiallehrpersonen, stellen sich aus einem breiten Modulangebot ein Weiterbildungsprogramm zusammen, das auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Das bereits bestehende Modul «Pädagogischer ICT-Support light für Berufsfachschulen» (PICTS light BFS) wird in den neuen CAS integriert und richtet sich insbesondere an Lehrpersonen, die eine Themenführerschaft an ihrer Schule übernehmen möchten. Weitere Informationen zum neuen CAS Lehren und Lernen digital sowie das Anmeldeformular werden im Frühling 2021 auf der Homepage des Zentrums für Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich aufgeschaltet.

INFOBOX

Der Lehrgang «CAS Lehren und Lernen digital» startet im August 2021. Jedes Modul kann auch einzeln gebucht werden. Am 22. April 2021 findet ein Informationsanlass dazu statt.

Zur Autorin

Arlette Haase ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Themenbereich «Digitales Lernen» des Zentrums Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich.

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