Der Kompetenzreichtum, aus dem wir schöpfen

Beitrag von Simone Heller-Andrist und Christa Scherrer

Wie kann ich als PH-Mitarbeitende in meiner täglichen Arbeit Bezüge zum Berufsfeld herstellen, welches mit der Aufgabe, die ich gerade bearbeite, korrespondiert? Und auf welche anderen Bezüge greife ich zusätzlich zurück? Ein Beispiel zur Illustration: Als Anglistin, die als Fachdidaktikerin tätig ist, wähle ich für meine Lehre auf Tertiärstufe aus einer grossen Fülle von Themen aus meinem Fachbereich aus. Meine Auswahl schneide ich auf mein Publikum, dessen Vorwissen, Lernfortschritt und den Fokus des jeweiligen Moduls zu. Für die Lehre orientiere ich mich an institutionellen Rahmenvorgaben wie Curriculum und Lehrplänen, bin im Austausch mit meinen Fachkolleg:innen, bediene ich mich hochschuldidaktischer Methoden in der Vermittlung und arbeite ich Beispiele aus der Schul- oder Forschungspraxis auf. Mein Netz an Bezügen ist dabei beträchtlich, und mit der Dynamik der Gesellschaft, der Schule, meiner Institution, meiner Fachwissenschaft, und nicht zuletzt von mir selbst entwickle ich dieses Netz laufend weiter. Neue Erkenntnisse aus der Schulpraxis lassen mich eine neue Wahl von Themen im Fachbereich treffen. Ich bilde mich weiter, experimentiere, entwickle ein neues Lehrverständnis, passe meine eigenen Philosophien an. Und vieles davon geschieht implizit, ohne dass ich es selbst aktiv sichtbar mache.

Bezüge sichtbar machen

Es war eine Aufgabe des Projekts Doppeltes Kompetenzprofil an Pädagogischen Hochschulen aus dem Nachwuchsförderprogramm P11 von swissuniversities, die Vielfalt an Kompetenzen ausgehend vom sogenannten doppelten Kompetenzprofil zu fassen. Letzteres orientiert sich gleichzeitig an der Berufspraxis und der Wissenschaftspraxis und entwickelt so das Verständnis für die Anforderungen an das wissenschaftliche Personal an Pädagogischen Hochschulen (PH) und seine Profile weiter. Die aktuelle Ausgabe der Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung ist eigens dem doppelten Kompetenzprofil gewidmet. In ihrem Beitrag zum Thema stellen Scherrer et al. den Bezug zum Schulfeld im Rahmen eines Kompetenzprofils des wissenschaftlichen Personals an PHs dar. Sie schaffen damit eine Grundlage, um die Kompetenzen der Mitarbeitenden individualisiert und aufgabenbezogen fassbar zu machen. So liesse sich beispielsweise die eingangs am Beispiel der Anglistin beschriebene Kompetenzvielfalt, aus der ihre Performanz gespiesen wird, aufgeteilt auf Kompetenzbereiche erfassen. Und so wird die Vielfalt an Kompetenzen sichtbar, aus der PH-Mitarbeitende in ihrer täglichen Arbeit schöpfen.

Kompetenzbereiche in gegenseitiger Abstimmung

Die drei Bereiche der berufsfeldbezogenen, der disziplinären und der institutionell-organisationalen Kompetenzen bestimmen sich gegenseitig mit (vgl. Abb. 1). Der Beitrag «Die Bedeutung des Berufsfeldbezugs in den Aufgaben und für die Laufbahn an Pädagogischen Hochschulen», der von Erika Stäubles Modell der «Fachlichkeit in drei Ausprägungen» ausgeht, macht dies deutlich. Zur Illustration zwei Beispiele: Gestaltet die Anglistin ein neues Modul, wird sie die Themensetzungen nicht nur ausgehend vom Modulschwerpunkt im Gesamtzusammenhang der Ausbildungsstruktur (organisationale Kompetenz), sondern auch ausgehend von berufsfeldbezogenen Erkenntnissen (berufsfeldbezogene Kompetenzen) vornehmen. Ein Dozent in Liedbegleitung, der den Pilotstudiengang «Den Berufsfeldbezug stärken!» besucht hatte, berichtete von seiner Erkenntnis, dass er seinen Studierenden künftig zur Komplexitätsreduktion in ihren Unterrichtsvorhaben rät. Nebst der Liedbegleitung benötigen sie insbesondere auch Kapazitäten für die Klassenführung.

Kompetenzprofil des wissenschaftlichen Personals (Scherrer, Heller-Andrist, Suter & Fischer, 2020)

Bestandesaufnahme starker Berufsfeldbezüge

Die Vielfalt der berufsfeldbezogenen Kompetenzen zeigt sich exemplarisch in der Publikation Mittendrin ist vielerorts. Wissenschaftsjournalist Urs Hafner zeigt in 22 Porträts von Dozierenden aus 13 PHs, mit welchen Methoden und in welchen Konstellationen ihr Berufsfeldbezug in Lehre, Unterricht, Führung, Entwicklung, Organisation und weiteren Tätigkeiten zum Tragen kommt und wie er sich ins Gesamtprofil der Porträtierten einpasst. So wird etwa deutlich, dass das Wissen um die Arbeit der Lehrpersonen mit Lehrmitteln für die Entwicklung letzterer an der PH essenziell ist. Einige der Porträtierten haben den Studiengang «Den Berufsfeldbezug stärken!» absolviert, um vertiefte Innensichten des Schulfelds zu gewinnen. Eine Dozentin nutzte ihre dort gewonnenen Erkenntnisse, um das Weiterbildungsangebot für Lehrpersonen an Berufsfachschulen nach den aktuellen Bedürfnissen in Schulfeld und PH auszurichten. Eine Führungsperson befasst sich eingehend mit den Anforderungen des Berufsfelds, um die Möglichkeiten für Laufbahnen an PHs zeitgemäss zu gestalten, zu erweitern und neue Qualifikationsmöglichkeiten zu etablieren.

Podiumsdiskussion an der Vernissage von Mittendrin ist vielerorts vom 25. März 2021: v.l.: Tabea Steiner («L’oeil extérieur»), Heinz Rhyn (Vorwort) und Herausgeber und Autor Jürg Arpagaus.

CAS-Studiengang zur Stärkung des Berufsfeldbezugs

Im CAS-Studiengang «Den Berufsfeldbezug stärken!» laufen die Fäden des Kompetenzreichtums von PH-Mitarbeitenden zusammen: Er ermöglicht es dem wissenschaftlichen Personal an PHs, ihren Berufsfeldbezug aufgabenspezifisch aufzubauen, zu erweitern oder zu aktualisieren. Der Studiengang wird in Kooperation von neun PHs (PH Zug, PH Zürich, PH Luzern, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik, PH Fachhochschule Nordwestschweiz, PH Schwyz, PH St. Gallen, PH Thurgau, PH Graubünden) angeboten. Eine Begleitgruppe zum Studiengang mit Mandatierten aller beteiligten Hochschulen setzt sich zum Ziel, den Diskurs zur Laufbahnrelevanz des Angebots weiterzuführen und an der eigenen Institution zu vertreten. Die PH Zürich hat das Zertifikat des Studiengangs bereits als äquivalenten Nachweis über den Schulfeldbezug seines wissenschaftlichen Personals gemäss Hochschulordnung der PHZH (§24.2) anerkannt.

INFOBOX
Der CAS «Den Berufsfeldbezug stärken!» startet im September 2021, alle Informationen dazu finden Sie auf unserer Webseite. Im kurzen Informationsfilm erhalten Sie erste Einblicke in den Studiengang. Oder melden Sie sich zur Online-Informationsveranstaltung am 8. Juni 2021, 17–18 Uhr, an, um alle Details rund um den CAS zu erfahren und Ihre Fragen an die Studiengangsleitung zu richten.

Weitere Informationen zur Publikation Mittendrin ist vielerorts finden sich auf der Website des hep-Verlags.
Video-Teaser

Zu den Autorinnen

Simone Heller-Andrist und Christa Scherrer waren 2019/3 bis 2021/4 zusammen Co-Projektleiterinnen des Projekts «Doppeltes Kompetenzprofil der PH – institutionelle und individuelle Anforderungen an den Berufsfeldbezug» und sie sind zusammen mit Jürg Arpagaus und Susanne Amft Mitherausgeberinnen des Buchs «Mittendrin ist vielerorts».

Simone Heller

Simone Heller-Andrist arbeitet am ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich als Projektleiterin für Entwicklungs- und Weiterbildungsangebote im Hochschulbereich. Sie leitet den CAS Hochschuldidaktik «Winterstart» und den im Herbst 2021 startenden CAS «Den Berufsfeldbezug stärken!».

Christa Scherrer ist Erziehungswissenschaftlerin und Primarlehrerin mit besonderem Interesse bezüglich dem Verhältnis zwischen Menschen, Organisationen und deren Entwicklungen. Sie ist  Dozentin und Mentorin an der PH Zug, Evaluatorin des ifes.

Von Schreibblockaden und Ratgebern

Beitrag von Yves Furer

Wer schreibt, blockiert früher oder später. Sobald man mehr als nur einen Einkaufszettel schreibt, steigen mit zunehmender Textlänge und -komplexität die Chancen darauf, beim Schreiben eine oder mehrere unfreiwillige Pausen einzulegen. Gerade bei Studierenden können Schreibblockaden zu einem hohen Leidensdruck führen, da sie bei kleinen Arbeiten oft fixe Termine einhalten müssen. Verzögerungen bei grösseren Arbeiten verlängern die Studiendauer oder gefährden sogar den Studienabschluss. Entsprechend erscheinen jedes Jahr mehrere Ratgeber (z.B. Esselborn-Krumbiegel, 2021), die sich entweder ganz dem Thema Schreibblockade widmen oder zumindest ein Kapitel dafür reservieren. Die darin enthaltenen Tipps basieren häufig darauf, die Vorgehensweisen von erfolgreichen Schriftsteller:innen nachzunahmen, was grundsätzlich sinnvoll erscheint. Da professionell Schreibende nicht von Schreibblockaden verschont bleiben, verfügen sie offensichtlich über Strategien, um Schreibblockaden zu überwinden. Ansonsten wären sie gezwungen, ihren Beruf zu wechseln. Doch inwiefern lässt sich das Verhalten von Expert:innen (professionell Schreibende) auf die Probleme von Noviz:innen (Studierende) übertragen? Ein Vergleich zweier Schreiber soll dabei helfen, die Frage zu beantworten.

Zwei blockierte Schreiber

Ein prominentes Beispiel für einen «blockierten» Schriftsteller ist George R. R. Martin, Autor der Weltbesteller Fantasy-Serie «Das Lied von Eis und Feuer», welche als Vorlage für die noch bekanntere TV-Adaption «Games of Thrones» diente. In der Serie sind bis jetzt fünf Bände erschienen, was in der englischen Ausgabe ca. 1,7 Millionen Wörter entspricht. Doch seit fast zehn Jahren warten weltweit Millionen von Fans auf die Veröffentlichung der letzten beiden Bände. Nun ist es keineswegs so, dass Herr Martin gar nicht mehr schreibt. Seit 2011 hat er acht Bücher veröffentlicht, die teilweise mehrere hundert Seiten umfassen. Eine Vorstellung davon, wie es mit der Geschichte weitergeht, muss er auch haben. Schliesslich wurde die letzte Staffel von «Games of Thrones» im vergangenen Jahr ausgestrahlt. Wie in den vorausgegangen TV-Produktionen basierte die Story dabei auf seinen Ideen. Trotz allem kommt George Martin selbst mit der Fortsetzung «Das Lied von Eis und Feuer» nicht weiter. Er ist blockiert.

Vergleichen wir nun George R. R. Martin mit einem anderen Schreiber, der ebenfalls Mühe damit bekundet, momentan einen bestimmten Text zu verfassen. Der andere Schreiber ist ein fiktiver Erstsemester Student, nennen wir ihn Jan. Er muss zum ersten Mal einen wissenschaftlichen Text schreiben, wobei Schreiben eigentlich noch nie zu seinen bevorzugten Aktivitäten gehörte. Aus dem Auftrag, den Jan erhalten hat, geht für ihn nicht schlüssig hervor, was genau er schreiben soll und welchen Kriterien sein Text eigentlich genügen muss. Über das Thema seines Textes weiss er zudem (noch) nicht allzu viel. Jan sitzt vor seinem Computer, möchte schreiben, doch er schafft es nicht wirklich einen Text zu produzieren. Auch er fühlt sich blockiert.

Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten

Vergleicht man nun die beiden Schreiber, so fällt auf, dass sie nur etwas gemeinsam haben: ihre aktuelle Unfähigkeit zu schreiben. Demgegenüber unterscheiden sie sich mit grosser Wahrscheinlichkeit in einer ganzen Reihe von Merkmalen, die kennzeichnend sind für Expertise im Bereich Schreiben (Kellogg, 2018):

  • Vorgehen: Wie automatisiert und elaboriert ist ihr jeweiliges Vorgehen beim Planen von Texten?
  • Zielvorstellung: Wie klar ist ihre Vorstellung davon, was ihr Text erreichen soll und wer ihr Publikum ist?
  • Sprachliche Fähigkeiten: Wie vertraut sind sie mit den sprachlichen und formalen Anforderungen, die an ihre Texte gestellt werden?
  • Wissen: Wie viel wissen sie über ihr Thema?
  • Stützstrategien: Welche hilfreichen Routinen (Zeitplan, Rituale, Umgebung etc.) haben sie aufgebaut?
  • Selbstregulation: Wie gehen sie mit emotionalen und motivationalen Krisen beim Schreiben um?

Jedes dieser Merkmale trägt das Potential in sich, zu einer Schreibblockade zu führen. Wem nicht klar ist, was er eigentlich schreiben soll, er also kein Schreibziel hat, wird ziemlich sicher Schwierigkeiten haben, Texte zu produzieren. Genauso wird eine Schreiberin, die noch (zu) wenig über das Thema ihres Textes weiss, kaum in der Lage sein zu schreiben, weil es ihr dafür schlicht an Inhalt mangelt.

Schreibblockaden überwinden

Besagte Ratgeber zum wissenschaftlichen Schreiben adressieren diese Probleme, indem sie eine Reihe von Ratschlägen und Tipps präsentieren, die dabei helfen sollen, Schreibblockaden zu überwinden. Diese reichen von fünf Minuten freies Schreiben über jemandem sein Thema mündlich zu erläutern bis hin zum Erstellen eines Mindmaps. Zweifelslos erleben einige Studierende diese Tipps als hilfreich. Schreibende, denen beispielsweise das Formulieren einer bestimmten Passage schwerfällt, die aber eigentlich wissen, was sie inhaltlich schreiben wollen, profitieren unter Umständen von einer Sequenz freiem Schreiben. Wenn bewusst verschiedene Formulierungsvarianten hergestellt werden, ohne den Anspruch zu haben, gleich auf Anhieb die richtige zu finden, kann ihr Schreiben dadurch flüssiger werden.

Bei anderen Problemen hingegen stellt sich die Frage, ob ihnen Tipps unter dem Label Schreibblockade tatsächlich gerecht werden. Das Konzept der Schreibblockade geht davon aus, dass jemand grundsätzlich in der Lage ist, eine bestimmte Handlung beim Schrieben eines Textes auszuführen. Eine Schreibblockade verhindert also, dass ich etwas tue, was ich eigentlich kann. Bei professionellen Autor:innen lassen sich Schreibblockaden wohl tatsächlich so beschreiben. Wenn jedoch ein Student wie Jan nicht weiss, wie er verschiedene Quellen in seinem eigenen Text verarbeiten soll, kann eigentlich nicht von einer Blockade die Rede sein. Es handelt sich eher um ein Defizit in Bezug auf sein Planungswissen, wobei sich dieser Mangel kaum mit einem Tipp beheben lässt.

Fazit

Anders als bei Schriftsteller:innen, die unter einer Schreibblockade leiden, kann bei Studierenden nicht automatische davon ausgegangen werden, dass sie über alle erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um ihre Schreibaufgabe zu bewältigen. Es wäre wohl hilfreich, den Begriff der Schreibblockade enger zu fassen, um zwischen bereits erworbenen und noch nicht beherrschten Aspekten des Schreibens zu unterscheiden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Studierende fälschlicherweise davon ausgehen, dass sie in puncto Schreiben an der Hochschule eigentlich gar nichts mehr zu lernen brauchen. Doch wer schreiben lernt, kommt nicht darum herum, sich neues Wissen und Fähigkeiten anzueignen. Nur wenige Studierende dürften in der Lage sein, sich wissenschaftliches Schreiben als komplexe Tätigkeit autodidaktisch durch die Lektüre von Ratgebern anzueignen. Vielmehr ist die Aufgabe der Lehre einer Hochschule, den Studierenden diese Fähigkeit und das damit einhergehende Wissen zu vermitteln.

INFOBOX

Von 17.-18. Juni. 2021 findet die dieS-Tagung virtuell in Zürich statt. Sie richtet sich schwerpunktmässig an Early-Stage-Researchers. Mehr dazu findet sich hier.

Zum Autor

Yves Furer ist Dozent für Deutschdidaktik und Mitarbeiter des  Schreibzentrums der PH Zürich. Er berät Studierende und Mitarbeitende im Bereich Literalität und leitet Weiterbildungen und Projekte zum Thema Literalität in der Volksschule. Ausserdem ist er QUIMS-Experte im Schwerpunkt «Beurteilen und Fördern, mit Fokus auf Sprache». Aktuell arbeitet er an einer Promotion zum Thema «Kognitive Prozesse bei der Textbeurteilung». 

Grenzen von Lernräumen verflüssigen

Beitrag von Cornelia Dinsleder und Ulrich Kirchgässner

Lernen findet lebenslang statt und in Räumen: Warum wurde das Lebenslange Lernen erst beginnend in den 1970er Jahren zu einer «Entdeckung», die das Aus- und Weiterbildungssystem massgeblich verändert hat? Und weshalb wurde der Raum beim Lernen so lange Zeit kaum beachtet? Dieser Beitrag beschreibt die Dimensionen Zeit und Raum von Lernen sowie zugehörige Verflüssigungs- und Entgrenzungsprozesse.

Lernen in Sardinenbüchsen?

Welche Lernumgebungen sind in der Hochschullehre anzutreffen? Teilweise wird hier eine gewisse Einfallslosigkeit deutlich, die sich unter anderem in der gleichförmigen Ausgestaltung von Lehrräumen zeigt. Teils kann dies durch prestigeträchtige architektonische Würfe verschleiert werden. Lernen wird immer noch in Input-Output-Relationen gedacht, was exemplarisch an Hörsälen aufgezeigt werden kann, die nach wie vor Lernen in Sardinenbüchsen verfrachten. Aber auch Seminarräume sind selten abwechslungsreich eingerichtet – mögliche Veränderungen eines eingerichteten Raumes werden eher verhindert. Das kann dazu führen, dass Tische aneinandergeschraubt sind und damit unverrückbare Gegebenheiten bilden (so erlebt an einer Hochschule).

Warum gibt es kein «Aufbegehren», keine Bewegung, die die Widersprüchlichkeit der von starrer räumlicher Strukturierung und einem durch Individualisierung geprägten Lernverständnis thematisiert und anfängt das Zusammenspiel von Lernen und Raum hochschuldidaktisch zu gestalten? Warum schweigen Pädagogen, Pädagoginnen und Didaktiker:innen? Diese «lähmende Stille» wollen wir aufbrechen, indem wir anfangen, «besondere Räume» an Hochschulen aufzusuchen, die eine eigene Kultur ausstrahlen oder zum Programm gemacht haben. Wir wollen die «Zementierung» pädagogischer Verhältnisse in einschränkenden räumlichen Bedingungen aufbrechen. Es gilt, diese Bastion von in «Stein gemauerten Gewissheiten» abzutragen und nicht nur die Schule der Zukunft, sondern auch die Hochschule der Zukunft auf bewegliche, unterschiedliche und vielfältige Lernprozesse hinzugestalten.

Individualisierung von Lebensläufen

Der Begriff Lebenslanges Lernen hat die Qualität eines Hendiadyoins: Lernen vollzieht sich lebenslang und das ganze Leben ist ein Lernprozess. Dieses Lernverständnis ist aber noch relativ jung und es hat sich insbesondere seit den 1970er Jahren entwickelt. Davor war der Lebenslauf als ein Hintereinander von Schul-, Arbeits- und der Ruhestandsphase strukturiert. Mit Beginn der Berufstätigkeit hatte man/frau ausgelernt. Während Kindern mehr oder weniger Neugier und Lernbereitschaft zugesprochen wurde, schienen Erwachsene über einen Wissens- und Erfahrungsvorrat zu verfügen, mit dem sie für das berufliche Handeln oder auch die Kindererziehung ausreichend ausgestattet waren.

Dieses Biografieverständnis hat sich verändert. Der Soziologe Ulrich Beck beschreibt in den 1980er Jahren die Individualisierung von Lebensläufen und eine Pluralisierung der Lebenswelten als zentrale Kennzeichen von Biografien (Beck, 1986). Lebensverläufe sind demnach weniger einheitlich und kaum vorhersagbar. Parallel dazu hat sich das Verständnis von Lernen verändert: Es ist nicht mehr auf Kindheit und Jugend beschränkt, sondern findet lebenslang statt – ob bewusst und geplant, ob nebenbei oder auch nicht beabsichtigt – und manchmal auch «nicht ganz freiwillig».

Erweiterungs- und «Verflüssigungsprozess» des Lernverständnisses

Natürlich fand lebenslanges Lernen auch schon vor 100 Jahren statt, jedoch war es weder im Blick der Pädagogik noch lag es im Auftrag von Institutionen, Lernen über die Kindheit hinaus durch entsprechende Angebote zu begleiten: Heute stehen vielfältige zertifizierte Angebote bereit, die den Wert der Arbeitnehmer:innen (human ressources) bzw. ihre «employability» steigern. Lernen wird von der ökonomisch gesteuerten «Gesellschaftsmitte» in «Besitz genommen», Weiterlernen gilt als ein zentraler Auftrag an jede Person – ob jung oder alt. Wer nicht mehr lernen möchte, muss sich auf Vorwürfe oder Wettbewerbsnachteile am Arbeitsmarkt gefasst machen. Dies ist eine problematische Seite der an sich erfreulichen Entwicklung, das ganze Leben als Lernprozess zu verstehen. Eine weitere problematische Seite ist die zunehmende Anforderung einer dauernden Verfügbarkeit: morgens, mittags, abends, nachts, Montag bis Sonntag und jederzeit. Dieser Anspruch wurde durch die technischen Entwicklungen der Digitalisierung verstärkt und die Corona-Pandemie wirkt in diesem Prozess wie ein zusätzlicher Verstärker.

Der Erweiterungs- und «Verflüssigungsprozess» (in Anlehnung an Kurt Lewin) des Lernverständnisses wurde massgeblich durch den Diskurs um das lebenslange Lernen ausgelöst. Eine nur auf die zeitliche Dimension ausgerichtete Perspektive auf lebenslanges Lernen greift jedoch zu kurz: Er bezieht sich auch auf die Dimensionen Raum und Inhalt. Die vielfältigen Erweiterungen der inhaltlichen Lerndimensionen können an dieser Stelle nicht dargestellt werden. Verkürzt lässt sich jedoch sagen, dass eine Ausrichtung des Lernens auf Kompetenzen stattgefunden hat– nicht zuletzt aufgrund eines überbordenden Informations- und Wissensangebotes. In diesem Zusammenhang werden die Selbstorganisation, Selbststeuerung und Reflexion, aber auch Selektionsprozesse bezogen auf das eigene Lernen als zentral verstanden.

Formelle und informelle Lernräume

Die dritte Dimension neben Zeit und Inhalt bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Lernen und Raum. Die Ausdrucksweise «Der Raum als dritter Pädagoge» aus der Reggio-Pädagogik wird aktuell gerne als Begründung herangezogen, um auf die Bedeutung des Raumes als Rahmung für Lernprozesse insbesondere in der Schule hinzuweisen. Auch in der Erwachsenenbildung, beispielsweise in Bildungshäusern, werden besondere Räume genutzt, um Lernprozesse anzustossen und zu unterstützen. Exemplarisch zeigen wir ein Bild, welches eine Fortbildungsgruppe zum Thema Lernraumentwicklung auf dem Gelände des Klosters Chiemsee im Freien zeigt. Lernen ist nicht an dafür intendierte Räume gebunden: Die Einbettung des Lernens im Grünen kann als unterstützender Faktor gesehen werden. Neben formellen Räumen werden auch zunehmend informelle Räume genutzt.

Bild: Eric Sidoroff

Am 11. Mai 2021 stellen wir im Rahmen eines kostenlosen Webinars der PHZH Räume als bewusst gestaltete Lernumgebung an verschiedenen Hochschulen vor.

INFOBOX

Welche Rolle spielen Räume beim Lehren und Lernen – für Dozierende, für Studierende?

In der dreiteiligen Veranstaltungsreihe «Raum fürs Lernen» wird «Raum» für Reflexion, Verständigung und den Austausch mit den Teilnehmenden und verschiedenen Gästen geschaffen.

Wie Räume an Hochschulen als bewusst gestaltete Lernumgebungen aussehen könnten, ist Thema der Veranstaltung am 11. Mai 2021.

Der Abschluss der Serie erfolgt durch die dritte Veranstaltung mit dem Fokus «Wie sehen die Räume fürs Lernen in Zukunft aus?» am 15. Juni 2021.
Alle Informationen und Anmeldungen finden Sie hier.

Zum Autorenteam

Cornelia Dinsleder leitet das Projekt «Learning Environment Applications» (LEA) an der Schnittstelle zwischen Lernen und Raum am Institut für Professions- und Unterrichtsforschung an der PH Luzern.
Sie promovierte an der Universität Basel zur Kooperation unter Lehrerinnen und Lehrern und arbeitete an der PH FHNW in Projekten zur Lern- und Schulraumentwicklung (z.B. PULS).

Ulrich Kirchgässner ist Dozent für Erziehungswissenschaft an der Professur für Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsforschung, Institut Primarstufe, Pädagogische Hochschule FHNW. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Lern- und Schulraumentwicklung, Hochschuldidaktik und Gruppenpädagogik.

Bewusste Laufbahngestaltung an Hochschulen

Beitrag von Dagmar Engfer und Kathrin Rutz

Wie kann ich mich an einer Hochschule weiterentwickeln und mein Arbeitsportfolio vielseitig gestalten? Wie qualifiziere ich mich konkret für eine zukünftige Funktion, insbesondere wenn ich mehrere Aufgabenbereiche wahrnehme?

Solche und ähnliche Fragen stellen sich viele Hochschulangehörige, insbesondere wenn sie über einige Jahre Berufserfahrung verfügen. Im Folgenden fokussieren wir Laufbahnen, Rollen und Positionen, die Alternativen zur klassischen Lehr- und Forschungstätigkeit bieten. Ehemalige Teilnehmende des CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen kommen zu diesen Fragen zu Wort:

«Durch den CAS konnte ich das Bewusstsein für meine Rolle erweitern und neue Visionen für meine Laufbahn entwerfen.»

(Nora Dainton, Dozentin Institut Industrial Design HGK, Projektleiterin MSc Virtual Design and Construction FHNW)

«Durch den CAS habe ich ein Repertoire an Handlungsalternativen aufgebaut, um die neue Aufgabe als Studiengangleiter im Kontext zwischen didaktischen Konzepten und administrativen Abläufen betrachten zu können.»

(Dirk Engelke, Professor für Raumentwicklung, Studiengangleiter Stadt-, Verkehrs- und Raumplanung, OST – Ostschweizer Fachhochschule, Rapperswil)

Wie sehen Laufbahnen an Hochschulen aus?

Aufgrund des vierfachen Leistungsauftrags der Fachhochschulen können an Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen vielfältige Wege eingeschlagen werden mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Daraus ergeben sich überschneidende Tätigkeiten mit Verantwortung in den Leistungsbereichen Ausbildung, Weiterbildung, Dienstleistung und Forschung, sowie Verwaltung und Hochschulgovernance (swissuniversities, 2017). Eine repräsentative Befragung von Dozierenden an Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen im Jahr 2018 zeigt eine grosse Heterogenität der Aufgabenbereiche, wobei ein Grossteil der Befragten in mehr als nur einem Leistungsbereich arbeiten, insbesondere bei höherem Beschäftigungsgrads (Böckelmann et al., 2019). Zudem wird in dieser Studie sichtbar, dass sich Dozierende weiterqualifizieren, u.a. um neue Funktionen übernehmen zu können. Genannt werden Weiterbildungen (v.a. CAS, DAS, MAS) zu folgenden drei Themenfeldern: Didaktik und Erwachsenenbildung, Führung und Management sowie Coaching und Organisationsentwicklung (Böckelmann et al., 2019).

Versuche, die Laufbahnmöglichkeiten zu klassifizieren, lehnen sich an akademische Qualifikationen an, um in den «corps professoral» zu gelangen (swissuniversities, 2017). Wenig erforscht sind jedoch Laufbahnperspektiven im Bereich von Querschnittsaufgaben, die nicht in eine klassische Laufbahn münden und sich oft im sogenannten «Third Space» zwischen Wissenschaft und Verwaltung bewegen (Whitchurch, 2008; Zellweger & Bachmann, 2010 und Nievergelt & Ganzfried, 2020). Zudem entstehen im Zuge des aktuellen Wandels der Hochschulen in Richtung vermehrter Selbstverwaltung neue Funktionen im «Third Space», die zu einem eigenständigen Berufsfeld anwachsen und nach spezifischen Managementkompetenzen verlangen (Nievergelt & Ganzfried, 2020).

Was sind typische Funktionen im «Third Space»?

Neben den Funktionen als wissenschaftliche Mitarbeitende, Assistierende, Dozierende, Forschende oder Leitungspersonen gibt es verantwortungsvolle Querschnittsaufgaben und Stabsstellen, die nach Kehm (2010) von sogenannten Hochschulprofessionellen wahrgenommen werden. Dazu zählen unter anderem folgende Tätigkeiten und Aufgabenfelder:

  • Studiengangsleitung
  • Studienberatung
  • Koordination von Programmen – sei es in Aus- und Weiterbildung, für Doktoratsprogramme oder Graduate Schools
  • Leitung/Geschäftsführung (mit oder ohne Fachbereich oder einer Einheit)
  • Leitung Akkreditierung und Qualitätsentwicklung oder -sicherung
  • Projektleitungen – in und ausserhalb der Forschung.
  • Öffentlichkeitsarbeit
  • Personalentwicklung
  • Wissensmanagement

Sie zeichnen sich durch interessante Arbeit mit viel Gestaltungsmöglichkeiten aus, die flexibles und innovatives Denken erfordern.

«Für meine neue Rolle als Studiengangleiter hat der CAS mir zum einen professionelles Handwerkszeug und dadurch Sicherheit bei den zu erledigenden Aufgaben gegeben – aber auch inspiriert diese Aufgaben in einem didaktischen und bildungspolitischen Kontext anzugehen.»

(Dirk Engelke, Professor für Raumentwicklung, Studiengangleiter Stadt-, Verkehrs- und Raumplanung, OST – Ostschweizer Fachhochschule, Rapperswil)

Wie gestalte ich meine professionelle Weiterentwicklung?

Funktionen im «Third Space» können mit Lateraler Führung gekoppelt sein. Laterale Führung erfordert ein hohes Bewusstsein für das eigene Handeln und ist geprägt von Kooperation über Organisationseinheiten hinaus (Thomann & Zellweger, 2016). Dabei ist unabdingbar, sowohl bildungspolitische Zusammenhänge zu verstehen als auch den spezifischen Kontext der eigenen Hochschule zu kennen. Auf dieser Grundlage kann die eigene Rolle bzw. die eigenen Rollen in der Organisation- und Professionswelt bewusst gestaltet werden.

Und hier setzt unser CAS «Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen» an.

«Der Lehrgang hat mich dazu angeregt, mich mit meinen Stärken, Schwächen und meinen Bedürfnissen ganz bewusst auseinanderzusetzen. Ich weiss nun, in welche Richtung ich mich zukünftig beruflich weiterentwickeln möchte – und was ich nicht mehr machen würde.»

(Nicole Wespi, lic. rer. soc., Projektleiterin GMI, Zentrum Medienbildung und Informatik, PH Zürich)

Die Teilnehmenden in diesem Lehrgang bringen häufig vielfältige Erfahrungen und Vorqualifikationen mit. Wir unterstützen sie einerseits darin, individuelle Entwicklungsziele für den CAS und andererseits für die Weiterentwicklung der eigenen beruflichen Laufbahn zu verfolgen.

In den vier zentralen Handlungsfeldern «Kontext und Rollen», «Führen und Managen», «Planen und Gestalten» sowie «Umsetzen und Methoden» sind die Basismodule verortet und sie bilden auch den Rahmen für die individuelle Schwerpunktsetzung im zweiten Teil des CAS.

Wichtig ist für uns auch, der Vernetzung und dem Austausch unter Kolleginnen und Kollegen in ähnlichen Funktionen, wenn auch in verschiedenen Hochschultypen Raum zu geben.

Unser Ziel ist es, den Teilnehmenden zu ermöglichen, über den CAS hinaus gewonnene Erkenntnisse in ihren professionellen Alltag zu transferieren und für sich konkrete Schritte in der beruflichen Weiterentwicklung zu definieren.

Zum Abschluss lassen wir nochmals CAS Teilnehmende zu Wort kommen:

«Ich fand es toll, dass ich regelmässig Situationen, Gegebenheiten aus meinem Berufsalltag in die passenden Module einbringen konnte. Mit dem im Modul neu erworbenen Know-how und dem Austausch mit den anderen Teilnehmenden, konnte ich tragfähige Entscheide fällen. Dies stärkte mich in meiner Rolle.»

(Nicole Wespi, lic. rer. soc., Projektleiterin GMI, Zentrum Medienbildung und Informatik, PH Zürich)

«Besonders wertvoll waren für mich die vertiefte Auseinandersetzung mit der Klärung von Rollen und den Herausforderungen der lateralen Führung. Zusätzlich konnte ich den CAS als Sprungbrett für neue Projekte nutzen. So waren die erfolgreiche Teilnahme am Förderpreis der Lehre, sowie mein Einbezug als Expertin bei einem Weiterbildungsmodul der PHZH gelungene Nebenprodukte

(Nora Dainton, Dozentin Institut Industrial Design HGK, Projektleiterin MSc Virtual Design and Construction FHNW)

«Dieser CAS hat mir erlaubt, alle Fragen und Themen in Bezug auf unsere Weiterbildungen professioneller und effizienter zu behandeln. Ich konnte viele Techniken und Tools kennenlernen, die mich in der Entwicklung und Durchführung von Weiterbildungen unterstützt haben. Jedem Bundesangestellten, der sich mit Bildungsfragen befasst und eine Koordinationsrolle in der Bildung übernimmt, würde ich diesen CAS sehr weiterempfehlen.»

(Edoardo Giani, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Zuständig für Aus-, Weiter- und Fortbildung im Veterinärwesen, Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV)
INFOBOX

Der CAS «Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen» startet am 9. März 2021. Anmeldeschluss ist der 22. Januar 2021. Alle Informationen finden Sie hier.

Sind Sie interessiert an spezifischen Führungsfragen? Gerne verweisen wir Sie auf folgende Angebote:

- Das Modul Führen und beraten: Dilemma oder Chance? findet statt am 15./16. April 2021.

- Das Modul Lateral führen wird am 4./5. Mai 2021 durchgeführt.

Zu den Autorinnen

Dagmar Engfer ist Coach, Organisations-beraterin, Teamentwicklerin und Laufbahnberaterin BSO, stellvertretende Leiterin sowie Verantwortliche Beratung und Dozentin am Zentrum Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich. Zudem ist sie Co-Leiterin des Lehrgangs CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen.

Kathrin Rutz ist Supervisorin, Coach und Organisationsberaterin BSO, lehrende Transaktionsanalytikerin TSTA-O sowie Verantwortliche Beratung und Dozentin am Zentrum Management und Leadership der PH Zürich . Zudem ist sie Co-Leiterin des Lehrgangs CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen.

Lernende drehen Erklärvideos

Beitrag von Dominic Hassler

Mediendidaktik, kooperatives Lernen und fachliche Inhalte unter einen Hut bringen

Erklär- und Lernvideos sind bei Dozierenden, Lehrpersonen und Lernenden en vogue. Sie helfen Lernenden, sich Wissen im eigenen Lerntempo anzugeignen. Eingesetzt werden sie in Flipped Classroom oder Blended Learning Settings. Vorliegender Beitrag skizziert eine Methode, in der Lernende oder Studierende solche Erklärvideos herstellen, um ihr Wissen zu vertiefen. Diese Methode ist –  im Sinne des Paradigmenwechsels vom Lehren zum Lernen – auch als Alternative zu Vorträgen oder schriftlichen Leistungsnachweisen einsetzbar.

Vom Legen zum Filmen

Dieser Beitrag fokussiert sich auf das Format Legetechnik, obschon zahlreiche Formate für Erklärvideos geeignet sind. Was ist Legetechnik? Hier wird von oben herab gefilmt, wie zwei Hände Grafiken, Objekte oder Charaktere bewegen; parallel dazu spricht eine Erzählstimme. Es empfehlt sich, Legetechnik-Videos in Gruppen von drei bis vier Lernenden zu erstellen.

Beispielbild Legetechnik

Spielformen von Low-Tech bis High-Tech 

Lernende erstellen in den überbetrieblichen Kursen der Bankenlehre (CYP) ein Erklärvideo zu einem selbstgewählten Thema in nur 80 Minuten. Wie das funktioniert, hält das Schweizer Fernsehen in einer sehenswerten Reportage fest.

Beachten Sie, wie dieses technisch einfache Beispiel dank pragmatischer Aufgabenstellung in einem Durchgang aufgenommen wird: weder digitale Nachbearbeitung noch Zusammenschneiden sind nötig. Sogar Soundeffekte haben die Lernenden mit einem zweiten Handy eingebaut. Zudem ist erkennbar, dass sich die Legetechnik eignet, wenn der fachliche Gegenstand durch eine Erzählung veranschaulicht wird (etwa die Haftpflichtversicherung bei einem Autounfall).

Wird das Video im Nachhinein digital bearbeitet, eröffnen sich neue Möglichkeiten. Lernende können das Video mit Musik unterlegen, einzelne Standbilder einfügen oder aneinanderreihen, um einen Stop-Motion-Effekt zu erzeugen (vlg.  dieses nachbearbeitete Erklärvideo von Mittelschülerinnen über die DNA-Translation).

Der Technisierungsgrad der Aufgabe erleichtert es Lehrenden, auf die individuellen Fähigkeiten der Anwesenden einzugehen. Stärkere Gruppen eignen sich selbstständig anhand von Software-Tutorials an, wie sie Videos digital bearbeiten können. Schwächere Gruppen dagegen konzentrieren sich darauf, die Inhalte zu erarbeiten und visualisieren.

Digital zeichnen: Vom Prinzip ähnlich, aber technisch aufwändiger sind digital gezeichnete und animierte Videos (www.videoscribe.co, www.powtoon.com) sowie Stop-Motion Videos. Alternativ können Bilder bzw. Zeichnungen in PowerPoint animiert und besprochen werden (dazu ein Erklärvideo von mir). 

Screencast: An der Hochschule für Technik Stuttgart erstellen Studierende Lösungsvideos zu Mathematikaufgaben. Die Dozierenden schildern ihr Vorgehen dabei in diesem Webinar.

Wie die Lehrenden begleiten, ist entscheidend  

Je weniger die Lernenden über Arbeits- und Lernstrategien verfügen, desto stärker sollte die Gruppenarbeit und der Lernprozess begleitet werden. Das Erstellen eines Erklärvideos ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Die Lehrperson unterstützt Lernende, fokussiert bei der Arbeit zu bleiben, indem sie die Aufgabe in mehrere Teilschritte mit Deadlines gliedert.  

Storyboard: Nach dem Erarbeiten der Inhalte erstellen die Lernenden ein Storyboard oder ein Drehbuch. Dies besteht z. B. aus einigen A5 Karten, welche die Szene skizzieren und einige Sätze enthalten. Jede Gruppe lässt das Drehbuch von der Lehrperson absegnen, bevor sie in die nächste Phase geht. Dies verhindert, dass eine Gruppe in eine ungünstige Richtung arbeitet oder zentrale Aspekte ausser Acht lässt. Es empfiehlt sich, eine frühe Deadline zu setzen, damit die Gruppen ausreichend Zeit haben, das Zwischen-Feedback der Lehrperson umzusetzen.

Requisiten: Im Anschluss werden die Requisiten – zum Beispiel selbst angefertigte Zeichnungen – erstellt. Es können auch Grafiken aus dem Internet ausgedruckt und ausgeschnitten werden.

Sprechtext: Der Sprechtext muss nicht immer ausformuliert und aufgeschrieben sein, obgleich dies die Qualität der Erzählstimme erhöht.

Nach dem Erstellen der Requisiten und des Sprechertexts kann die Lehrperson je eine weitere Rückmeldung geben und den Lernprozess steuern.

Aufnahme des Videos: Häufig müssen Lernende das Video mehrmals aufnehmen, bis es im Kasten ist. Das mag sie frustrieren, eröffnet jedoch eine wertvolle Lerngelegenheit. Einerseits festigt sich der Inhalt durch die Repetition, andererseits können sie ihre eigene Sprechstimme hören, reflektieren und justieren.

Prägnante Aufgabenstellung: Dazu gehören Hinweise zur Dauer des Videos (Empfehlung: maximal 5 Minuten), zu nötigen Informationen auf dem Titelbild sowie zum Abgabeformat des Videos. Zudem muss erwähnt sein, ob alle involvierten Lernenden zu hören sein sollen.

Erworbene Kompetenzen  

Abhängig von der Aufgabenstellung können Lernende diese Kompetenzen erwerben:

  • innerhalb der vorgegebenen Zeit Arbeitsweise und Inhalte priorisieren
  • sich als Gruppe auf eine Vorgehensweise einigen
  • fachlichen Inhalt, den das Erklärvideo behandelt
  • Inhalte recherchieren, filtern und zusammenfassen
  • Inhalte visualisieren
  • Storytelling
  • reflektieren und steuern der eigenen Sprechstimme
  • berücksichtigen von Urheberrechten und Datenschutz
  • ggf. mit einer Videobearbeitungssoftware umgehen

Mitdenken erbeten: Evaluation und Benotung sinnvoll? 

Das Ergebnis dieser Methode kann evaluiert und benotet werden. Damit lässt sich ein Vortrag oder eine schriftliche Arbeit ersetzen. Setzt man diese Methode zum ersten Mal ein, kann die Benotung eine Herausforderung sein. Als Starthilfe können Sie dieses Bewertungsraster verwenden. Wählen Sie drei bis fünf der Kriterien aus und gewichten Sie diese nach Ihren Bedürfnissen.

Diskutieren Sie mit uns in der Kommentarspalte darüber, inwiefern welche Kriterien (nicht) sinnvoll sind, welche Sie verwenden würden und welche Ihnen fehlen.

INFOBOX
Haben Sie generell Interesse an Videos in der Lehre? Gerne verweisen wir Sie auf folgende Angebote:

- Video als FeedbackmethodeWie man Feedback persönlicher gestaltet und dabei Zeit spart
- Inhalte und Kompetenzen mit Erklärvideos vermitteln – Lernförderliche Videos erstellen und didaktisch sinnvoll in den Unterricht einbetten

Zum Autor

Dominic Hassler ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der PH Zürich und leitet den Themenbereich «Digitales Lernen» im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung.

Den Bezug zum Berufsfeld in drei Schritten stärken

Beitrag von Simone Heller-Andrist

Dozierende und wissenschaftliche Mitarbeitende an Pädagogischen Hochschulen sind mit vielfältigen Aufgaben betraut, die fundierte Kenntnisse des Berufsfelds erfordern. Diesen Anforderungen kann mit einem aufgabenspezifischen Berufsfeldbezug nachgekommen werden. Die Projektarbeiten zum «Doppelten Kompetenzprofil der Pädagogischen Hochschulen» nahmen die Stärkung des Berufsfeldbezugs in den Fokus. Eines der Resultate der Arbeiten ist ein CAS-Studiengang, der im Herbst 2021 erstmals lanciert wird.

Vertiefte Einblicke ins Berufsfeld Schule (Bild: Fabian Klausberger)

Für meinen hochschuldidaktischen Unterricht stelle ich mir immer wieder die Frage, ob ich eigentlich über aktuelle Kenntnisse des Tertiärbereichs verfüge. Was bedeutet es für die Dozierenden an Hochschulen heute, Studierende zu unterrichten? Was treibt sie um? Wie ist der Kontext des Studiums gestaltet? Diese und weitere Fragen betreffen den Berufsfeldbezug meiner Aufgabe als Dozentin in Hochschuldidaktik, also den Bezug, den ich zur Praxis auf der Tertiärstufe pflege.

In meiner Lehre greife ich regelmässig auf Erkenntnisse aus meiner Tätigkeit in der Ausbildung Studierender zurück: Wie habe ich beispielsweise mein Feedback an die Studierenden gestaltet, frage ich mich, wenn ich meinen Teilnehmenden im CAS Hochschuldidaktik Regeln des Feedback-Gebens vorstelle. Wie haben die Studierenden auf strukturiertes Feedback, beispielsweise im Anschluss an eine Präsentation im Seminar, reagiert? Wie habe ich den Studierenden Rückmeldung zu persönlichen Aspekten wie Haltung und Gestik, Stimme und Intonation gegeben, ohne sie unangenehm zu exponieren?

Wenn ich meinen Berufsfeldbezug kritisch betrachte, dann liegen meine Bedenken darin begründet, dass meine langjährige Unterrichtstätigkeit auf der Tertiärstufe eine Weile zurückliegt, also nicht aktuell ist. Gleichzeitig bemerke ich, dass ich nicht zu allen für meine heutige Lehre aktuellen Themen selbst Erfahrungen gesammelt habe, auf die ich zurückgreifen kann. Ich kann auch schwerlich rückwirkend neu reflektieren. Es stellt sich also die Frage nach dem Verhältnis zwischen Unterrichtserfahrung und Berufsfeldbezug.

Rechtliche Grundlagen und Kompetenzen des Berufsfeldbezugs

Ein Blick in die Rechtsgrundlagen, die die Qualifikation der Dozierenden zum Gegenstand haben, wirft dieselbe Frage auf. Dozierende und wissenschaftliche Mitarbeitende an Pädagogischen Hochschulen sind üblicherweise in mehreren Tätigkeitsbereichen engagiert und mit vielfältigen Aufgaben betraut. Die damit verbundenen Anforderungen sind u.a. in der Hochschulordnung der PHZH ausgeführt: Dozierende der PHZH «verfügen über einen Hochschulabschluss im zu unterrichtenden Fachgebiet, über didaktische Qualifikationen und über ein Lehrdiplom oder einen äquivalenten Bezug zum Schulfeld» (§24.2). Die rechtlichen Grundlagen auf gesamtschweizerischer Ebene (Bund, SBFI, EDK, ) fordern dasselbe, wenn auch teils in etwas allgemeinerer Form. Das wissenschaftliche Personal soll also über wissenschaftliche Kompetenzen sowie vertiefte, aktuelle Kenntnisse des Schul- und Berufsfelds verfügen. Dieses Kompetenzprofil, das eine Kombination von Kenntnissen der wissenschaftlichen Praxis und der Praxis des Berufsfelds darstellt, wird häufig als «doppeltes Kompetenzprofil» bezeichnet.

Um den «äquivalenten Bezug zum Schulfeld» zu beurteilen, stellt sich die Frage, welche Kompetenzen mit dem Lehrdiplom und der Unterrichtserfahrung gemeint sind. Das Projekt «Doppeltes Kompetenzprofil der Pädagogischen Hochschulen» (DKP PH) aus dem Programm P-11 «Pilotprogramme zur Stärkung des doppelten Kompetenzprofils beim FH- und PH-Nachwuchs» von swissuniversities, befasste sich in Zusammenarbeit von insgesamt neun Pädagogische Hochschulen eingehend mit dem Berufsfeldbezug des wissenschaftlichen Personals. Eines der Resultate aus dem Projekt sind die Beschreibungen berufsfeldbezogener Kompetenzen, aus denen die Lernziele eines im Projekt entwickelten CAS-Studiengangs abgeleitet wurden.

Berufsfeldorientierung: Ein ganz besonderer Wegweiser steht auf dem Schulhausplatz der Primarschule Walchwil. (Bild: Sabine Tanner-Merlo)

Studiengang aus dem Projekt «Doppeltes Kompetenzprofil der PH»

Im Projekt DKP PH wurde ein Angebot zur Stärkung des Berufsfeldbezugs entwickelt, zweifach pilotiert und in einen CAS-Studiengang überführt. Der CAS «Den Berufsfeldbezug stärken!» wird ab September 2021 angeboten. Er richtet sich an Dozierende und wissenschaftliche Mitarbeitende an Pädagogischen Hochschulen, die ihren aufgabenspezifischen Berufsfeldbezug aufbauen, erweitern oder aktualisieren wollen, also an Personen, deren eigene Unterrichtstätigkeit eine Weile zurückliegt, deren Lehrdiplom nicht der Zielstufe der aktuellen Tätigkeit entspricht, die über kein Lehrdiplom verfügen oder die sich mit dem schweizerischen Bildungssystem bekannt machen wollen. Im Zentrum des CAS steht der aufgabenspezifische Berufsfeldbezug, der Dozierenden und wissenschaftlichen Mitarbeitenden an PH eine berufsfeldbezogene Tätigkeit ermöglicht.

Unterrichtserfahrung und Berufsfeldbezug

Wie kann ich denn meine Tätigkeit berufsfeldbezogen ausüben? Meine eigene Unterrichtserfahrung trägt sicherlich dazu bei, dass ich meine Aufgabe als Dozentin der Hochschuldidaktik gut erfüllen kann. Ich stosse aber auch an Grenzen dessen, was Erfahrung leisten kann:

  1. Meine Unterrichtserfahrung ist nicht aktuell. Das (Hoch-)Schulfeld hat sich in den vergangenen Jahren stark weiterentwickelt. Ich möchte gerne über aktuelle Innensichten der Tertiärstufe verfügen.
  2. Die Passung meiner (damaligen) Erfahrung auf meine aktuellen Aufgaben an der Pädagogischen Hochschule ist nicht oder nur teilweise gegeben.
  3. Eine Reflexion der Erfahrung zugunsten von Erkenntnissen, die ich in meine aktuellen Aufgaben transferieren kann, ist aufgrund der zeitlichen Distanz nur schwer zu vollziehen.

Ein Berufsfeldbezug meint also einen Bezug zum Berufsfeld, der aufgabenspezifisch hergestellt wird, aktuell ist und gepflegt wird. Auch wenn ich über Unterrichtserfahrung verfüge, brauche ich Möglichkeiten, um meinen Berufsfeldbezug kontinuierlich zu aktualisieren.

Gemäss Scherrer et al. (Artikel «Die Bedeutung des Berufsfeldbezugs für Laufbahnen an Pädagogischen Hochschulen» eingereicht, noch nicht online publiziert) bedingt der aufgabenspezifische Berufsfeldbezug iterativ folgenden Dreischritt:

  1. Aufgabenanalyse: Ich analysiere und bestimme, welche Aufgaben ich an der PH ausübe, und welche Berufspraxis damit korrespondiert.
  2. Berufsfeldzugang: Ich frage mich, mit welchen Methoden ich Erfahrungen und Erkenntnisse gewinnen kann von jenen Bereichen der Berufspraxis, die für meine Aufgaben an der PH relevant sind. Dies kann ich auf verschiedene Weise tun, beispielsweise über eine Unterrichtstätigkeit oder -beobachtung in mehreren Klassen der Zielstufe.
  3. Transfer der Erkenntnisse: Ich integriere meine Erkenntnisse in meine Tätigkeit an der PH, d.h. ich arbeite sie beispielsweise für meine eigene Lehre auf oder ich bemühe mich um Passung der Produkte meiner Tätigkeit an der PH auf den Bedarf der Berufspraxis.

Wie steht es denn nun um den Berufsfeldbezug meiner Aufgaben in Hochschuldidaktik? Ich verschaffe mir im Rahmen meiner Tätigkeit im CAS Hochschuldidaktik immer wieder Einblicke in die Tätigkeit von Dozierenden des Tertiärbereichs, beispielsweise durch Berichte oder Videoaufnahmen des Unterrichts der Teilnehmenden. Ab 2021 unterrichte ich nun wieder Studierende der PHZH, um meinen Bezug zur Lehre der Tertiärstufe zu aktualisieren.

INFOBOX
Der CAS «Den Berufsfeldbezug stärken!» startet im September 2021, alle Informationen dazu finden Sie auf unserer Webseite. Bei Interesse am CAS dürfen Sie auch gerne die Informationsveranstaltung (Webinar) besuchen, die am 4. März 2021 stattfindet.

Zur Autorin

Simone Heller

Simone Heller-Andrist arbeitet am ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich als Projektleiterin für Entwicklungs- und Weiterbildungsangebote im Hochschulbereich. Sie leitet den CAS Hochschuldidaktik «Winterstart» und den im Herbst 2021 startenden CAS «Den Berufsfeldbezug stärken!».

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr?

Didaktische Herausforderungen auf unterschiedlichen Bildungsstufen im Bereich der beruflichen Bildung  

Beitrag von Arlette Haase

Wer sowohl in der beruflichen Grundbildung wie auch in der höheren Berufsbildung oder Weiterbildung unterrichtet, kennt den Spagat zwischen den zumeist jugendlichen Berufslernenden und den erfahreneren Berufsleuten im Unterricht. Während die Jugendlichen in der beruflichen Grundbildung oft direkt von der Volksschule in die Lehre eintreten, sich mitten in der Adoleszenz befinden und wenig bis keine Berufserfahrung aufweisen können, stehen die Teilnehmenden von Angeboten der höheren Berufs- und Weiterbildung mitten im (Berufs-) Leben und möchten sich gezielt weiterbilden. Es versteht sich von selbst, dass das didaktische Arrangement an die jeweilige Zielgruppe angepasst werden muss.  

Im Unterricht mit Jugendlichen spielt die Förderung ihrer überfachlichen Kompetenzen eine wichtige Rolle.

So lernen Jugendliche in der beruflichen Grundbildung 

Jugendliche in der beruflichen Grundbildung benötigen neben den fachlichen und allgemeinbildenden Inhalten, welche durch die Bildungspläne vorgegeben werden, häufig Unterstützung auf dem Weg des Erwachsenwerdens und bei der Ausbildung ihrer Identität. Im Unterricht wird viel Wert auf die so genannten überfachlichen Kompetenzen gelegt, indem Lernende beispielsweise auch bei der Planung ihres Lernens unterstützt werden. Lehrpersonen sind nebst Fachpersonen für den jeweiligen Beruf oder den allgemeinbildenden Unterricht häufig Bezugspersonen für ganz unterschiedliche Anliegen der Berufslernenden, sei es bei Problemen im Betrieb oder bei persönlichen Themen.  

So lernen Studierende in der höheren Berufs- und Weiterbildung 

Studierende in der höheren Berufs- und Weiterbildung hingegen bringen bereits einen Strauss an beruflichem Wissen und Erfahrungen mit. Diese gilt es im Unterricht gezielt aufzugreifen und daran anknüpfend die Fachkompetenz zu erweitern. Damit dies gelingt, müssen Lehrpersonen Möglichkeiten bieten, die bestehenden Erfahrungen mit dem neuen Wissen in Verbindung zu bringen und dabei berücksichtigen, dass eine Auseinandersetzung mit Gewohnheiten, Einstellungen und Weltanschauungen die an sich gefestigte Identität von «erwachsenen» Studierenden ins Wanken bringen kann (vgl. Siebert, 2017, 28). Hier gilt es zu respektieren, dass Studierende gezielt entscheiden, mit welchen Inhalten sie sich tiefergehend befassen und welche Inhalte für sie wenig Relevanz haben. Ebenso verfügen Studierende zumeist über stabile Lernstile (Siebert, 2017, 72) und wissen genau, wie sie lernen, während Jugendliche in der beruflichen Grundbildung häufig erst an dieses Thema herangeführt werden müssen. Dabei steht der Beziehungsaspekt weniger im Vordergrund als der fachliche Austausch. 

Erwachsene lernen basierend auf ihren Gewohnheiten, Einstellungen und Weltanschauungen.

Eine klare Trennung nach Stufe greift zu kurz 

Doch eine schlichte Reduktion auf die jeweilige Stufe (berufliche Grundbildung/höhere Berufsbildung) bei der Planung von Unterricht greift zu kurz. In der beruflichen Grundbildung finden wir ebenfalls Lernende, die beispielsweise eine verkürzte Lehre absolvieren oder in der ergänzenden Bildung ihren Berufsabschluss nachholen und somit bereits über einige Jahre Berufserfahrung verfügen. Und auch im Bereich der höheren Berufs- und Weiterbildung finden wir eine Spannbreite vom jungen Erwachsenen, der direkt aus der beruflichen Grundbildung kommt bis hin zur langjährigen Berufsperson, die sich nach einer längeren Phase beruflicher Tätigkeit aus unterschiedlichen Gründen für eine Weiterbildung entschieden hat.  

Konzept der Adressatenanalyse  

Lehrpersonen im berufsbildenden Bereich sind also angehalten, auch bei gleichen oder ähnlichen Unterrichtsinhalten immer wieder zu analysieren, wer genau ihre Zielgruppe ist und welche Bedürfnisse diese hat, aber auch welche Schwierigkeiten sich jeweils ergeben könnten. Erst aufgrund dieser Adressatenanalyse kann ein passender Unterricht entwickelt werden. Dabei gelten folgende Prinzipien: Je jünger die Lernenden, desto mehr Führung und pädagogische Unterweisung brauchen sie; je älter die Lernenden, desto mehr steht Anschlusslernen, also das Lernen aus den eigenen (beruflichen) Erfahrungen, im Vordergrund und nicht die Belehrung.  

Konzept der Bedeutsamkeit  

Entscheidend für einen gelingenden Lernprozess ist die Frage, inwieweit es im Unterricht gelingt, die (vorgegebenen) Unterrichtsinhalte individuell bedeutsam zu machen, so dass die Lernenden und Studierenden einen unmittelbaren Bezug zu ihrer Lebenswelt herstellen können. Mikula (2009, 6) beschreibt, passend dazu, die subjektive Bedeutsamkeit als ausschlaggebend dafür, «ob sich Lernen als Veränderung von Handlungen, als Wissenserweiterung oder als Beitrag zur Lebensbewältigung vollzieht». Nur wenn dieser Brückenschlag zwischen Lehrangebot und den individuellen Anschluss- sowie Verarbeitungsmöglichkeiten gelingt, kann Lernen im Sinne einer Reinterpretation oder Reorganisation von bereits vorhandenen Strukturen stattfinden. Damit subjektive Bedeutsamkeit entstehen kann, gilt es Gefässe zu schaffen, in denen die wirklichen Lerninteressen von Lernenden zum Vorschein kommen können, die Gründe für das jeweilige Lernangebot offenzulegen und den Lernenden die mögliche Bedeutsamkeit für ihre Lebenswelt aufzuzeigen (vgl. Holzkamp, 2004, 32).  

Lehrende sind angehalten, sich bei der Planung und Durchführung von Unterricht intensiv mit den Voraussetzungen und Bedürfnissen ihrer Zielgruppe auseinanderzusetzen. Wo möglich sollten sie diese Bedürfnisse aktiv aufgreifen sowie verschiedene Zugänge zu einem Lernangebot schaffen. Dies immer mit dem Wissen, dass Lernen ein aktiver und selbstgesteuerter Prozess ist und Lehrende vor allem in der Funktion eines kognitiven, aber auch emotionalen Resonanzkörpers fungieren (Mikula, 2009, 6). 

INFOBOX
Das Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung bietet Beratungen zu verschiedensten Themen an, auch spezifisch zum Unterschied zwischen Jugendlichen und Erwachsenen beim Unterrichten. Zudem befasst sich der neu konzipierte CAS Erwachsenenbildung mit Start im Herbst 2021 mit dieser Frage.

Zur Autorin

Arlette Haase ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Themenbereich «Digitales Lernen» des Zentrums Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich.

Sind Menschen die besseren Roboter? Ethische Fragen zur Digitalisierung

Beitrag von Peter Holzwarth

Digitalisierung Ethik
Mensch versus Maschine

Werden früher oder später auch Lehrpersonen durch smarte Roboter ersetzt? Welche Auswirkungen könnte es z. B. haben, wenn man nach dem Tod einer geliebten Person einen Roboter-Klon aktivieren kann? In diesem Beitrag werden ethische Fragen in Bezug auf Medienbildung und Digitalisierung diskutiert. Diese Aspekte müssten in der Ausbildung und Weiterbildung von Lehrpersonen sowie pädagogischen Fachkräften stärker berücksichtigt werden, will man den Anspruch einlösen, junge Menschen für die Mitgestaltung der «digitalen» Zukunft zu befähigen (Der Praxisteil einer früheren Version des Beitrags ist hier zu finden.).

Ethische Defizite im Digitalisierungsdiskurs

Die Auseinandersetzung mit Werten und ethischen Fragen hat aus mehreren Gründen an Bedeutung gewonnen: Durch Globalisierungs-, Individualisierungs- und Fragmentierungsprozesse (vgl. u. a. Beck 1986) werden gemeinsam geteilte gesellschaftliche Werte in Frage gestellt. Hans Küng (2003) hat mit dem «Projekt Weltethos» den Versuch unternommen, gemeinsam geteilte Werte über alle kulturellen Kontexte und Religionen hinweg sichtbar zu machen.

Die Pluralisierung und Individualisierung von Lebensentwürfen und Werthaltungen stellt eine grosse Chance für Freiheit und Selbstbestimmung dar – sie bedeutet aber auch ein individuelles und gesellschaftliches Risiko (Beck 1986). Wertevermittlung im Familienkontext ist in vielen Bereichen unsicherer geworden: Mehrfachbelastungen, Stress, Zeitmangel, Trennungen, erhöhte Erziehungsanforderungen und Mangel an ökonomischem und kulturellem Kapital (Bourdieu 1982) spielen dabei eine Rolle. Selten werden in der Ausbildung und im Arbeitsalltag von pädagogischen Fachkräften Räume für die Reflexion eigener Werte und Anliegen geboten. Als möglicher Kontext der Wertediskussion bieten sich medienpädagogische Aktivitäten an. Verschiedene Beispiele werden im Folgenden besprochen.

Werteorientierte Medienpädagogik

Medienpädagogische Projekte, bei denen die Thematisierung von Werten im Fokus steht, können auf verschiedenen Ebenen stattfinden:

a) Individuelle Werte explorieren

Medienpädagogische Projekte können die Teilnehmenden dazu einladen, ihre eigenen Werte zum Thema zu machen bzw. sich der eigenen Werte bewusst zu werden: Was ist mir wichtig? Was sind meine Werte? Was sind meine Stärken?

Ein Beispiel für ein werteorientiertes Medienprojekt ist «My Selfie – My Skills».  Es leitet die Teilnehmenden dazu an, ihr Selfie-Foto mit ihren geschriebenen oder gezeichneten Skills bzw. Kompetenzen darzustellen (Holzwarth 2019).

b) Gesellschaftliche Werte inhaltlich zum Ausdruck bringen

In Medienproduktionen können Werte auch im Sinne von Gesellschaftskritik zum Ausdruck kommen, z. B. Kritik an Schönheitsidealen, Kritik an Umweltzerstörung, Kritik an Ausgrenzung und Fremdenhass.

«Adbusting» ist ein Konzept, bei dem Werbebotschaften aufgegriffen und auf visueller oder sprachlicher Ebene im Sinne von Kritik oder Parodie umgestaltet werden (vgl. Holzwarth 2007). Folgende Aspekte in Werbungen können aufgegriffen werden: ungesunde Produkte, unökologische Produkte, Schlankheitsnormen, Sexismus, Rassismus, Entlarvung zweifelhafter Werbeversprechen, Entlarvung von Photoshop-Schönheitsidealen, zweifelhafte Arbeitsbedingungen bei der Herstellung von Produkten.

c) Wertefragen beim Produzieren

Auch bei Diskussionen bzgl. des Produktionsprozesses können ethische Fragen angestossen werden:

  • Quellen benennen und Respekt zeigen gegenüber Fremdmaterial, das in eine Produktion eingebaut wird
  • Objektivität bei der Berichterstattung im Zusammenhang mit journalistischen Medienformaten (z. B. keine Fake News verbreiten, Quellen überprüfen)
  • Keine Blossstellung von Personen, die bei einer Produktion mitgemacht haben (z. B. Menschen bei Umfragefilmen nicht lächerlich machen)
  • Transparenz in Bezug auf Publikationspläne gegenüber Menschen, die bei einer Strassenumfrage mitmachen
Digitalisierung
Ist diese Art von Digitalisierung wünschenswert? Hier ist ethische Reflexion gefordert.

Ethische Fragen und Digitalisierung

Um sich mit ethischen Fragen im Zusammenhang mit Digitalisierung auseinanderzusetzen, kann eine Lernaktivität für Studierende und Weiterbildungsteilnehmende auch mit einer kreativen Schreibaufgabe verknüpft werden: Die Teilnehmenden beziehen sich dabei auf vorhandene gesellschaftliche Probleme und entwerfen narrativ ein Negativszenario für das Jahr 2030 (Beispielgeschichte als PDF zum Download). Dieses Konzept wurde 2018 mit Studierenden der Pädagogischen Hochschule Zürich erprobt. Sie besuchten die Veranstaltung «Medien und Informatik», in der sie unter anderem auch das Programmieren mit Scratch und das Arbeiten mit Roboterlernumgebungen kennenlernen konnten. Auch am Fachgruppentag der PH Zürich 2019 konnten Erfahrungen gesammelt werden.

Neben der Auseinandersetzung mit ethischen Fragen (Fragenkatalog zu Medienethik als PDF zum Download) bestand das Hauptziel der Lernaktivität darin, den Bogen zwischen eigener Robotikerfahrung und gesellschaftlichen Entwicklungen zu spannen.

Auch Erfahrungen mit Spielfilmen und Romanen zu Digitalisierungs- und Robotikthemen konnten aufgegriffen werden.

Folgende Lernziele sind mit der Aktivität verbunden:

  • medien- und digitalisierungskritisches Bewusstsein entwickeln;
  • eigene Erfahrungen mit Robotern (z. B. Staubsaugerroboter, Spielroboter) mit einer gesellschaftlichen Perspektive verbinden;
  • ethische Fragen (s. unten) kennen und sich selbst positionieren können;
  • Werteerhellung (Büsch und Schreiber 2016, 62): sich der eigenen Werte bewusst werden;
  • ein Bewusstsein für die «historische Gemachtheit» von Technik (durch den Menschen) entwickeln;
  • Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen erkennen bzw. übernehmen;
  • eigene Mitverantwortung an digitalen Entwicklungen bewusst machen (heute werden die Weichen für morgen gestellt);
  • Bewusstsein für Technikfolgenabschätzung entwickeln;
  • Geschichten schreiben lernen;
  • das literarische bzw. filmische Genre der Dystopie kennen lernen;
  • eigene Medienerfahrungen (z. B. Spielfilm «Blade Runner», Serie «Real Humans», Romane «Quality Land» und «Maschinen wie ich») reflektieren und literarisch-produktiv verarbeiten können.

Fazit

In vielen gesellschaftlichen Kontexten stellt sich die Frage, welche Art von digitaler Zukunft wünschenswert ist. Zum einen erfordern neue digitale Phänomene ethische Reflexion und Aufarbeitung, zum anderen ist ethische Reflexionskompetenz entscheidend, um digitale Wandlungsprozesse gestalten zu können und bestimmte negative Szenarien zu verhindern. Daher ist es wichtig, Wertefragen stärker in Ausbildung und Weiterbildung zu integrieren. Die Medienpädagogik mit ihrer medienkritischen Denk- und Handlungstradition (vgl. Baacke 1997) kann hier einen wertvollen Beitrag leisten. Die ersten Erfahrungen mit dem Schreibauftrag «Digitales Negativszenario der Zukunft» im Rahmen einer Lehrveranstaltung bzw. einer Weiterbildung von Dozierenden waren vielversprechend. Sie haben gezeigt, dass eine intensive Auseinandersetzung mit ethischen Problemdimensionen und medialen Beispielen Zeit erfordert. Für zukünftige Durchführungen könnte es daher empfehlenswert sein, eine Selbstlernphase einzubauen, in der Studierende oder Weiterbildungsteilnehmende sich eigenständig mit ethischen Themenfeldern und medialen Texten (z. B. Blade Runner) beschäftigen, auch eine Eingrenzung bzw. Vorauswahl der ethischen Fragen könnte helfen.

INFOBOX

In seinem Kurs Kreatives Schreiben leicht gemacht: Das motivierende Prinzip «Remake» vermittelt Peter Holzwarth den Teilnehmenden das Prinzip «Remake», für das eigene Schreiben und für die Vermittlungskontexte Schule und Erwachsenenbildung.

Die Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung befasst sich auf verschiedenen Ebenen mit dem Thema Digitalisierung. Es werden diverse Veranstaltungen angeboten, die sich mit dem Thema befassen, z.B. der Kurs Flipped Classroom - vom Konzept bis zur Umsetzung im eigenen Unterricht des ZHE, die Veranstaltungen für Berufsfachschullehrpersonen in der Rubrik Digitales Lernen oder die Veranstaltungen für Erwachsenenbildende in der Rubrik Digitalisierung.

Zum Autor

Peter Holzwarth

Peter Holzwarth ist Dozent für Medienpädagogik an der PH Zürich. Er leitet das Fachteam Medienpädagogik, arbeitet im Schreibzentrum, im Digital Learning (DLE) und in der Abteilung Internationale Bildungsentwicklung (IB). Ausserdem ist er Berater bei der Stelle für Personalfragen (SteP). 

Redaktion: Martina Meienberg

Managing the unexpected – Aspekte organisationaler Resilienz

Beitrag von Geri Thomann

Das Unerwartete

Während des Covid 19-Lockdowns im Frühling dieses Jahres war es laut diversen Berichten aus Hochschulen und anderen Bildungsorganisationen Aufgabe von allen Beteiligten, einerseits im Distance-Betrieb gewohnte Strukturen und Bildungsangebote aufrechtzuerhalten und andererseits ebenso im Distance-Modus – z.B. durch «digitale» Kaffeepausen – interne Interaktion zu ermöglichen, um Wahrnehmungen auszutauschen und Zweifel sowie Ängste zu formulieren. Erst daraus liessen sich schliesslich Modifikationen von tradierten Arbeitsweisen und Aufgaben ableiten. Die grosse Gefahr bestand darin, mental die Krise lediglich «auszusitzen», alle Aktivitäten auf das «Danach» zu verschieben und sich die alte Normalität herbeizusehnen. Schnelle Feedback-Systeme für die Kalibrierung der gegenwärtigen «anderen» Normalität wurden unumgänglich. 

Das sind sie nach wie vor – die andere Gegenwart scheint zu einer neuen Zukunft zu werden. 

Defensive Routinen und Single Loop-Lernen

Wir wissen es alle: Trotz bisherigem Erfolg kann der Mensch jederzeit scheitern; dies vor allem dann, wenn er neuen Herausforderungen mit altbekannten Reaktionen begegnet, dadurch «unpassendes» Wissen nicht verlernt und so sein Handeln nicht adaptieren kann. Das ist bei Organisationen nicht anders: Der wohl bekannteste Autor, welcher sich aus dieser Perspektive mit organisationalem Lernen beschäftigt hat, ist Chris Argyris. Er begründete das Konzept der «defensiven Routinen» (Argyris 2004).

Gelernte und fixierte Grundmuster im Umgang mit schwierigen oder neuartigen Situationen funktionieren nach Argyris häufig linear als «single loop-learning», einem steten Kreislauf von Aktion und Reaktion. Dies geschieht, ohne die etablierte Vorgehensweise (Routine) grundsätzlich und reflexiv auf einer Metaebene in Frage zu stellen («double loop-learning»). Dabei entwickeln sich organisationale defensive Musterschlaufen, die eigentliches Lernen – als aktive Anpassung an veränderte Verhältnisse – verhindern.

Quelle: Wikipedia Schema Schleifenlernen

Defensive Routinen sind Handlungen, die Menschen und Organisationen vor negativen Überraschungen, Gesichtsverlust oder Bedrohungen bewahren und gleichzeitig die Organisation daran hindern, die Ursachen für mögliche Pannen und Fehler zu reduzieren. Organisationales Lernen findet laut Argyris und Schön (2002, S. 31f und S. 47) erst und ausschliesslich dann statt, wenn frühere Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg analysiert und interpretiert werden, wenn auf Überraschungen – bei Nichtübereinstimmung von erwarteten und erfolgten Ergebnissen – mit Reflexion und veränderter Aktion geantwortet wird (double loop).

«Ist jemals eine Organisation deshalb am Überleben gescheitert, weil sie etwas Wichtiges vergessen hat? Es ist wahrscheinlicher, dass Organisationen deshalb scheitern, weil sie zu vieles zu lange im Gedächtnis behalten und fortfahren so zu tun, wie sie es schon immer getan haben» (Weick 1995, S. 320).

Gespeicherte Informationen sind heilig

Der Organisationswissenschaftler Karl Weick (1995, S. 321) führt aus, dass in den meisten Organisationen die gespeicherten Informationen als «heilig» betrachtet werden, so dass überliefertes Wissen nicht diskreditiert wird. Eine solche Risikovermeidung führt nicht selten zu einem Absicherungsaufwand, welcher Sicherheit suggeriert. Parallel dazu wissen aber alle Organisationsmitglieder insgeheim, dass sie gerade bei allgegenwärtigem Produktionsdruck oder Leistungsdruck gewisse Regeln missachten müssen, um gute Ergebnisse zu erzielen. Innovationen entstehen in der Regel nicht über die tradierten Kaskaden von Linienentscheiden, sondern über das frische Wagnis der Erprobung. Die verbindliche Regelung von (Qualitäts-)Standards stellt in einer Welt sich beschleunigender Entwicklung plötzlich ein Innovationshemmnis dar, weil der Veränderungsbedarf den Standpunkt der Verbindlichkeit immer wieder überholt.

Die formale Rhetorik der «Sicherheit» widerspricht hier der informellen Realität. Hinter ersterem steckt die fatale Überzeugung, Risiken liessen sich verhindern, wenn professionell geplant und nicht situativ improvisierend vorgegangen wird. Dabei könnte die sichtbar gemachte Spannung kurzfristig die Anpassung und langfristig das Überleben garantieren sowie die Resilienz der Organisationen stärken (Weick 1995, S. 346). Etablierte Routinen dagegen stärken Organisationen und Mitarbeitende in der Annahme, sie hätten alles unter Kontrolle. Die dazu gehörenden Pläne verleiten dazu, das Unerwartete auszublenden. Für Weick und Sutcliffe (2016, S. 72ff) geht es jedoch gerade in schwierigen Situationen und Krisen nicht darum, das Unerwartete mit Routinen und Plänen einzudämmen, sondern situativ-reflexiv damit umzugehen. Voraussetzung hierfür ist es, resilient zu sein.

Organisationale Resilienz

In Krisensituationen – wie der jetzigen – lässt sich grundsätzlich schlecht planen und antizipieren, jeder Moment kann noch so optional gedachte Pläne (so genannte Szenarien) umstossen. Situativ-reflexives Handeln und das Aushalten von Nichtplanbarkeit sind gefragt. Werden Krisensituationen jedoch, spätestens nachdem sie bewältigt wurden, systematisch ausgewertet, entwickeln sich nicht nur bei den beteiligten Individuen Widerstandskräfte. Resilienz entsteht ebenso auf der Ebene von Teams und Organisationen. Handlungscharakteristika von hoher organisationaler Resilienz haben Weick und Sutcliffe (2016) vor allem bei so genannten «high reliability»-Organisationen herausgearbeitet. Kennzeichen von resilienten Handlungsmuster der Bewältigung in Organisationen sind für sie:

  • Eine (neue) Situation versuchen einzuschätzen, während wir gleichzeitig weiterhandeln und diese Situation (mit)gestalten.
  • Unser Handlungsrepertoire ausdehnen und Improvisationsfähigkeit entwickeln.
  • Wiederkehrende Handlungsmuster beibehalten und wo notwendig modifizieren, Alternativen entwickeln und dadurch «die Ereignisse zusammenhalten».
  • Unsere eigenen Wahrnehmungen respektieren, den Berichten anderer vertrauen und Präsenz zeigen sowie ansprechbar sein.
  • Gemeinsam Konzepte mit (neuen) Wahrnehmungen verknüpfen und modifizieren.
  • Erwartungen (bezogen auf die aktuelle Situation) klarstellen, begrenzen und aktualisieren.
  • Lieber «kurierend» sorgen als antizipierend planen und vorsorgen.
  • Zweifelndes Denken in der Öffentlichkeit erlauben und nutzen.
  • Die Konzentration auf Fehler und Pannen als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung zuverlässiger Leistung akzeptieren.

Fazit

Organisationale Resilienz ist damit eine Mischung aus Erfahrungen, fortlaufendem Handeln und intuitiver Neukombination – immer jedoch auf der Basis einer minimalen Grundstruktur und dem Boden einer verlässlichen Kultur. Für die Führung in Organisationen bedeutet dies Zurverfügungstellen von Struktur und von (informellen und formalen) Gefässen der Reflexion, Zulassen von Zweifel, Klären von Erwartungen sowie Pflegen einer sorgenden Haltung – dies alles in einer verantwortungsvollen und entscheidungsfreudigen Moderation.

INFOBOX
Das Kaminfeuergespräch zum Thema «Managing the unexpected – Umgang mit Ungewissheiten und Unvorhersehbarem» findet am Dienstag, 1. Dezember 2020 im Tagungszentrum Schloss Au statt. Im Zentrum stehen Erzählungen von Persönlichkeiten über prägende Erlebnisse in ihrer Führungstätigkeit während der Coronavirus-Zeit.

Haben Sie generell Interesse an Führungsthemen? Gerne verweisen wir Sie auf folgende Angebote:

Hochschulen: CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen

Volksschulen: Blog Schulführung

Zum Autor

Geri Thomann ist Leiter der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Als Inhaber einer ZFH-Professur forscht und publiziert er regelmässig über Aspekte der Hochschulentwicklung und Führungsfragen.

Von Lernherausforderungen zu Lerngelegenheiten

Beitrag von Petra Weiss

Decoding the Disciplines
Das eigene Fach muss von Lehrenden für Lernende entschlüsselt werden.

«Meine Studierenden können keine Texte lesen.» – «Die Studierenden haben ja überhaupt keine Mathe-Kenntnisse.» Solche und ähnliche Aussagen äussern Lehrende immer wieder, z.B. im Rahmen hochschuldidaktischer Fortbildungen. Was steckt dahinter? Woran machen Lehrende ihre Einschätzungen fest? Und wie gehen sie weiter damit um? Nehmen sie ihre Eindrücke resigniert zur Kenntnis und fahren ratlos und eher unlustig mit «ihrem Stoff» fort, in der Hoffnung, dass sich das schon irgendwie geben wird? Oder aber: Können sie genau diese Knackpunkte in Lehrveranstaltungen für das Lernen «fruchtbar» machen und dazu nutzen, echte Lerngelegenheiten zu schaffen?

Denk- und Arbeitsweisen vermitteln

Mit dieser Grundidee arbeitet der Decoding-the-Disciplines-Ansatz, den David Pace und seine Kollegin Joan Middendorf bereits 2004 an der Indiana University entwickelt haben.

Implizites explizit machen! Der Decoding-Ansatz basiert auf dieser fast schon trivialen Forderung. Doch gerade in der Hochschullehre kommt es nicht selten vor, dass Lehrende Inhalte oder Vorgehensweisen, die für sie vollkommen selbstverständlich geworden sind, nicht (mehr) zum Gegenstand der Lehre machen. Aber genau solche automatisierten und selbstverständlichen fachlichen Denk- und Arbeitsweisen sollen «bewusst» vermittelt werden. (Mehr dazu erfahren Sie im Workshop «Denken im Fach vermitteln – Lernhindernisse überwinden».)

Decoding the Disciplines in sieben Schritten

Wie finden Lehrende nun aber heraus, was sie tatsächlich tun, wenn sie (wissenschaftlich) arbeiten? Hier kommt die Reflexion ins Spiel. Durch das Nachdenken über eigene Erfahrungen, über das eigene wissenschaftliche Denken und Handeln können sie identifizieren, was sie genau tun, welche Denk- und Arbeitsschritte sie verfolgen, um fachliche Fragestellungen zu bearbeiten. Im Folgenden wird anhand von sieben Schritten erklärt, wie der Decoding-Ansatz konkret funktioniert:

Decoding the Disciplines
Decoding: sieben Schritte zur Identifikation disziplinärer Denk- und Arbeitsweisen (Abbildung nach: Kaduk und Lahm 2018, 84)
  • Schritt 1: Lehrende identifizieren (disziplinäre) Lern- oder Erkenntnishindernisse von Studierenden, z.B: Studierende können keine Texte interpretieren. Sie bilden zu wenige Hypothesen und kommen zu schnell zu Schlussfolgerungen oder wissen nicht, wie sie wissenschaftliche Literatur lesen (sollen).
  • Schritt 2: Das Problem wird genauer gefasst. Lehrende springen also nicht direkt zur Lösungssuche, sondern reflektieren zunächst, wie sie selbst als Fachexpert/innen vorgehen, wenn sie das tun, woran ihre Studierenden scheitern: Was macht eine Literaturwissenschaftlerin, wenn sie einen Text interpretiert? Wie kommt ein Biologe zu Thesen?
  • Schritt 3: Lehrende überlegen, wie das eigene Vorgehen für Lernende modelliert, d.h. nachvollziehbar und anschaulich gemacht werden kann. Wie liest z.B. eine Historikerin einen Text?
  • Schritt 4: Lehrende entwickeln Ideen für Aufgabenstellungen, mit denen sie Lernende fachliche Vorgehensweisen üben lassen können.
  • Schritt 5: Hier werden motivationale und affektive Aspekte in den Blick genommen, z.B: Wie bringen Lehrende Studierende dazu, wissenschaftliche Texte anders zu lesen als Romane?
  • Schritt 6: Lehrende überlegen, wie sie Rückmeldung einholen und das Gelernte prüfen können.
  • Schritt 7: Ein wichtiger Aspekt des Modells ist schliesslich die Frage, wie die eigenen Überlegungen und Lösungsmöglichkeiten mit anderen Lehrenden geteilt werden können.

Was sind Bottlenecks?

Decoding the Disciplines Bottlenecks
Der Decoding-Prozess startet mit der Identifikation von Bottlenecks.

Ausgangspunkt des Decoding-Ansatzes sind Lernhindernisse oder Lernengpässe, sogenannte Bottlenecks. Bottlenecks können essenzielle Konzepte oder zentrale Fähigkeiten eines Fachs sein, die den Studierenden beim Verstehen und Erlernen Schwierigkeiten bereiten oder sie gar scheitern lassen. Die Studierenden kommen im jeweiligen Fach jedoch nur weiter, wenn sie diese grundlegenden Konzepte erworben oder verstanden haben.

Auf die Identifikation und exakte Analyse der Lernhindernisse legt der Decoding-Ansatz mit den Schritten 1-3 also besonders grossen Wert, während es sich bei den Schritten 4-6 letztlich um die üblichen didaktischen Schritte bei der Planung einer Lehrveranstaltung handelt. Schritt 7 geht über die übliche Konzeption einer Lehrveranstaltung hinaus: Während der Austausch über Forschung selbstverständlich ist, ist dies beim Thema Lehre nicht unbedingt der Fall. Der Decoding-Ansatz enthält diesen Aspekt als inhärenten Bestandteil, sei es informell im Kolleg/innenkreis bis hin zur Idee des Beforschens der eigenen Lehre und einer Publikation der Ergebnisse (vgl. Scholarship of Teaching and Learning SoTL).

Wie erkennt man Bottlenecks?

Und wie geht man Bottlenecks auf den Grund? Die klassische Methode sind die sogenannten Decoding-Interviews: Entweder stellen sich Kolleg/innen (z.B. in Workshops) gegenseitig Fragen, um Lernhindernisse zu identifizieren oder (geschulte) Hochschuldidaktiker/innen führen (z.B. im Rahmen von Beratungen) ein entsprechendes Interview. Die Befragung kann auch schriftlich erfolgen. Besonders gut funktioniert der Ansatz im Austausch mit fachfremden Kolleg/innen, da dann besonders viel Explizitheit gefordert ist. Auch die direkte Rückmeldung von Studierenden kann dabei helfen herauszufinden, an welchen Stellen im Lernprozess sich Bottlenecks befinden.

Warum Decoding the Disciplines? – Ein Fazit

  • Mit dem Decoding-Ansatz können Lehrende eine Sprache für ihr fachliches Handeln entwickeln. Dies ist eine Voraussetzung, um Lernende im jeweiligen Fach zu disziplinärem Vorgehen anzuleiten.
  • Der Ansatz konzentriert sich auf fachliche Denk- und Arbeitsweisen, nicht primär auf fachliche Inhalte. Er zielt somit auf nachhaltiges Lernen und Verstehen ab.
  • Der Ansatz kann als grundlegendes Modell zur Konzeption und Planung von Lehrveranstaltungen herangezogen werden. Die konkrete Ausgestaltung von Aufgabenstellungen bzw. Feedback- und Prüfungsformen erfolgt fachlich bzw. disziplinär.
  • Der Ansatz kann über Lehrveranstaltungen hinaus auch zur Entwicklung eines Curriculums herangezogen werden.
  • Nicht zuletzt kann der Ansatz auch der kritischen Selbstreflexion in der Hochschuldidaktik dienen und so vielleicht die Fachsensibilität fördern.
INFOBOX

Petra Weiss gehört seit Februar 2020 zum Team des ZHE und bringt eine reiche Erfahrung als Hochschuldidaktikerin mit.
In ihrem Workshop vom 2. April 2020 «Denken im Fach vermitteln – Lernhindernisse überwinden» gibt sie eine Einführung in den Decoding-Ansatz und regt die Teilnehmenden dazu an, über ihr eigenes fachliches Tun nachzudenken.

Zur Autorin

Petra Weiss Blog

Petra Weiss ist Dozentin für Hochschuldidaktik am ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich. Sie leitet den CAS Hochschuldidaktik «Sommerstart» sowie weitere hochschuldidaktische Lehrgänge und Kurse und berät bei der (Weiter-)entwicklung von Curricula.

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