Mehr Konzentration bitte!
Beitrag von Martina Meienberg
Nur noch schnell die Mails checken. Nur noch schnell einen Raum für die nächste Besprechung buchen, nur noch schnell einen Doodle ausfüllen, nur noch schnell ein Feedback zu einem Artikel geben und so weiter und so fort. Wer eigentlich nur schnell die Mails checken will, verliert oft Stunden, die Konzentration sowieso und vergisst darüber nicht selten, welcher Aufgabe man sich eigentlich widmen wollte. Welcher Dozent, welche Wissensarbeiterin kennt das nicht. Die Frage ist also: Wie bringen wir mehr Konzentration in den Arbeitsalltag, damit wir das tun können, was wir tun sollen?
Deep Work versus Shallow Work
Call Newport unterscheidet in seinem Buch «Konzentriert arbeiten» (vgl. Rezension im PH-Akzente von Daniel Ammann) Deep Work und Shallow Work. Unter Letzterem versteht er kognitiv anspruchslose, reproduktive Aufgaben. Tätigkeiten, die tendenziell nicht viel neuen Wert in der Welt schaffen und leicht zu kopieren sind (Newport 2017, 12). Weiter hält der Autor fest, dass viele Wissensarbeiter einen Grossteil ihres Arbeitstages mit Shallow Work verbringen, also mit oberflächlichen Angelegenheiten – selbst wenn es Anspruchsvolleres zu erledigen gäbe. Aber die Angewohnheit, häufig den Posteingang zu kontrollieren, sorgt zuverlässig dafür, dass das Oberflächliche im Vordergrund der Aufmerksamkeit bleibt. Hinzu kommt, dass ein Arbeitsalltag, der vom Maileingang repräsentiert wird, ein Bild von unserer Tätigkeit abgibt, das von Stress, Verärgerung, Frustration und Trivialitäten geprägt ist (ebd. 82f.).
Das Kontrastprogramm zu Shallow Work ist Deep Work. Der Autor und Computerwissenschaftler versteht darunter berufliche Aktivitäten, die in einem Zustand ablenkungsfreier Konzentration ausgeführt werden. Das Arbeiten in höchster Konzentration schafft u. a. neuen Wert. Laut Newport ist Deep Work nötig, um die jeweilige intellektuelle Kapazität «bis auf den letzten Tropfen auszuwringen» (ebd. 8). So stellt sich also die Frage, wie sich Shallow Work zugunsten von Deep Work an die Ränder des Arbeitsalltags verschieben lässt.
Fokus statt Ablenkung
Es ist alles andere als einfach, hochkonzentrierte Arbeitsphasen in den Alltag einzubauen, weil man damit rechnen muss, dass man den ganzen Tag mit dem Wunsch bombardiert wird, anderes zu machen als Deep Work (ebd. 99). Und wenn man es trotzdem schafft, sich in eine Sache zu vertiefen, aber von einer Kollegin oder einem Email gestört wird, wirkt sich diese Unterbrechung fatal aus. Denn nebst Konzentration braucht es eine längere unterbrechungsfreie Zeit, um produktiv zu sein – entgegen des Mythos ist Multitasking nicht möglich (vgl. Blog-Beitrag von Tobias Zimmermann). Und natürlich gibt es auch nicht den einen Weg, mit dem es gelingt, Ablenkung durch Fokus zu ersetzen. Vielmehr geht es darum, Möglichkeiten konzentrierten Arbeitens zu schaffen, die zum individuellen Arbeitsalltag passen. Newport stellt in seinem Buch verschiedene Arten von Deep Work vor. Im Folgenden skizziere ich ein paar davon als Anregung.
Ideen für Konzentrationsphasen im Alltag
- Sich einen Arbeitstag pro Woche komplett abschotten: Dieses Experiment in einer Management-Beratungsfirma hat dazu geführt, dass die Berater mehr Freude an ihrer Arbeit hatten, dass die Kommunikation im Team besser wurde und sie mehr lernten. Auch konnten sie den Kunden ein besseres Produkt liefern (ebd. 60).
- Täglich Zeitfenster für Deep Work reservieren: Diese Methode ist besonders für diejenigen geeignet, die sich nicht ganze Tage oder Wochen ausklinken können und ihre Tage flexibel gestalten müssen. Der Autor bezeichnet die Methode deshalb als Journalististische Philosophie (ebd. 115f.).
- Deep Work mit einem festen Ritual verknüpfen, also z.B. zu festen Zeiten an bestimmten Orten arbeiten: Dahinter steckt der Gedanke, dass grosse kreative Köpfe wie Künstler denken, aber wie Buchhalter arbeiten (ebd. 117 ff.). Auch vom Schweizer Schriftsteller Martin Suter weiss man z. B., dass er solch feste Rituale pflegt (vgl. Interview im Tages-Anzeiger 2015).
- Kollaboratives Deep Work: Die Idee bei dieser Art des konzentrierten Arbeitens ist, dass man sich nach einer Phase des Rückzugs mit anderen trifft, um gemeinsam an einem Problem zu arbeiten. Auf diese Weise sei es möglich, so Newport, sich gegenseitig auf eine noch höhere Ebene der Konzentration zu bringen (ebd. 133).
Manchmal braucht es grosse Gesten
Aussergewöhnliche Vorhaben, die aussergewöhnlich viel Konzentration erfordern, gelingen manchmal besser an aussergewöhnlichen Orten. Das heisst, für das Gelingen dieser Vorhaben sind manchmal ungewöhnliche Aktionen notwendig. Newport bezeichnet diese als grosse Gesten.
Als Beispiel nennt der Autor die Schriftstellerin J. K. Rowling. Als diese im Winter 2007 an den letzten Seiten des letzten Harry-Potter-Bandes arbeitete, fand sie zu Hause in ihrem Arbeitszimmer zu wenig Ruhe. Deshalb mietete sie eine Suite in einem Luxushotel in ihrer Stadt. Egal, wo man das Kapitel eines Buches schreibt, es ist harte Arbeit und erfordert höchste Konzentration. Aber, so der Autor, wenn man 1000 Dollar pro Tag für eine Hotelsuite bezahlt, nur um das Kapitel fertig zu schreiben, ist es leichter, diese Energie aufzubringen (ebd. 121f.).
Noch extremer (und fragwürdig) ist folgende grosse Geste: Ein Vortragsredner, der nur zwei Wochen Zeit hatte, um ein gesamtes Buchmanuskript zu erstellen, buchte einen Hin- und Rückflug in der Business-Klasse nach Tokio. In Japan angekommen, trank er einen Espresso und flog wieder zurück. Die gesamte Flugzeit verbrachte er schreibend und kehrte mit einem vollständigen Manuskript zurück (ebd. 124f.).
Wenigstens eine Stunde Konzentration pro Tag
Abgesehen davon, dass eine grosse Geste dieser Art ein ökologischer Unsinn ist und auch nicht für alle möglich und erschwinglich, ist sie auch nicht zwingend nötig. Gemäss Ernst Pöppel, emeritierter Professor für Medizinische Psychologie, lässt sich schon mit einer Stunde Konzentration pro Tag viel erreichen. So wurde er im Spiegel-Artikel «Dranbleiben bitte!» (2015) mit der Aussage zitiert, dass eine Firma, wenn sie täglich von 11 bis 12 Uhr nicht kommunizieren würde und die Menschen eine Stunde ohne jegliche Ablenkung arbeiten könnten, den grössten Kreativitätsschub erleben würde, den man sich überhaupt vorstellen kann. – Und was würde das erst an einer Hochschule bewirken!
Eine Stunde täglich ist machbar – und wenn auch nicht über den Wolken im Flugzeug nach Tokio, so doch im Flugmodus ausserhalb des Grossraumbüros. In diesem Sinne wünsche ich mehr Konzentration und guten Flug im neuen Semester!
Der Umgang mit elektronischen Medien und insbesondere Mobilgeräten ist auch für das Lernen von Studierenden relevant. An der PH Zürich ist deshalb gerade das Digital-Skills-Projekt «Synergien zwischen persönlichen und institutionellen Lernumgebungen für Lehrende und Lernende» gestartet. Das Projekt soll aufzeigen, wie digitale Medien – auch solche, die nicht offiziell von der Hochschule zur Verfügung gestellt werden – optimal zum Lernen und Lehren eingesetzt werden können. Fragen nach der Strukturierung von Arbeit, Konzentration und Kommunikation spielen dabei eine zentrale Rolle. Das Projekt wird gefördert von swissuniversities und geleitet von Tobias Zimmermann (Zentrum für Hochschuldidaktik) in Zusammenarbeit mit Carola Brunnbauer (Digital Learning) und Wolfgang Bührer (Sekundarstufe I).
Zur Autorin
Martina Meienberg ist redaktionelle Betreuerin der Beiträge im Lifelong-Learning-Blog. Ausserdem arbeitet sie als Beraterin im Schreibzentrum und ist Dozentin für Deutschdidaktik an der PH Zürich.
Wahrscheinlich ein guter und notwendiger Artikel. Warum er und all die anderen zur Kommentierung freigegeben wird, weiss ich nicht.
In der letzten Ausgabe der „GEO“ ist das Thema auch Thema gewesen, denn das Titelthema lautete „Fokus“. Cal Newport kam prominent im Titelthema-Artikel vor – und sein Deep-Work-Refugium.