Von Lernherausforderungen zu Lerngelegenheiten

Beitrag von Petra Weiss

Decoding the Disciplines
Das eigene Fach muss von Lehrenden für Lernende entschlüsselt werden.

«Meine Studierenden können keine Texte lesen.» – «Die Studierenden haben ja überhaupt keine Mathe-Kenntnisse.» Solche und ähnliche Aussagen äussern Lehrende immer wieder, z.B. im Rahmen hochschuldidaktischer Fortbildungen. Was steckt dahinter? Woran machen Lehrende ihre Einschätzungen fest? Und wie gehen sie weiter damit um? Nehmen sie ihre Eindrücke resigniert zur Kenntnis und fahren ratlos und eher unlustig mit «ihrem Stoff» fort, in der Hoffnung, dass sich das schon irgendwie geben wird? Oder aber: Können sie genau diese Knackpunkte in Lehrveranstaltungen für das Lernen «fruchtbar» machen und dazu nutzen, echte Lerngelegenheiten zu schaffen?

Denk- und Arbeitsweisen vermitteln

Mit dieser Grundidee arbeitet der Decoding-the-Disciplines-Ansatz, den David Pace und seine Kollegin Joan Middendorf bereits 2004 an der Indiana University entwickelt haben.

Implizites explizit machen! Der Decoding-Ansatz basiert auf dieser fast schon trivialen Forderung. Doch gerade in der Hochschullehre kommt es nicht selten vor, dass Lehrende Inhalte oder Vorgehensweisen, die für sie vollkommen selbstverständlich geworden sind, nicht (mehr) zum Gegenstand der Lehre machen. Aber genau solche automatisierten und selbstverständlichen fachlichen Denk- und Arbeitsweisen sollen «bewusst» vermittelt werden. (Mehr dazu erfahren Sie im Workshop «Denken im Fach vermitteln – Lernhindernisse überwinden».)

Decoding the Disciplines in sieben Schritten

Wie finden Lehrende nun aber heraus, was sie tatsächlich tun, wenn sie (wissenschaftlich) arbeiten? Hier kommt die Reflexion ins Spiel. Durch das Nachdenken über eigene Erfahrungen, über das eigene wissenschaftliche Denken und Handeln können sie identifizieren, was sie genau tun, welche Denk- und Arbeitsschritte sie verfolgen, um fachliche Fragestellungen zu bearbeiten. Im Folgenden wird anhand von sieben Schritten erklärt, wie der Decoding-Ansatz konkret funktioniert:

Decoding the Disciplines
Decoding: sieben Schritte zur Identifikation disziplinärer Denk- und Arbeitsweisen (Abbildung nach: Kaduk und Lahm 2018, 84)
  • Schritt 1: Lehrende identifizieren (disziplinäre) Lern- oder Erkenntnishindernisse von Studierenden, z.B: Studierende können keine Texte interpretieren. Sie bilden zu wenige Hypothesen und kommen zu schnell zu Schlussfolgerungen oder wissen nicht, wie sie wissenschaftliche Literatur lesen (sollen).
  • Schritt 2: Das Problem wird genauer gefasst. Lehrende springen also nicht direkt zur Lösungssuche, sondern reflektieren zunächst, wie sie selbst als Fachexpert/innen vorgehen, wenn sie das tun, woran ihre Studierenden scheitern: Was macht eine Literaturwissenschaftlerin, wenn sie einen Text interpretiert? Wie kommt ein Biologe zu Thesen?
  • Schritt 3: Lehrende überlegen, wie das eigene Vorgehen für Lernende modelliert, d.h. nachvollziehbar und anschaulich gemacht werden kann. Wie liest z.B. eine Historikerin einen Text?
  • Schritt 4: Lehrende entwickeln Ideen für Aufgabenstellungen, mit denen sie Lernende fachliche Vorgehensweisen üben lassen können.
  • Schritt 5: Hier werden motivationale und affektive Aspekte in den Blick genommen, z.B: Wie bringen Lehrende Studierende dazu, wissenschaftliche Texte anders zu lesen als Romane?
  • Schritt 6: Lehrende überlegen, wie sie Rückmeldung einholen und das Gelernte prüfen können.
  • Schritt 7: Ein wichtiger Aspekt des Modells ist schliesslich die Frage, wie die eigenen Überlegungen und Lösungsmöglichkeiten mit anderen Lehrenden geteilt werden können.

Was sind Bottlenecks?

Decoding the Disciplines Bottlenecks
Der Decoding-Prozess startet mit der Identifikation von Bottlenecks.

Ausgangspunkt des Decoding-Ansatzes sind Lernhindernisse oder Lernengpässe, sogenannte Bottlenecks. Bottlenecks können essenzielle Konzepte oder zentrale Fähigkeiten eines Fachs sein, die den Studierenden beim Verstehen und Erlernen Schwierigkeiten bereiten oder sie gar scheitern lassen. Die Studierenden kommen im jeweiligen Fach jedoch nur weiter, wenn sie diese grundlegenden Konzepte erworben oder verstanden haben.

Auf die Identifikation und exakte Analyse der Lernhindernisse legt der Decoding-Ansatz mit den Schritten 1-3 also besonders grossen Wert, während es sich bei den Schritten 4-6 letztlich um die üblichen didaktischen Schritte bei der Planung einer Lehrveranstaltung handelt. Schritt 7 geht über die übliche Konzeption einer Lehrveranstaltung hinaus: Während der Austausch über Forschung selbstverständlich ist, ist dies beim Thema Lehre nicht unbedingt der Fall. Der Decoding-Ansatz enthält diesen Aspekt als inhärenten Bestandteil, sei es informell im Kolleg/innenkreis bis hin zur Idee des Beforschens der eigenen Lehre und einer Publikation der Ergebnisse (vgl. Scholarship of Teaching and Learning SoTL).

Wie erkennt man Bottlenecks?

Und wie geht man Bottlenecks auf den Grund? Die klassische Methode sind die sogenannten Decoding-Interviews: Entweder stellen sich Kolleg/innen (z.B. in Workshops) gegenseitig Fragen, um Lernhindernisse zu identifizieren oder (geschulte) Hochschuldidaktiker/innen führen (z.B. im Rahmen von Beratungen) ein entsprechendes Interview. Die Befragung kann auch schriftlich erfolgen. Besonders gut funktioniert der Ansatz im Austausch mit fachfremden Kolleg/innen, da dann besonders viel Explizitheit gefordert ist. Auch die direkte Rückmeldung von Studierenden kann dabei helfen herauszufinden, an welchen Stellen im Lernprozess sich Bottlenecks befinden.

Warum Decoding the Disciplines? – Ein Fazit

  • Mit dem Decoding-Ansatz können Lehrende eine Sprache für ihr fachliches Handeln entwickeln. Dies ist eine Voraussetzung, um Lernende im jeweiligen Fach zu disziplinärem Vorgehen anzuleiten.
  • Der Ansatz konzentriert sich auf fachliche Denk- und Arbeitsweisen, nicht primär auf fachliche Inhalte. Er zielt somit auf nachhaltiges Lernen und Verstehen ab.
  • Der Ansatz kann als grundlegendes Modell zur Konzeption und Planung von Lehrveranstaltungen herangezogen werden. Die konkrete Ausgestaltung von Aufgabenstellungen bzw. Feedback- und Prüfungsformen erfolgt fachlich bzw. disziplinär.
  • Der Ansatz kann über Lehrveranstaltungen hinaus auch zur Entwicklung eines Curriculums herangezogen werden.
  • Nicht zuletzt kann der Ansatz auch der kritischen Selbstreflexion in der Hochschuldidaktik dienen und so vielleicht die Fachsensibilität fördern.
INFOBOX

Petra Weiss gehört seit Februar 2020 zum Team des ZHE und bringt eine reiche Erfahrung als Hochschuldidaktikerin mit.
In ihrem Workshop vom 2. April 2020 «Denken im Fach vermitteln – Lernhindernisse überwinden» gibt sie eine Einführung in den Decoding-Ansatz und regt die Teilnehmenden dazu an, über ihr eigenes fachliches Tun nachzudenken.

Zur Autorin

Petra Weiss Blog

Petra Weiss ist Dozentin für Hochschuldidaktik am ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich. Sie leitet den CAS Hochschuldidaktik «Sommerstart» sowie weitere hochschuldidaktische Lehrgänge und Kurse und berät bei der (Weiter-)entwicklung von Curricula.

Beraten und Lehren

Beitrag von Dagmar Bach

Beraten gehört immer mehr zur Lehre und Weiterbildung. Das wirft die Frage auf, ob wir nach der Wende vom Lehren zum Lernen nun vor der Wende stehen, die vom Lehren zum Beraten führt. Die seit Mitte der 1990er-Jahre an- und abschwellende Diskussion lässt das vermuten, gerade auch im Zusammenhang mit den zunehmenden Möglichkeiten von digitalen Lernumgebungen.

Dieser Beitrag zum Diskurs legt den Schwerpunkt auf die Funktion der Beratung in der Lehre selbst sowie auf die Integration von Beratungsmethodik in der didaktischen Aus- und Weiterbildung. Der Beitrag schliesst mit einigen Gedanken zur Affinität von Lehren und Beraten.

Beratung in Ausbildung und Weiterbildung
Stehen wir vor der Wende, die vom Lehren zum Beraten führt?

Beratungskompetenz ist fester Bestandteil von Professionalität

Sowohl die Aus- als auch die Weiterbildung der PH Zürich arbeiten schon länger mit Sequenzen, in die eine Beratungsmethodik integriert ist. Dies hat zum Ziel, die Lehre effektiver zu gestalten. Das gilt besonders dort, wo der Praxistransfer und das Sprechen über die Qualität von Unterricht im Zentrum stehen. Die PH Zürich beforscht auch Erfahrungen aus den obligatorischen Selbstmanagement-Trainings während der Berufseinführung von Volksschullehrpersonen. In diesem Rahmen fand auch digitales Coaching mit Volksschullehrpersonen statt. Erste Resultate aus dieser Begleitforschung liegen vor. Sie belegen die Wirksamkeit von Selbstmanagement-Training, wenn Lehrpersonen mit besonders günstigem Kontext (tiefe Belastung, gute kollegiale Unterstützung) von der Analyse ausgeschlossen werden.

Die Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung führt den Diskurs über das Verhältnis zwischen Beratung und Lehre seit längerem. So beschäftigte sich bereits der zweite Band des Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung im Jahr 2011 mit dem Verhältnis zwischen Dozieren und Beraten und den Räumen, die zwischen Dozieren und Beraten liegen.

In der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung ist die Beratungskompetenz von Lehrenden ein fester Bestandteil ihrer Professionalität. Denn neben der Inhaltsexpertise, neben einer souveränen Wissensvermittlung oder transparentem Beurteilen erwarten Teilnehmende an Weiterbildungen, Studierende an Hochschulen, Lernende in der Berufsbildung auch eine gewisse Beratungskompetenz von Lehrenden. Beratungskompetenz ist Teil des Bündels von Erwartungen, welches die soziale Rolle von Lehrenden beschreibt (Thomann 2019, 29). Deshalb ist auch Beratungswissen auf vielfältige Weise in die Weiterbildungen des ZHE integriert. Es wird dabei sowohl implizit verwendet als auch explizit eingeführt, beispielsweise im Rahmen eines sogenannten Blended Coaching, bei dem die Teilnehmenden über didaktische Fragen diskutieren und gleichzeitig das Beraten erleben und erproben. Sie beschäftigen sich dabei mit Gesprächsführung, Prozessbegleitung sowie mit den Beratungsformaten Intervision und Supervision. Die Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung bietet aber auch Module und Lehrgänge an, in denen Beratung im Zentrum steht (Grundlagen der Beratung, CAS Coaching und Lernen mit Jugendlichen, CAS Beraten im Bildungsbereich).

Autonomie der Ratsuchenden stärken

Wichtig ist über die Kombination von Wissensvermittlung und Beratung hinaus noch ein zweites Feld: Im alltäglichen beruflichen Miteinander öffnen sich immer wieder kleine Fenster, in denen Beratung unter Kolleginnen und Kollegen oder Beratung von Studierenden einen Platz haben können. Bleibt etwa ein Teilnehmer nach dem Seminar zurück und beginnt vorsichtig oder schon verzweifelt über Probleme mit seinem Leistungsnachweis zu sprechen, kann die Dozentin darauf beratend reagieren. Sie kann aber auch eine andere Rolle wählen, wie diejenige der Beurteilerin oder die des Vertreters der Hochschule und von deren formalen Anforderungen. Die Dozierenden schliessen oder öffnen also einen möglichen Beratungsraum . Damit sie dies bewusst tun und frei eine für sie selbst und die Teilnehmenden passende Rollenwahl treffen können, sollten sie sowohl ihre verschiedenen Rollen reflektiert haben als auch über Kompetenzen in Gesprächsführung, in Experten- und in Prozessberatung verfügen.

verschiedene Kompetenzen der Beratung
Dozierende sollten über verschiedene Beratungskompetenzen verfügen.

Es lässt sich festhalten, dass die Kombination von Beraten und Lehren heute zum State of the Art gehört. Beraten ist eine professionelle Unterstützung von Eigenaktivität und Selbstverantwortung und passt daher gut zum geltenden konstruktivistischen Paradigma des Lernens. Lehre – so die plausible, aber kaum wissenschaftlich gestützte Vorstellung – wird wirksamer, wenn sie etwa mit Lerncoaching, Experten-, Prozessberatung oder mit Supervision ergänzt wird. Schliesslich sollen Dozierende, die um Unterstützung gebeten werden, professionell reagieren können, indem sie die Autonomie der Ratsuchenden stärken und nicht vorschnell Rat geben.

Beraten: Faszination und Vorbehalte

Vorbehalte gegenüber der Beratung bestehen bei unbefangenen Lehrenden vor allem bezüglich des Beraten-Werdens. Hilfe suchen kann angstbesetzt sein, ein Gefühl der Unzulänglichkeit aufkommen lassen, dem man sich nicht aussetzen will. Das Beraten hingegen scheint auf den ersten Blick sogar sehr der Expertenrolle von Lehrenden zu entsprechen.
Sobald Lehrende näher in Kontakt mit Beratung und Beraten kommen, wandelt sich diese ursprüngliche Haltung oft ins Gegenteil. Beraten als Tätigkeit, «bei der man nicht sagt, was man doch weiss», wird als schwierig empfunden, und als das ganz Andere angesehen, verglichen mit der bekannten Rolle derjenigen, die ihr Wissen weitergeben. Beraten-Werden hingegen, sei es in Einzel- oder Gruppencoachings, wird nach der ersten Berührung damit als Hilfe und Erleichterung wahrgenommen. Aus beiden Erfahrungen kann eine Attraktion entstehen, die sich nicht aus dem Potenzial speist, das Beratung als Methode für effizientere Wissensvermittlung aufweist. Ich vermute vielmehr, diese Faszination entsteht aus dem bewussten, überlegten Ausleben einer ethischen Grundhaltung von Empathie, Akzeptanz und Kongruenz, wie sie C. Rogers als professionelle Haltung im Beraten vertritt. Diese explizite Haltung im beruflichen Kontakt mit anderen Menschen, die Balance von Fürsorge und gesund haltender Distanz ist ausdrücklicher Bestandteil von Beratungsausbildungen und geht im Berufsalltag von Lehrpersonen oft unter. Denn im Gegensatz zu den meisten anderen sozialen Berufen gibt es für Lehrer und Hochschuldozentinnen keine Pflicht zu regelmässigen Intervisionen oder Supervisionen. Diese Lücke können dann kürzere Module oder CAS-Lehrgänge füllen, welche Beraten und die berufliche Beziehungsgestaltung in den Fokus nehmen. Sie ergänzen damit die Expertise, die Lehrpersonen in der Wissensvermittlung mitbringen und bieten Personen, die schon länger im Berufsleben stehen, geschützte Reflexionsräume.

INFOBOX

Neben allen im Text erwähnten Weiterbildungskursen und CAS bietet die PH Zürich zusätzlich noch das Beratungstelefon an:

Tel. +41 43 305 50 50
Montag bis Freitag von 15 bis 18 Uhr
(Volks- und Berufsfachschulen)

Für spezifische Beratungen im Bereich Hochschuldidaktik - und entwicklung dürfen Sie uns gerne hier kontaktieren.

Zur Autorin

Dagmar Bach

Dagmar Bach ist Dozentin und Coach im Zentrum Weiterbildung Berufsschulen der PH Zürich. Sie berät Lehrpersonen und Schulleitungen, leitet Lehrgänge und Kurse, entwickelt Curricula und schulinterne Weiterbildungen in den Feldern
Coaching, Beratung, allgemeine Didaktik (Schwerpunkt Erwachsenenbildung) sowie
Unterrichtsanalyse und -Beurteilung.

Analoges schlägt Digitales – schöne alte Lesewelt

Beitrag von Maik Philipp

Über das Lernen sind viele Behauptungen im Umlauf, auch an Hochschulen. Manche davon stimmen, andere nicht – und meistens ist die Realität komplexer. Gestaltet man Unterricht aufgrund falscher Annahmen über das Lernen, untergräbt man seine Wirkung. Deshalb nehmen wir in der Serie «Urban Legends» verbreitete, aber problematische Annahmen über Lehren und Lernen an Hochschulen unter die Lupe.

E-Reader, Smartphones und Laptops sind längst zu einer Alternative für das Lesen gedruckter, analoger Texte geworden – sollte man meinen. Aber ist das wirklich so? Eine Befragung von mehr als 10‘000 Studierenden, denen man eine gewisse Affinität zum digitalen Lesen unterstellen sollte, lässt Zweifel aufkommen. Der Grundtenor der internationalen Befragung lautet nämlich: Im Zweifelsfall tendiert die deutliche Mehrheit dazu, Texte in Lernsituationen lieber analog zu lesen statt digital.

Die Gründe dafür können die Befragten klar benennen: Sie bevorzugen es, die Texte zu annotieren, mit Unterstreichungen zu versehen und sind der Überzeugung, sich gerade bei längeren Texten besser an die Inhalte zu erinnern. Diese Antworten deuten darauf hin, dass das Lesen analoger Texte aufgrund der Tiefenverarbeitung einen grösseren Nutzen zu entfalten scheint.

Analoge Texte sind verständlicher

Neuere Ergebnisse der Leseverstehensforschung erklären, dass es für die Vorliebe analoger Texte gute Gründe gibt. Die Forschung beginnt sich nämlich dafür zu interessieren, ob das Lesemedium systematisch mit Leseverstehensleistungen zusammenhängt. Ob Menschen digitale Texte am Bildschirm oder auf Papier gedruckte besser verstehen, ist auch deshalb eine wichtige Frage, weil grosse Schulleistungsstudien wie PISA dazu übergegangen sind, Leistungen am Computer zu erfassen.

Das Medium spielt beim Lesen eine Rolle.
Es gibt eine Korrelation zwischen Lesemedium und Textverständnis.

Gleich zwei aktuelle Metaanalysen, eine über 17 Studien, eine andere über 54 Studien, prüften den Effekt des Lesemediums. Beide Metaanalysen kommen zu vergleichbaren Ergebnissen: Wer analoge Texte liest, versteht sie besser als die digitale Version. Der Vorsprung beträgt umgerechnet 21-PISA-Punkte, was je nach Alter der Personen dem Zuwachs eines Schuljahres entspricht. Dieser Effekt des Lesemediums hängt ausserdem, gemäss der umfassenderen Metaanalyse, systematisch mit anderen Faktoren zusammen:

  • Die Differenzen zugunsten des analogen Lesens wurden mit dem Veröffentlichungsdatum der Studien immer grösser. Das heisst: Je aktueller die Studie war, desto markanter waren die Unterschiede.
  • Sobald Sachtexte das Lesematerial bildeten, gab es Mediumseffekte. Bei literarischen Texten war das nicht der Fall. Ausgerechnet also bei Texten, die für das Lernen so wichtig sind, sind gedruckte Varianten besser.
  • Als ungünstig erwies sich beim Lesen digitaler Texte ausserdem ein Zeitlimit. Unter klar definierten zeitlichen Vorgaben sind Verstehensleistungen vermindert.
  • Die grössten Nachteile bei verschiedenen digitalen Lesemedien hatten Personen, die an einem stationären Computer lasen, während Leserinnen und Leser mit mobilen digitalen Geräten (Smartphones, E-Reader) dichter an den Leseleistungen der Personen mit analogem Lesemedium lagen.
  • Wer nun allerdings glaubt, mobile Geräte wären grundsätzlich überlegen, wird eines Besseren belehrt: Die Notwendigkeit, bei Texten zu scrollen, ging ebenfalls mit schlechteren Leistungen einher.

Fazit

Die Ergebnisse aus den beiden Metaanalysen sind für die Erwachsenenbildung relevant. Wenn beim Lesen digitaler Sachtexte systematische Nachteile bestehen, spricht einiges dafür, wichtige Texte auszudrucken. Insofern hatten die Tausenden Studierenden Recht.

Weiter gedacht, heisst das: Bei zentralen (linearen) Texten gilt immer noch das Recht der alten Lesewelt. Print schlägt Screen aufgrund einer (noch) besser glückenden Tiefendurchdringung der Textinhalte. Statt altes und neues Lesen gegeneinander auszuspielen, wird es wohl auf einen klugen Mix des digitalen und analogen Lesens ankommen.

Zum Autor

Maik Philipp ist Professor für Deutschdidaktik an der PH Zürich. Seine Schwerpunkte sind Lese- und Schreibförderung mit Fokus auf Evidenzbasierung. Neuere Publikationen: «Lesekompetenz bei multiplen Texten» (2018), «Lesestrategien» (2015) und «Grundlagen der effektiven Schreibdidaktik» (2018).

Redaktion: Martina Meienberg

Das Semester mit Schwung abschliessen

Beitrag von Ulrike Hanke

Wie profitieren Ihre Studierenden und Sie vom Semester-Abschluss?

Fast geschafft: Das Semester neigt sich dem Ende entgegen. Ihre Studierenden und Sie steuern bereits auf die Prüfungen und Klausuren zu. Als Dozentin stelle ich mir da verschiedene Fragen:

  • Wie gestalte ich den Abschluss der Lehrveranstaltung?
  • Wie profitieren die Studierenden am meisten vom Semesterende?
  • Wie unterstütze ich meine Studierenden bei der Vorbereitung der anstehenden Klausuren oder abzugebenden Leistungsnachweise?
  • Und wie erhalte ich nützliches Feedback, um mich und meine Lehre weiterzuentwickeln?

Mit dem «Marktspaziergang», auch «Markt der Möglichkeiten» genannt (siehe Infografik) stelle ich eine Methode vor, die sich sehr gut für den Abschluss von Lehrveranstaltungen eignet und die genannten Anliegen verbindet. Der Marktspaziergang bietet die Möglichkeit, das Semester mit all seinen Lehrinhalten Revue passieren zu lassen. Dabei wiederholen und elaborieren die Studierenden die Inhalte des gesamten Semesters, können Lücken aufdecken und Fragen stellen, damit sie bestmöglich für eine Prüfung oder andere Leistungsnachweise gerüstet sind. Und Sie als Dozierende erhalten mit dem Marktspaziergang Feedback und erfahren beispielsweise, welche Themen Ihren Studierenden schwer gefallen sind oder was Ihnen bei der Planung einer nächsten Lehrveranstaltung nützlich sein kann.

Infografik Marktspaziergang
Infografik Marktspaziergang

Wie funktioniert der Marktspaziergang?

  1. Teilen Sie Ihre Studierenden in so viele Gruppen auf, wie Sie grosse Themenblöcke in Ihrer Lehrveranstaltung behandelt haben.
  2. Jede Gruppe hat die Aufgabe, einen Marktstand (Poster, selbsterklärende Präsentation auf einem Laptop oder Tablet, Pinnwand o.ä.) zu gestalten, der die zentralen Aspekte dieses Themenblockes auf den Punkt bringt.
  3. Anschliessend werden die Marktstände so hergerichtet, dass der Marktspaziergang beginnen kann. Die grundlegende Idee des Spaziergangs ist, dass sich alle Studierenden nochmals mit allen Themen beschäftigen und allfällige Fragen geklärt werden können. Dabei kann man unterschiedlich vorgehen:

Varianten

Variante 1:
Sie gehen mit Ihren Studierenden als ganze Gruppe von Stand zu Stand, wobei die jeweils für den Stand verantwortliche Gruppe ihre Ergebnisse präsentiert. Klären Sie anschliessend Fragen, bevor Sie dann gemeinsam zum nächsten Stand gehen.
Wichtig: Nur bei kleiner Gruppe zu empfehlen. Bei einer grossen Gruppe können sich nicht alle alle gleichzeitig einen Stand ansehen.

Variante 2:
Die Studierenden gehen eigenständig und jede/r im eigenen Tempo über den Markt. In diesem Fall sollten Sie den Studierenden den Auftrag geben, auf «Beutezug» zu gehen, d.h. sich zentrale Erkenntnisse zu notieren, die sie zu den jeweiligen Themen für wichtig erachten. Gleichzeitig bitten Sie die Studierenden, allfällige Fragen zu notieren. Anschliessend klären Sie mit der gesamten Gruppe die aufgetretenen Fragen.
Wichtig: Fotografieren ist nicht erlaubt! Die Studierenden sammeln dann nur, sie verarbeiten die Information nicht, was keinerlei Lerneffekt hat.

Variante 3:
Kombinieren Sie beides: D.h. zuerst gehen alle alleine stöbern; dann gehen Sie gemeinsam von Stand zu Stand.

Variante 4 (mit Variante 2 kombinierbar):
Hier gehen alle Studierenden zunächst individuell oder in kleinen Gruppen auf Beutezug. Dabei steht pro Poster abwechselnd ein/e Studierende/r aus der betreffenden Gruppe für Fragen zur Verfügung. Diese Personen werden nach einer vorgegebenen Zeit ausgetauscht, damit alle Studierenden bei allen Stände vorbeigehen können. Anschliessend machen Sie den gemeinsamen Spaziergang oder treffen sich im Plenum, um Fragen zu klären.

Mögliche Aufgaben für den Spaziergang

Um den „Beutezug“, also den Spaziergang über den Markt auszubauen und den Lerneffekt zu verstärken, können Sie den Studierenden zusätzliche Aufgaben stellen: Sie lösen entweder Aufgaben zu den jeweiligen Ständen (z.B. potentielle Klausurfragen) oder formulieren gleich selbst zu jedem Marktstand eine mögliche Prüfungsfrage. Die Prüfungsfragen der Studierenden können Sie anschliessend auf Ihrer Lernplattform zur Verfügung stellen und kommentieren, ob es eine geeignete oder eher ungeeignete Prüfungsfrage ist. Die Studierenden haben somit auch gleich eine Probeklausur; und Sie könnten tatsächlich auch Fragen davon für die Klausur nutzen, wenn Sie möchten.

Poster präsentieren
Für die Besprechung der Marktstände gibt es verschiedene Varianten.

Ergänzung durch Evaluationsmethoden

Wenn Sie zusätzlich Feedback für Ihre eigene professionelle Weiterentwicklung möchten, dann ergänzen Sie vor dem Spaziergang jeden Stand mit einem Blatt/kleinen Poster mit einem lachenden und einem weinenden Smiley (Smiley-Methode). Sie bitten die Studierenden jeweils etwas Positives (lachender Smiley) und etwas Negatives (weinender Smiley) zu dem Teil der Lehrveranstaltung aufzuschreiben, in dem dieser Themenblock behandelt wurde.

Eine andere Möglichkeit wäre, dass Sie insgesamt einen zusätzlichen Stand auf dem Markt integrieren und die Studierenden dort um Feedback bitten, z.B. mit der Smiley-Methode oder durch die Methode «Kofferpacken». Malen Sie hierfür auf zwei Flipchartpapiere jeweils einen Koffer und schreiben Sie in den einen Koffer «Was Sie (also die Studierenden) mitnehmen …» und in den zweiten «Was Sie dem/der Dozierenden mitgeben …». Bitten Sie die Studierenden Ihre Überlegungen in diese Koffer zu schreiben.

Fazit

Mit dem Marktspaziergang erfüllt Ihre Abschluss-Sitzung die Funktionen, den ganzen Lernstoff zu wiederholen, Lücken aufzudecken und Ansatzpunkte zur Verbesserung der Lehre zu sammeln.

Und ein persönlicher Kommentar von mir: Diese Methode einzusetzen macht grossen Spass. Während der ganzen Sitzung herrscht ein grosses Treiben, alle sind aktiv und es kommt immer wieder zu Aha-Erlebnissen bei den Studierenden, was die Stimmung kontinuierlich steigen lässt.

Viel Spass also damit und ein gutes und halbwegs entspanntes Semesterende!

Tipps für den Einstieg in Lehrveranstaltungen gibt Ulrike Hanke im Blogbeitrag «Der Anfang macht's: Methoden für den Einstieg»

Ulrike Hanke gibt am ZHE u.a. das Modul «Gestalten von Lehr-Lernarrangements». Dieses wird sowohl im Rahmen des Kursprogramms Hochschuldidaktik vertieft als auch im Rahmen des CAS Hochschuldidaktik angeboten.

Zur Autorin

Ulrike HankeUlrike Hanke ist Dozentin und Beraterin für Hochschuldidaktik und als Kurs- und Modulleiterin für das ZHE tätig.

 

Redaktion: ZBU

Der Anfang macht’s: Methoden für den Einstieg

Ulrike Hanke

Beitrag von Ulrike Hanke, Dozentin und Beraterin für Hochschuldidaktik; Kurs- und Modulleiterin am ZHE.

 

Dienstag-Morgen, 10:15 Uhr, Vorlesung an der Pädagogischen Hochschule:

Szenario 1: Die Vorlesung beginnt. Mehr oder weniger interessiert sitzen die Studierenden in den Reihen und hören zu, während die Dozentin begrüsst. Sie informiert zuerst die Studierenden anhand einer Übersicht über den Ablauf der nächsten eineinhalb Stunden. Anschliessend startet sie die Vorlesung systematisch. Sie spricht klar und deutlich und geht fachlich logisch vor.

Anfangs lauschen die Studierenden einigermassen gespannt. Mit fortschreitender Stunde kritzeln sie jedoch vermehrt auf ihren Blöcken rum, holen das Smartphone heraus, öffnen E-Mail-Programme auf den Laptops oder beschäftigen sich sonst irgendwie. Der Funke scheint nicht übergesprungen zu sein.

Szenario 2: Die Vorlesung beginnt. Mehr oder weniger interessiert sitzen die Studierenden in den Reihen und hören zu, während die Dozentin begrüsst. Sie blendet zuerst ein Bild ein und erzählt dabei eine Geschichte aus den Anfängen ihrer Berufstätigkeit. Sie schildert den Studierenden recht genau, was in dieser Situation vorgefallen ist, wie sie sich dabei gefühlt hat, wie die Situation schliesslich gelöst wurde. Dann teilt die Dozentin den Studierenden mit, dass sie heute hier sei, um sie zu befähigen, ähnliche Situationen anders anzugehen und zu meistern. Die Studierenden tuscheln kurz. Aber als die Dozentin die erste Folie zum Thema einblendet, verstummen sie und lauschen konzentriert den Ausführungen der Dozentin. Auch nach 10 min scheinen die meisten noch interessiert.

Was hat Dozentin 2 besser gemacht als Dozentin 1?

die richtige Methode beim Einstieg, für aktivere Studierende
Der Einstieg in eine Vorlesung bestimmt wesentlich mit, ob Studierende aktiv folgen oder E-Mails checken

Was macht den Unterschied?

Grundsätzlich kann man als Dozentin oder Dozent davon ausgehen, dass sich Studierende für ihr Studienfach interessieren: In den beiden Beispielen wenden sich zunächst fast alle Studierenden den Dozentinnen zu und folgen gespannt. Während Dozentin 1 dann jedoch einen fachlich systematischen Einstieg wählt, erzählt Dozentin 2 eine emotional ansprechende Geschichte und zeigt anhand des Beispiels auf, was sie in der Vorlesung lernen werden. Keine der beiden lässt die Studierenden wirklich sichtbar aktiv werden. Dennoch scheinen diese im zweiten Szenario deutlich aktiver und interessierter. Sie tuscheln, sie hören zu; ablenkende Tätigkeiten kommen weniger vor. Offensichtlich ist es der Dozentin gelungen, die Studierenden mehr zu packen und ihr grundlegendes Interesse aufrecht zu erhalten.

Wie hat sie das gemacht?

Die emotionale Geschichte hat die Aufmerksamkeit der Studierenden geweckt und verstärkt. Die Geschichte versetzt die Zuhörer in einen Ungleichgewichtszustand: Sie stellen sich vor, in dieser Situation zu stecken, spüren, wie sich das anfühlen könnte. Dadurch wird Dopamin ausgeschüttet (siehe dazu Jäncke, 2014), was dafür verantwortlich ist, dass das menschliche Gehirn aktiviert wird. Die Tendenz zur Äquilibration, also die Neigung Gleichgewicht herstellen zu wollen, setzt quasi automatisch einen Verarbeitungsprozess in Gang. Die Studierenden haben den Wunsch, die Situation aufzulösen und beginnen darüber nachzudenken, wie man hätte agieren, wie die Situation hätte vermieden werden können usw. Dass die Studierenden mental aktiv werden und nachdenken, zeigt sich darin, dass sie zu tuscheln beginnen – sie möchten sich austauschen.

Die Dozentin 2 zeigt anschliessend auf, was die Studierenden in der Lehrveranstaltung lernen können. Sie nennt ihnen dabei ein Ziel, das in einem direkten Zusammenhang mit ihrer Geschichte steht. Die Vorlesung wird den Studierenden ihre aufgeworfenen Fragen beantworten und somit helfen wieder einen Gleichgewichtszustand herzustellen. Für die Lernenden erscheint es dadurch relevant. Das wiederum macht es den Studierenden leichter, das Ziel als ihr eigenes zu akzeptieren – es «lohnt» sich, aufmerksam zu sein.

Durch diese beiden Schachzüge – mit einer Geschichte Emotionen ansprechen und ein relevantes Ziel aufzeigen – gelingt es der zweiten Dozentin, die Aufmerksamkeit der Studierenden (noch mehr) zu gewinnen und das Interesse am Thema zu verstärken. Hätte die Dozentin dem Redebedürfnis der Studierenden zudem nachgegeben und sie ermuntert über die Situation, Ursachen und Handlungsmöglichkeiten auszutauschen, wäre die Wirkung der Geschichte noch stärker aufgetreten. Die Studierenden hätten die Gelegenheit gehabt, das Ungleichgewicht und die damit verbundenen Emotionen noch besser wahrzunehmen – zwei Minuten mit Murmelgruppen hätten dafür schon gereicht.

Drei Prinzipien zum Einstieg

Die zwei Szenarien zeigen, dass der Einstieg in Lehrveranstaltungen durchaus entscheidend ist. Das zweite Beispiel veranschaulicht dabei drei Punkte, die den Grundstein für eine gelingende Lehrveranstaltung legen (siehe das unten stehende Video).

  1. Ungleichgewicht auslösen: Ein Ungleichgewichtszustand erzeugt Aufmerksamkeit, weil wir umgehend versuchen, wieder Gleichgewicht herzustellen (dazu z.B. Hanke & Winandy 2014). Diese Bewegung kann man durch bewusste «Provokationen» zu Beginn von Lehrveranstaltungen auslösen, etwa durch (auch emotional) anregende Fragen, Thesen, Fälle und Probleme.
  1. Vorwissen aktiveren: Ein kurzer Austausch, die Möglichkeit Gedanken mitzuteilen, aktiviert das Vorwissen der Studierenden gleich beim Einstieg. Neben Murmelgruppen sind dazu viele andere Methoden wie zum Beispiel Brainstorming denkbar.
  1. Relevante und attraktive Ziele formulieren: Die Aussicht darauf, dass die folgende Lehrveranstaltungssitzung Antworten oder Lösungen für die aufgeworfenen Fragen bringt, d.h. den Ungleichgewichtszustand aufzulösen hilft, weckt Interesse und Engagement. Was in der Veranstaltung zu lernen ist, sollte in die Sprache der Studierenden gebracht und mit Fragen oder mit einem praktischen Bezug zu einer Situation oder einem Problem verknüpft werden. Das ist in der Regel gewinnbringender als Ziele aus dem Modulbeschrieb zu nennen (dazu z.B. Arn 2016).

Wenn Sie Einstiege in Ihre Lehrveranstaltungen auf diese Art gestalten, werden Sie die Aufmerksamkeit Ihrer Studierenden wecken und ihr Interesse stärken. Das wird schliesslich auch Ihnen mehr Spass machen.

Ulrike Hanke ist als freie Dozentin am ZHE tätig, z.B. in «Gestalten von Lehr-Lernarrangements». Dieses Modul wird sowohl im Rahmen des Kursprogramms Hochschuldidaktik vertieft als auch im Rahmen des CAS Hochschuldidaktik angeboten. Zudem bietet sie aktuell einen Kurs zum Thema Mündlich prüfen an.

Konkrete Ideen und Methoden, wie diese drei Schritte umgesetzt werden können, gibt es im kostenlosen Video-Kurs «Aktivierende Methoden für Einstiege in Lehrveranstaltungen».

Redaktion: ZBU

Selbststudium – schrötig oder nötig?

Beitrag von Tobias Zimmermann, Dozent für Hochschuldidaktik und Leiter der ZHE-Geschäftsstelle,

und von Franziska Zellweger Moser, Bereichsleiterin Hochschuldidaktik am ZHE.


Bald beginnt das neue Semester, und so machen sich derzeit viele von uns Gedanken über die Gestaltung von Lehrveranstaltungen. Virulent ist dabei oft die Frage, welche Themen im Präsenzunterricht behandelt werden und welche im so genannten Selbststudium. Dozierende sind dabei auch mit curricularen Vorgaben ihrer Hochschulen oder Studiengänge konfrontiert. Nicht immer entsprechen diese Vorgaben den didaktischen Vorstellungen der Dozierenden.

Lernpsychologische Kontroverse

Auch lernpsychologisch ist Selbststudium kein unumstrittenes Konzept. Kritische Stimmen weisen etwa darauf hin, dass einige Studierende überfordert sind, wenn sie Lernaktivitäten selbständig planen und umsetzen sollen. Ein prominenter Vertreter dieser Kritik ist etwa der Lernpsychologe John Sweller, der kürzlich zu dieser Frage ein Referat an der PH Zürich hielt. Aus didaktischer Sicht besteht zudem das Risiko, dass man beim Gestalten von Selbstlerneinheiten einseitig die Studierenden im Blick hat. Der Lehrperson und ihrem Verhalten kommt aber auch bei Selbstlernphasen grosse Bedeutung zu.

Demgegenüber betonen konstruktivistisch geprägte Lerntheorien, dass Lernen immer aktiv und konstruktiv ist. Was jemand lernt, hängt demzufolge ganz erheblich von seinem Vorwissen ab. Gemäss solchen konstruktivistischen Vorstellungen wird deshalb Unterricht, in dem alle das Gleiche tun, den meisten Lernenden nicht gerecht. Dies führt zur Forderung, Studierende müssten sich weitgehend eigenständig mit den Lerngegenständen auseinandersetzen, um nachhaltig lernen zu können.

John Sweller erläutert seine Cognitive Load Theory
John Sweller erläutert seine Cognitive Load Theory

Didaktisches Sandwich

Finden Sie beide Ansatzpunkte plausibel? Dann nehmen Sie eine «mittlere» Haltung ein, die heute verbreitet vertreten wird. Man spricht hier von «gemässigtem Konstruktivismus», «integrierter Position» oder von problemorientiertem Unterricht (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mandl 2006). Zentral ist die Auffassung, dass es sowohl Anleitung als auch eigenständige Lernphasen braucht: Studierende sind auf den Input von Lehrpersonen angewiesen, brauchen aber auch Zeit, um sich selbständig mit den Lerninhalten auseinanderzusetzen. Selbststudium heisst in diesem Sinne, stärker eigenverantwortlich zu lernen, aber nicht unbedingt alleine oder gar einsam. Gesucht sind also methodische Möglichkeiten, angeleitetes und individuelles Lernen zu kombinieren!

Aus unserer Sicht hat sich zur Strukturierung der Abfolge von geführten und von Selbstlern-Phasen das so genannte Sandwich-Prinzip bewährt. Dieses wurde vom Lernpsychologen Diethelm Wahl entwickelt und strukturiert den Unterricht in Phasen der Anleitung/Information und der subjektiven Aneignung (siehe Grafik).

Das Sandwich-Modell von Wahl (Grafik von Franziska Zellweger, in Anlehnung)
Das Sandwich-Prinzip von Wahl (Grafik von Franziska Zellweger, in Anlehnung an D. Wahl)

Häufig werden Selbstlernphasen zum Üben und Vertiefen von im Präsenzunterricht eingeführten Konzepten eingesetzt. Aber auch das Umgekehrte ist möglich: Selbstlernphasen dienen dann primär der Informationsaneignung (auch dazu sind entsprechende Arbeitsaufträge nötig!). Im Präsenzunterricht hingegen werden Fragen diskutiert, Übungen gelöst und Inhalte vertieft. Dieses Vorgehen wird derzeit unter dem Stichwort «Flipped Classroom» intensiv diskutiert.

Methodische Umsetzung von Selbstlernphasen

Die Sandwich-Phasen können unterschiedlich umfassend sein – so kann ein Sandwich eine einzelne Lektion/Stunde umfassen, aber auch ein ganzes Semester. Auch die didaktische Methodik ist im Einzelnen nicht festgelegt. Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von empirisch erforschten Methoden, mit denen sich bestimmte Lernziele erreichen lassen. Wir nennen hier eine kleine Auswahl an Methoden, die flexibel und fachübergreifend einsetzbar sind:

Gelenkstellen sind zentral

Es gibt also verschiedene Wege, Unterricht in Präsenz- und Selbststudium zu rhythmisieren. Wesentlich sind dabei die so genannten Gelenkstellen (siehe grafische Darstellung), also die Übergänge zwischen Anleitungsphasen und Phasen subjektiver Aneignung. Mit ihrem Gelingen steht und fällt die Kohärenz eines nach dem Sandwich-Prinzip gestalteten Unterrichts. Wahl betont dabei folgende Aspekte:

  • Am Ende einer Anleitungsphase muss der Auftrag für die Selbstlernphase klar sein. Sehr empfehlenswert sind dabei schriftlich formulierte Aufträge.
  • Die Selbstlernphase dient dem Individualisieren. Sie gibt den Studierenden die Möglichkeit, basierend auf ihrem individuellen Vorwissen weiter zu lernen. Selbstlernphasen dienen hingegen nicht primär dem Vorbereiten der kollektiven Phase – im Vordergrund stehen die individuellen Lernprozesse.
  • Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt für den Übergang von Selbstlernphasen zu Anleitungsphasen: Es werden immer individuelle Lernprozesse unterbrochen, für einige Studierenden ist der Moment gerade passend, für andere nicht. Deshalb ist es nicht erfolgversprechend, Selbstlernphasen durch ein langes Sammeln von Ergebnissen abzuschliessen. Das Zusammenführen soll deshalb nur so lange dauern, wie es für die Fortsetzung des Unterrichts, also für die nächste Anleitungsphase, wirklich nötig ist.

Selbststudium – nötig, aber kein Selbstläufer

Ist Selbststudium also schrötig oder nötig? Wir glauben, es führt kein Weg an der Frage vorbei, wie individuelle Lernprozesse unterstützt werden können. Wie gezeigt gibt es Ansätze, Selbstlernphasen sowohl für Studierende wie auch Dozierende attraktiv zu gestalten. Dies ist jedoch anspruchsvoller als es auf den ersten Blick scheint.

Einen ganzen Strauss empirisch validierter Methoden zur Umsetzung des Sandwichprinzips – auch für den Präsenzunterricht – können Sie im Kurs Lernwirksame Methoden von Prof. Dr. Diethelm Wahl kennen und anwenden lernen, der am 8. September 2016 zum nächsten Mal stattfindet.

Literaturhinweise:
- Franziska Zellweger Moser und Tobias Jenert (2014): Konsistente Gestaltung von Selbstlernumgebungen. Enthalten im Band 1 unserer Reihe „Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung“.
- Diethelm Wahl (2013): Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln. 3. Auflage mit Methodensammlung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
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