Führen von Expertinnen und Experten – eine komplexe Aufgabe

Beitrag von Geri Thomann

Führungsaufgaben in Expertinnen- und Expertenorganisationen gelten allgemein als anspruchsvolle Tätigkeit. Mintzberg (1979) bezeichnet die Bedingungen und Funktionsweisen von Expertinnen- und Expertenorganisationen in ihrer schöpferischen Aufgabe als «Profi-Bürokratie». In Abgrenzung zur «Maschinen-Bürokratie» ist die «Profi-Bürokratie» gekennzeichnet durch die grosse Anzahl an Mitarbeitenden, die fachlich hoch qualifiziert sind und eine erhebliche Kontrolle über die eigene Arbeit haben.

In der Summe werden dabei jedoch häufig ambivalente und teilweise paradoxe organisationale Bedingungen für Expertenorganisationen sichtbar (Thomann & Zellweger, 2016, S. 49).

  • Expertinnen- und Expertenorganisationen zeichnen sich durch Mitarbeitende aus, die hoch qualifizierte Spezialistinnen und Spezialisten sind und in ihrem Fachbereich möglichst autonom arbeiten wollen und können. Sie verfügen folglich über eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit und ein nicht zu unterschätzendes Beharrungsvermögen. Nur mit überzeugenden Argumenten lassen sie sich in eine bestimmte Richtung bewegen. Widerstand gegen Entscheidungen von aussen ist Programm, flache Hierarchien und Konzepte des Intrapreneurships führen zu Konkurrenz, zu Machtkämpfen und zu Deregulierung – und dadurch wieder zu übergeordnetem Regulierungsbedarf.
  • Expertinnen- und Expertenorganisationen kennzeichnet, dass Expertinnen und Experten sich eher ihrer jeweiligen Berufsgruppe gegenüber verpflichtet sehen als der organisatorischen Einheit, oder der Gesamtorganisation zu der sie gehören. Karriere und Laufbahnen werden mehrheitlich in der Logik der Profession und damit weniger abhängig von der Organisation definiert. Dies schafft eine Ambivalenz zwischen inhaltlicher Profilierung in der Fachcommunity und dem organisationalen Commitment. Eine Paradoxie besteht darin, dass gerade die Reputation der einzelnen Expert:innen zentral ist für die Reputation der Gesamtorganisation (Laske et al. 2006, S. 207).
  • Inhaltliche Fachexpertise verfügt zudem traditionsgemäss über einen höheren Status als Führungs- (oder Management-)Expertise, sie repräsentiert sozusagen das «Kapital der Organisation». Führungsentscheidungen werden bei Expert:innen deshalb ambivalent bis skeptisch wahrgenommen; es ist zudem eine grundsätzliche Hierarchieaversion zu konstatieren.
  • Partizipation an Entscheidungen gehört zur organisationalen Kultur in Expertinnen- und Expertenorganisationen – gleichzeitig ist nicht selten latent eine subtile fachliche Konkurrenz allgegenwärtig.
  • In Expertinnen- und Expertenorganisationen stehen inhaltlich orientierte Aufgaben in Spannung zu Verwaltung und Management. Beide Kulturen benötigen unterschiedliche (Führungs-)Konzepte. Eine solche Spannung ist nicht einfach auflösbar, kann aber durchaus produktiv genutzt werden.
  • Zudem lassen die Anforderungen an eine zunehmende Spezialisierung auf Seiten der Expert:innen oft Organisationsstrukturen entstehen, welche nach fachlichen Profilen aufgebaut sind. Dies führt wiederum zu einem wachsenden Integrationsbedarf auf der Ebene Gesamtorganisation. Die notwendige Verknüpfung von hoch autonomen Einheiten ist anspruchsvoll.
  • Einerseits sollen sich gerade staatliche Expertinnen- und Expertenorganisationen zunehmend kostenbewusst oder sogar unternehmerisch verhalten. Andererseits kann das Spannungsfeld zwischen den Steuerungsebenen (staatliche Geldgeber, strategische Führung und operative Führung) eine Paradoxie erzeugen: Die Forderung nach unternehmerischem Handeln wird andauernd durch bürokratische Vorgaben unterlaufen.

Führungshandeln als «Covert Leadership»

Für die Leitung von Expertinnen- und Expertenorganisationen benötigen Führungspersonen nach Mintzberg (1998, S. 140-147) spezifische Fähigkeiten, welche unter dem Begriff «Covert Leadership» zusammenfasst werden. Mit Covert Leadership ist ein Verständnis von Führung gemeint, welches im konkreten Prozess der Zusammenarbeit auf der Basis von Vertrauen, Beziehungsorientierung und Respekt «aus dem Hintergrund» Einfluss nimmt.

In den letzten Jahren zeigt sich in Expertinnen- und Expertenorganisationen – gerade an Hochschulen – ein neues Führungsverständnis, welches auf dem Covert Leadership Gedanken aufbaut. Als Beispiel sei hier die laterale Führung genannt (Thomann & Zellweger 2016 oder Zellweger & Thomann 2018). Dieses Modell beruht auf flacheren und flexibleren Strukturen und der Zunahme von «Hybrid Professionals» (Kels & Kaudela-Baum 2019, S. 21), welche ihre Expertise «quer», transdisziplinär und projektbezogen aufbauen. Mit anderen Worten: Lateral Führende verfügen über keine formalen Weisungsbefugnisse, über keine disziplinarischen oder andere direkten Sanktionsmöglichkeiten. Die Geführten sind nicht zwingend aus derselben Organisationseinheit und bewegen sich oft auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen.

Führung und Expertise – ein Spannungsfeld

Das Spannungsfeld zwischen Führung und Expertise kann nicht aufgelöst werden, es kann lediglich ein für die Institution und seine Ziele förderlicher Umgang gefunden werden. Für die Führungspersonen – aber auch für die Expert:innen – können sich dabei unter anderem folgende Fragen stellen:

  • Inwiefern müssen Führungskräfte zu ihrer Legitimation über einen so genannten Berufsfeldbezug verfügen? Wie führt man Expert:innen ohne eigene Expertise im selben Fachbereich?
  • Wie wird Führungsexpertise im Vergleich zu inhaltlicher Expertise oder fachlicher Erfahrung gewichtet und bewertet, wie ist der Status von Führung in Expertenorganisationen? Wieviel inhaltliche Erfahrung oder aktuelles Fachwissen brauchen Führungskräfte, um führen zu können?
  • Inwieweit können Führungskompetenzen Fachkompetenzen ersetzt oder kompensiert werden? Wie steht es mit der Führungskompetenz als Expertise?
  • Inwieweit stimmt die Hypothese der (latenten) Konkurrenz zwischen Führungspersonen und Expert:innen? Was bedeutet das für das Führungshandeln?
  • Wie ist die Sicht der Geführten «im Sandwich» zwischen Fachexpertise und Management? Handelt es sich dabei eher um ein Spanungsfeld?
  • Wie lässt sich autonomes Handeln von Expert:innen steuern? Wie reagieren Expert:innen darauf?
  • Wie reagieren Expertinnen- und Expertenorganisationen und ihre Führungskräfte auf Krisen, wie bewältigen sie diese?
Die drei Gastgebenden des diesjährigen Kaminfeuergesprächs «Führungskräfte als Schlüsselpersonen für organisationale Resilienz» auf Schloss Au: Geri Thomann, Wiltrud Weidinger und Sylvia Kaap-Fröhlich.

Mit solchen Fragen beschäftigen sich Expert:innen aus Bildung und Gesundheit seit 2017 an den so genannten Kaminfeuergesprächen für Führungskräfte auf Schloss Au – veranstaltet von der PH Zürich in Zusammenarbeit mit dem Careum Bildungsmanagement.

INFOBOX

Die fünfte Durchführung des Kaminfeuergesprächs der PH Zürich mit dem Titel «Führungskräfte als Schlüsselpersonen für organisationale Resilienz» findet am 9. Dezember 2021 von 15.30-20.30 Uhr auf Schloss Au in Wädenswil statt.

Integriert findet dabei die Vernissage des Band 11 der Buchreihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung, «Zwischen Expertise und Führung», statt.

Zum Autor

Geri Thomann ist Leiter der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Als Inhaber einer ZFH-Professur forscht und publiziert er regelmässig über Aspekte der Hochschulentwicklung und Führungsfragen.

Managing the unexpected – Aspekte organisationaler Resilienz

Beitrag von Geri Thomann

Das Unerwartete

Während des Covid 19-Lockdowns im Frühling dieses Jahres war es laut diversen Berichten aus Hochschulen und anderen Bildungsorganisationen Aufgabe von allen Beteiligten, einerseits im Distance-Betrieb gewohnte Strukturen und Bildungsangebote aufrechtzuerhalten und andererseits ebenso im Distance-Modus – z.B. durch «digitale» Kaffeepausen – interne Interaktion zu ermöglichen, um Wahrnehmungen auszutauschen und Zweifel sowie Ängste zu formulieren. Erst daraus liessen sich schliesslich Modifikationen von tradierten Arbeitsweisen und Aufgaben ableiten. Die grosse Gefahr bestand darin, mental die Krise lediglich «auszusitzen», alle Aktivitäten auf das «Danach» zu verschieben und sich die alte Normalität herbeizusehnen. Schnelle Feedback-Systeme für die Kalibrierung der gegenwärtigen «anderen» Normalität wurden unumgänglich. 

Das sind sie nach wie vor – die andere Gegenwart scheint zu einer neuen Zukunft zu werden. 

Defensive Routinen und Single Loop-Lernen

Wir wissen es alle: Trotz bisherigem Erfolg kann der Mensch jederzeit scheitern; dies vor allem dann, wenn er neuen Herausforderungen mit altbekannten Reaktionen begegnet, dadurch «unpassendes» Wissen nicht verlernt und so sein Handeln nicht adaptieren kann. Das ist bei Organisationen nicht anders: Der wohl bekannteste Autor, welcher sich aus dieser Perspektive mit organisationalem Lernen beschäftigt hat, ist Chris Argyris. Er begründete das Konzept der «defensiven Routinen» (Argyris 2004).

Gelernte und fixierte Grundmuster im Umgang mit schwierigen oder neuartigen Situationen funktionieren nach Argyris häufig linear als «single loop-learning», einem steten Kreislauf von Aktion und Reaktion. Dies geschieht, ohne die etablierte Vorgehensweise (Routine) grundsätzlich und reflexiv auf einer Metaebene in Frage zu stellen («double loop-learning»). Dabei entwickeln sich organisationale defensive Musterschlaufen, die eigentliches Lernen – als aktive Anpassung an veränderte Verhältnisse – verhindern.

Quelle: Wikipedia Schema Schleifenlernen

Defensive Routinen sind Handlungen, die Menschen und Organisationen vor negativen Überraschungen, Gesichtsverlust oder Bedrohungen bewahren und gleichzeitig die Organisation daran hindern, die Ursachen für mögliche Pannen und Fehler zu reduzieren. Organisationales Lernen findet laut Argyris und Schön (2002, S. 31f und S. 47) erst und ausschliesslich dann statt, wenn frühere Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg analysiert und interpretiert werden, wenn auf Überraschungen – bei Nichtübereinstimmung von erwarteten und erfolgten Ergebnissen – mit Reflexion und veränderter Aktion geantwortet wird (double loop).

«Ist jemals eine Organisation deshalb am Überleben gescheitert, weil sie etwas Wichtiges vergessen hat? Es ist wahrscheinlicher, dass Organisationen deshalb scheitern, weil sie zu vieles zu lange im Gedächtnis behalten und fortfahren so zu tun, wie sie es schon immer getan haben» (Weick 1995, S. 320).

Gespeicherte Informationen sind heilig

Der Organisationswissenschaftler Karl Weick (1995, S. 321) führt aus, dass in den meisten Organisationen die gespeicherten Informationen als «heilig» betrachtet werden, so dass überliefertes Wissen nicht diskreditiert wird. Eine solche Risikovermeidung führt nicht selten zu einem Absicherungsaufwand, welcher Sicherheit suggeriert. Parallel dazu wissen aber alle Organisationsmitglieder insgeheim, dass sie gerade bei allgegenwärtigem Produktionsdruck oder Leistungsdruck gewisse Regeln missachten müssen, um gute Ergebnisse zu erzielen. Innovationen entstehen in der Regel nicht über die tradierten Kaskaden von Linienentscheiden, sondern über das frische Wagnis der Erprobung. Die verbindliche Regelung von (Qualitäts-)Standards stellt in einer Welt sich beschleunigender Entwicklung plötzlich ein Innovationshemmnis dar, weil der Veränderungsbedarf den Standpunkt der Verbindlichkeit immer wieder überholt.

Die formale Rhetorik der «Sicherheit» widerspricht hier der informellen Realität. Hinter ersterem steckt die fatale Überzeugung, Risiken liessen sich verhindern, wenn professionell geplant und nicht situativ improvisierend vorgegangen wird. Dabei könnte die sichtbar gemachte Spannung kurzfristig die Anpassung und langfristig das Überleben garantieren sowie die Resilienz der Organisationen stärken (Weick 1995, S. 346). Etablierte Routinen dagegen stärken Organisationen und Mitarbeitende in der Annahme, sie hätten alles unter Kontrolle. Die dazu gehörenden Pläne verleiten dazu, das Unerwartete auszublenden. Für Weick und Sutcliffe (2016, S. 72ff) geht es jedoch gerade in schwierigen Situationen und Krisen nicht darum, das Unerwartete mit Routinen und Plänen einzudämmen, sondern situativ-reflexiv damit umzugehen. Voraussetzung hierfür ist es, resilient zu sein.

Organisationale Resilienz

In Krisensituationen – wie der jetzigen – lässt sich grundsätzlich schlecht planen und antizipieren, jeder Moment kann noch so optional gedachte Pläne (so genannte Szenarien) umstossen. Situativ-reflexives Handeln und das Aushalten von Nichtplanbarkeit sind gefragt. Werden Krisensituationen jedoch, spätestens nachdem sie bewältigt wurden, systematisch ausgewertet, entwickeln sich nicht nur bei den beteiligten Individuen Widerstandskräfte. Resilienz entsteht ebenso auf der Ebene von Teams und Organisationen. Handlungscharakteristika von hoher organisationaler Resilienz haben Weick und Sutcliffe (2016) vor allem bei so genannten «high reliability»-Organisationen herausgearbeitet. Kennzeichen von resilienten Handlungsmuster der Bewältigung in Organisationen sind für sie:

  • Eine (neue) Situation versuchen einzuschätzen, während wir gleichzeitig weiterhandeln und diese Situation (mit)gestalten.
  • Unser Handlungsrepertoire ausdehnen und Improvisationsfähigkeit entwickeln.
  • Wiederkehrende Handlungsmuster beibehalten und wo notwendig modifizieren, Alternativen entwickeln und dadurch «die Ereignisse zusammenhalten».
  • Unsere eigenen Wahrnehmungen respektieren, den Berichten anderer vertrauen und Präsenz zeigen sowie ansprechbar sein.
  • Gemeinsam Konzepte mit (neuen) Wahrnehmungen verknüpfen und modifizieren.
  • Erwartungen (bezogen auf die aktuelle Situation) klarstellen, begrenzen und aktualisieren.
  • Lieber «kurierend» sorgen als antizipierend planen und vorsorgen.
  • Zweifelndes Denken in der Öffentlichkeit erlauben und nutzen.
  • Die Konzentration auf Fehler und Pannen als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung zuverlässiger Leistung akzeptieren.

Fazit

Organisationale Resilienz ist damit eine Mischung aus Erfahrungen, fortlaufendem Handeln und intuitiver Neukombination – immer jedoch auf der Basis einer minimalen Grundstruktur und dem Boden einer verlässlichen Kultur. Für die Führung in Organisationen bedeutet dies Zurverfügungstellen von Struktur und von (informellen und formalen) Gefässen der Reflexion, Zulassen von Zweifel, Klären von Erwartungen sowie Pflegen einer sorgenden Haltung – dies alles in einer verantwortungsvollen und entscheidungsfreudigen Moderation.

INFOBOX
Das Kaminfeuergespräch zum Thema «Managing the unexpected – Umgang mit Ungewissheiten und Unvorhersehbarem» findet am Dienstag, 1. Dezember 2020 im Tagungszentrum Schloss Au statt. Im Zentrum stehen Erzählungen von Persönlichkeiten über prägende Erlebnisse in ihrer Führungstätigkeit während der Coronavirus-Zeit.

Haben Sie generell Interesse an Führungsthemen? Gerne verweisen wir Sie auf folgende Angebote:

Hochschulen: CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen

Volksschulen: Blog Schulführung

Zum Autor

Geri Thomann ist Leiter der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Als Inhaber einer ZFH-Professur forscht und publiziert er regelmässig über Aspekte der Hochschulentwicklung und Führungsfragen.

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