Effiziente Beurteilung: Wertvoll für Dozierende und Studierende

Text: Tobias Zimmermann

Die Nervosität der Studierenden grenzte an Panik. Dem Professor war das nicht recht, denn mit seinem Hinweis, wie schwierig die Schlussprüfung zu seiner Vorlesung ausfallen werde, hatte er sie motivieren wollen – nicht verunsichern. So überlegte er sich, wie er sie wieder etwas beruhigen könnte und bot ihnen für die Prüfung eine Art Joker an. Dieser funktionierte ähnlich wie der Telefonjoker bei «Wer wird Millionär»: Bei der Multiple-Choice-Frage, bei der sie am unsichersten über die richtige Antwort waren, konnten die Studierenden den Namen einer Kommilitonin notieren. Wenn diese in ihrer Prüfung die richtige Antwort gab, kriegten die Joker-Verwender die Antwort ebenfalls als richtig bewertet.

Kleine Massnahme, grosse Wirkung

Bei der Auswertung der Prüfung stellte der Professor zu seiner Überraschung fest, dass der Durchschnitt der Prüfungsresultate gegenüber den Vorjahren markant angestiegen war. Und es lag nicht am Effekt des Jokers, der ja das Resultat um maximal eine richtige Antwort pro Studentin steigern konnte. Vielmehr ging die Leistungssteigerung weit darüber hinaus und zeigte sich auch in den Folgejahren.

Beim Professor handelte es sich um den bekannten Psychologen und Sachbuchautor Adam Grant, der nun natürlich wissen wollte, weshalb diese kleine Massnahme eine so grosse Wirkung hatte (die obige Episode schildert er in seinem lesenswerten Buch «Hidden Potential» ). Dabei fand er heraus: Um den Joker optimal zu nutzen, mussten die Studierenden wissen, wo die Stärken ihrer Kolleginnen und Kollegen liegen. Um das herauszufinden, begannen sie, vermehrt gemeinsam zu studieren, statt allein zu pauken. Nur so konnten sie sich das kollektive Wissen der Gruppe zunutze machen. Dadurch kamen zwei Effekte zum Tragen, welche das Lernen der Studierenden intensivierten und vertieften:

  • Intensivierung: Die Studierenden verbrachten mehr Zeit mit den zu lernenden Inhalten, weil sie neben dem «normalen» Lernen auch noch herausfinden mussten, wer sich womit besonders gut auskennt. Dies erhöhte die Time on Task, die ein zentraler Einflussfaktor für den Lernerfolg ist.
  • Vertiefung: Mindestens ein Teil der Leistungssteigerung dürfte auch dadurch entstanden sein, dass die Studierenden einander beim gemeinsamen Lernen wesentliche Aspekte gegenseitig erklärt haben. So kam der Teaching-Effekt zum Tragen: Jemandem etwas zu erklären, ist zugleich eine der wirksamsten Lernhandlungen. Als Lehrende kennen wir das aus eigener Erfahrung: Man lernt selten mehr über ein Thema, als wenn man dazu unterrichten muss.

Das Erlebnis von Adam Grant zeigt, wie Massnahmen im Umgang mit Leistungsbeurteilung, die Lehrenden nur wenig Aufwand bereiten, grosse Effekte erzielen können. Sie ist für mich symbolisch dafür, dass wir im Umgang mit Beurteilungssituationen durch umsichtiges Vorgehen ohne nennenswerten Mehraufwand mehr Lernen bewirken können – in Grants Fall durch Anreize für zusätzliches Peer Learning.

Teaching-Effekt: Sich gegenseitig Dinge zu erklären, ist besonders lernwirksam.

In diesem Zusammenhang möchte ich nachfolgend zwei Massnahmen exemplarisch herausgreifen: Das Formulieren von Feedback auf möglichst motivierende Weise und das Verwenden von mehrphasigen Leistungsnachweisen. Die beiden Massnahmen hängen insofern zusammen, als sie beide dazu beitragen, dass erteiltes Feedback tatsächlich für weiteres Lernen genutzt wird.

Motivierendes Feedback: Die Wirkung von Rückmeldungen optimieren

Oft investieren Lehrende viel in das Geben von (häufig schriftlichem) Feedback, während es ungewiss bleibt, ob die Studierenden dieses tatsächlich für ihr weiteres Lernen berücksichtigen. Das ist für die Lehrenden nicht effizient. Eine aufwandsneutrale Massnahme, um die Wirkung von Feedback zu erhöhen, besteht in der motivationsförderlichen Gestaltung. Das gilt übrigens auch für Peer Feedback oder Rückmeldungen im Arbeitskontext. Dafür sind drei Elemente zentral:

  1. Hohe Erwartungen haben und sie auch kommunizieren: Die Erwartungen der Lehrenden haben einen erheblichen Einfluss auf die Leistung der Studierenden. Der sogenannte Pygmalion-Effekt (berühmteste Studie: Rosenthal und Jacobson 1968) besagt, dass Studierende desto bessere Leistungen erbringen, je mehr Lehrende ihnen zutrauen. Um den Lernfortschritt zu maximieren, ist es daher entscheidend, dass Feedback hohe Erwartungen kommuniziert – inhaltlich fokussiert auf jeweils zwei bis drei zentrale Aspekte.  Wichtig ist, dass diese Erwartungen mit der Zuversicht verbunden sind, dass die Studierenden sie erfüllen können.
  2. Entwicklungsorientierung: Feedback sollte so gestaltet sein, dass es den Studierenden hilft, ihre eigenen Lernprozesse als etwas zu verstehen, das sie steuern können. Dabei geht es um die Förderung einer Wachstumsorientierung («Growth Mindset»), wie sie von Carol Dweck beschrieben wird. Lob für Anstrengung motiviert Studierende, sich kontinuierlich zu verbessern. (Lob für Talent, Begabung oder Intelligenz hingegen führt dazu, dass Studierende einfachere Aufgaben aussuchen, um ihre Begabung zu beweisen, und sich dadurch weniger weiterentwickeln.)
  3. Beziehungsebene stärken: Feedback ist am wirksamsten, wenn es in einem positiven, wertschätzenden Ton gegeben wird. Dies stärkt die Beziehungsebene zwischen Lehrenden und Studierenden und motiviert letztere, das Feedback konstruktiv zu nutzen. Humor und Freundlichkeit können hier ebenfalls eine Rolle spielen, um eine offene und unterstützende Lernatmosphäre zu schaffen.
Im Buch «Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten» finden sich zahlreiche Hinweise für die effiziente und lernwirksame Gestaltung von Leistungsnachweisen.

Eine wirkungsvolle Möglichkeit, diese drei Aspekte zu kombinieren, sind so genannte Rückmeldungsvideos. Mehr über das Gestalten und die Wirkung von Rückmeldungsvideos erfahren Sie im Buch «Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten»  (Kap. 8.5.3).

Screenshot eines Rückmeldungsvideos (Bild von Tobias Zimmermann)

Mehrphasige Leistungsnachweise: Mehr als Benotung

Ein weiterer effektiver Ansatz zur Verbesserung des Lernprozesses und zur Steigerung der Effizienz von Leistungsrückmeldungen ist der Einsatz von mehrphasigen Leistungsnachweisen. Hier kommen die oben beschriebenen Vorteile von motivationsförderlichen Rückmeldungen ebenfalls gut zur Geltung.

Mehrphasige Leistungsnachweise kombinieren formative und summative Beurteilungen (siehe Grafik). So folgt zuerst mindestens eine Phase, nach der ausschliesslich eine formative Leistungsrückmeldung erfolgt, also ein Feedback, das nur verbal Stärken und Schwächen der bisherigen Lernhandlungen oder des bisher erarbeiteten Lernprodukts rückmeldet. Wichtig ist, dass es auch Hinweise für das weitere Lernen gibt: Welche nächsten Schritte wären besonders wertvoll? Was sollte ggf. nochmals überarbeitet werden? Nach dieser formativen Rückmeldung arbeiten die Studierenden weiter und erhalten  entweder nochmals eine formative Rückmeldung oder eine abschliessende Bewertung (Prädikat oder Note).

Grafik: Mehrphasige Leistungsnachweise (Abbildung von Tobias Zimmermann)

Dieses Vorgehen hat zwei wesentliche Stärken:

  • Erhöhung der Lernwirksamkeit: Durch das kontinuierliche Feedback in den verschiedenen Phasen des Leistungsnachweises können Studierende ihre Lernprozesse besser steuern und reflektieren. Formative Beurteilungen geben ihnen die Möglichkeit, Feedback zu verarbeiten und anzuwenden, bevor eine abschliessende summative Bewertung erfolgt.
  • Fördern hochwertiger Endprodukte: Die Struktur mehrphasiger Leistungsnachweise ermutigt Studierende, qualitativ hochwertige Arbeiten abzuliefern. Da sie wissen, dass eine abschliessende summative Beurteilung erfolgt, nehmen sie das formative Feedback ernster und nutzen es gezielt zur Verbesserung ihrer Leistungen.

Zu beachten ist das Risiko von Rollenkonflikten: Bei mehrphasigen Leistungsnachweisen ist es wichtig, zwischen der fördernden Rolle und der bewertenden Rolle zu unterscheiden. Lehrende sollten bei der abschliessenden Bewertung darauf achten, nicht nur zu bewerten, ob Studierende ihre vorangehenden formativen Rückmeldungen «brav» befolgt haben. Denn Studierende können auch unabhängig von erhaltenem Feedback lernen, und manchmal finden sie sogar bessere Wege, als sie ihnen in den Rückmeldungen vorgeschlagen wurden.

Wirksameres Lernen durch effiziente Beurteilung

Als Lehrende können wir mit einfachen Massnahmen sowohl die Effizienz von Beurteilungen steigern als auch die Lernmotivation und den Lernerfolg der Studierenden. Letzteres nützt nicht nur den Studierenden, sondern reduziert indirekt auch das Auftreten von Komplikationen wie hohen Durchfallquoten, Dropouts oder Protesten gegen unfaire Beurteilungen.

Die motivationsförderliche Gestaltung von Feedback und mehrphasige Leistungsnachweise sind nur zwei von vielen einfachen Massnahmen, mit denen wir Beurteilungsanlässe wirksamer gestalten können – für Lehrende und Lernende. Eine weitere Möglichkeit besteht z.B. in einer intensiven Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden über die Kriterien der Leistungsbeurteilung (siehe Blogbeitrag «Woran mache ich meine Beurteilung fest?»).

INFOBOX

Zahlreiche weitere Anregungen finden sich im folgenden Buch, das sowohl als gedrucktes Buch käuflich als auch kostenlos im Open Access heruntergeladen werden kann:

Zimmermann, Tobias (2024). Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten. Prüfen, Beurteilen und Rückmelden von Lernleistungen. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. ISBN 978-3-8474-3045-2

Angebote der PH Zürich

- Buchvernissage «Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten». Dienstag, 22. Oktober 2024, 16–17 Uhr, Schloss Au (im Anschluss an die Veranstaltung «Barcamp Assessment»)

- Barcamp Assessment, KI-basierte Ansätze für Beurteilung und Feedback (Kurztagung). Dienstag, 22. Oktober 2024, 8.30–15.30 Uhr, Schloss Au.

Zum Autor

Tobias Zimmermann ist Leiter des Zentrums für Hochschuldidaktik und -entwicklung (ZHE) an der PH Zürich.

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