Vorstellungsgruppe: Zuerst kennen lernen, dann Inhalte

Ulrike Hanke

Beitrag von Ulrike Hanke, Dozentin und Beraterin für Hochschuldidaktik; Kurs– und Modulleiterin am ZHE.


Abwarten und ins Handy starren

Christian ist gerade im Hörsaal 223 angekommen. Er hat jetzt ein Seminar zum Thema Personalentwicklung in seinem Nebenfach. Er sieht sich im Raum um: Es sind noch nicht viele Kommilitoninnen und Kommilitonen da. Die meisten sitzen vereinzelt an den Tischen, Smartphone in der Hand oder auf den Laptop starrend. Nur zwei Studentinnen scheinen sich zu kennen: Sie reden miteinander.
Christian zögert kurz. Es ist die erste Woche in seinem dritten Semester. Er kennt hier niemanden. Wo soll er sich hinsetzen? Er entscheidet sich für einen Platz hinten im Raum. Schnell holt auch er sein Smartphone aus der Tasche. Der Raum füllt sich langsam, aber weiterhin beschäftigen sich die meisten Studierenden mit ihren mobilen Endgeräten. Christian fragt sich: «Wie dieses Seminar wohl wird, wenn man so gar niemanden kennt?»

Die aus Studierenden-Perspektive geschilderte Situation  ist typisch für erste Sitzungen von Lehrveranstaltungen im Semester: Man kennt kaum jemanden, ist unsicher und fragt sich, was da auf einen zukommt. Man versucht zu vermeiden, dass man auffällt, denn was sollen denn sonst die anderen denken? Also schön unauffällig bleiben. Es wird eine abwartend-distanzierte Haltung eingenommen.

Der Einstieg ist zentral

Ersten Sitzungen im Rahmen von Lehrveranstaltungen kommt eine besondere Bedeutung zu. Kennen Sie die Studierenden nicht und kennen sich die Studierenden untereinander nicht, so ist die Anfangssituation von Unsicherheit geprägt. Diese ist nicht lernförderlich, da sie den Studierenden die Kapazität raubt, um sich mit dem Lernen und dem Lernstoff zu beschäftigen.

Wo soll ich mich bloss hin setzen?
Wo soll ich mich bloss hin setzen?

Wie können Sie als Dozierende damit umgehen? Wie können Sie zu Beginn eine Atmosphäre schaffen, die langfristig sichert, dass sich die Studierenden wohl und sozial eingebunden fühlen und somit ihre Aufmerksamkeit auf das Lernen richten können? Im Folgenden werden Hintergründe und mit der Vorstellungsgruppe eine geeignete Einstiegsmethode erläutert.

In Anfangssituationen von Lehrveranstaltungen steht also klar die soziale Situation im Fokus. Die Gedanken drehen sich nicht um die Inhalte der kommenden Lehrveranstaltung, sondern darum, wie das soziale Miteinander wohl wird, wie man wahrgenommen wird, was man tun und was man besser lassen sollte.
Woran liegt das? Etwas locker formuliert, könnte man sagen, dass wir Menschen „Herdentiere“ sind, also soziale Wesen. Wir haben das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit, wie die Selbstbestimmungstheorie der Motivationspsychologen Deci und Ryan besagt. Erst wenn dieses Bedürfnis gestillt ist, haben wir überhaupt Kapazitäten frei, um uns höheren kognitiven Tätigkeiten wie dem Lernen und der Auseinandersetzung mit Inhalten zuzuwenden.

Konsequenzen für den Unterricht

Deshalb ist es wichtig, die Lehrveranstaltung keinesfalls mit langen inhaltlichen Vorträgen oder organisatorischen Aspekten zu beginnen. Für beides sind die Studierenden zu diesem Zeitpunkt nicht offen. Organisatorische Aspekten wie Teilnahmebedingungen und Informationen über Leistungsnachweise erzeugen zudem Druck. Dies wiederum erhöht die Distanz zwischen Studierenden und Dozierenden.

Vielmehr sollten wir versuchen, eine angenehme soziale Atmosphäre zu schaffen, in der die Studierenden sich wohl und integriert fühlen. Dies erst ermöglicht es, im Laufe der ersten Lektion langsam den Fokus von der sozialen Ebene auf die Inhalte zu lenken.
Um diese positive Atmosphäre zu schaffen, beginnen wir Dozierenden am besten mit einer freundlichen Begrüssung und stellen uns vor. So können wir die Distanz zwischen uns und den Studierenden bereits etwas reduzieren.
Anschliessend sollten wir Möglichkeiten zur Interaktion schaffen. Dadurch beginnen die Studierenden miteinander zu sprechen und erfahren, dass die anderen Studierenden Menschen wie sie selbst sind. Dadurch wird die soziale Situation für die Studierenden angenehmer, sie fühlen sich gegenseitig akzeptiert. Somit können sie ihre Aufmerksamkeit nun den Inhalten zuwenden.

Vorstellungsgruppe: Zuerst die Beziehungs-, dann die Sachebene

Eine Methode, die erstens diese Interaktionsmöglichkeit schafft und dann langsam und behutsam zum Inhalt überleitet, ist die sogenannte „Vorstellungsgruppe mit inhaltlichem Zentrum“, siehe Abbildung.

Ablauf und Wirkung der einzelnen Schritte der Methode „Vorstellungsgruppe mit inhaltlichem Zentrum“
Ablauf und Wirkung der einzelnen Schritte der Methode «Vorstellungsgruppe mit inhaltlichem Zentrum» – Klicken zum Vergrössern (nach Hanke 2016)

Hier werden die Studierenden zunächst gebeten, sich in Gruppen mit Studierenden zusammenzufinden, die sie noch nicht kennen (am geeignetsten sind Gruppengrössen von 4–5 Personen). Die Studierenden sollen sich in diesen Gruppen zunächst vorstellen und sich anschliessend ein erstes Mal mit dem inhaltlichen Thema der Lehrveranstaltung auseinandersetzen. Danach kommt man erneut im Plenum zusammen, um die Ergebnisse zusammenzutragen.

Durch das Bilden von Gruppen und die Vorstellungsrunde in diesen kleineren Gruppen treten die Studierenden gleich zu Beginn einer Lehrveranstaltung miteinander in Interaktion. Dies bewirkt, dass die erste Scheu vor den anderen anhand eines unkritischen Themas (sich selbst vorstellen) abgebaut wird. Die Studierenden erfahren, dass sie von den Mitstudierenden akzeptiert werden – sie können sich sozial eingebunden erleben.
Dadurch werden die Kapazitäten für die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das Lernen und die Lerninhalte frei. Und genau darum geht es dann im zweiten Schritt, wo die Studierenden sich inhaltlich mit dem Thema auseinandersetzen. Hierfür ist eine geeignete Fragestellung/Aufgabe zu formulieren, die mit dem übergreifenden Thema der Veranstaltung zusammenhängt.

Ulrike Hanke stellt VGmiZ im Video vor
Ulrike Hanke stellt Vorstellungsgruppe mit inhaltlichem Zentrum in Video vor

Vorwissen aktivieren

Die Methode „Vorstellungsgruppe mit inhaltlichem Zentrum“ ist der erste Schritt in Richtung einer angenehmen lernförderlichen Atmosphäre. Diese schafft für die Studierenden Freiräume, sich nicht mehr nur auf die soziale Situation, sondern auch auf die Inhalte zu konzentrieren.
Wird eine geeignete inhaltliche Frage gestellt, hat diese Methode zusätzlich den Vorteil, dass wir die Studierendengruppe hinsichtlich Ihres Vorwissens besser kennen lernen können. Dadurch können wir die folgenden Lektionen passgenauer an diesem Vorwissen ausrichten und damit lernförderlicher gestalten.
Es gibt übrigens noch weitere Möglichkeiten, Einstiegssituationen interaktiv zu gestalten, siehe folgende Links:

Auch in grossen Gruppen wirkungsvoll

Die Vorstellungsgruppe ist keineswegs nur in kleineren Veranstaltungen einsetzbar. Ich kann aus Erfahrung berichten, dass sie auch in sehr grossen Gruppen wirkungsvoll umgesetzt werden kann. Man kann etwa die Studierenden bitten, dass jede zweite Sitzreihe sich nach hinten orientieren soll, um auf diese Weise kleine Gruppen zu bilden. Hier können die Studierenden sich dann gegenseitig vorstellen und ebenfalls über das inhaltliche Zentrum diskutieren.

Die Vorstellungsgruppe funktioniert bei jeder Gruppengrösse
Die Vorstellungsgruppe funktioniert bei jeder Gruppengrösse

Einzig die Ergebnissicherung muss hier in einer anderen Form als in Form von Präsentationen erfolgen. Sie könnten hier einfach einzelne Stimmen von Studierenden abholen oder mit elektronischer Unterstützung arbeiten. Dabei können z.B. Tools wie Clicker oder Umfragesoftware/-apps (z.B. Poll Everywhere, SurveyMonkey, PINGO etc.) eingesetzt werden.

Schon im Laufe der weiteren Lektion werden Sie spüren, dass die Studierenden viel lebhafter sind, und sich mehr einzubringen getrauen. Und zu Beginn der folgenden Lektion werden Sie merken, dass es schon viel lebhafter zugeht, wenn Sie in den Hörsaal kommen.
Nutzen Sie diese Chance, mit Vorstellungsgruppen einfach eine gute Lernatmosphäre aufzubauen. Ich wünsche Ihnen ganz viel Spass dabei.

Ulrike Hanke bietet am ZHE den Kurs «Grossgruppen-Veranstaltungen lernförderlich gestalten» an, in dem Sie hier vorgestellte und andere Methoden näher kennen lernen können.

Sie ist zudem Autorin  erfolgreicher hochschuldidaktischer Bücher. Ihr jüngstes Buch «Ideen für gelingende Lehrveranstaltungen – Lehren an Universitäten und Hochschulen» ist auf ihrer Website zum Download erhältlich. 

Weiterer Literaturtipp: Macke, G., Hanke, U., Viehmann, P. & Raehter, W. (2016). Kompetenzorientierte Hochschuldidaktik. Lehren, Vortragen, Prüfen, Beraten. 3., überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz. (erscheint am 18.9.2016)

Selbststudium – schrötig oder nötig?

Beitrag von Tobias Zimmermann, Dozent für Hochschuldidaktik und Leiter der ZHE-Geschäftsstelle,

und von Franziska Zellweger Moser, Bereichsleiterin Hochschuldidaktik am ZHE.


Bald beginnt das neue Semester, und so machen sich derzeit viele von uns Gedanken über die Gestaltung von Lehrveranstaltungen. Virulent ist dabei oft die Frage, welche Themen im Präsenzunterricht behandelt werden und welche im so genannten Selbststudium. Dozierende sind dabei auch mit curricularen Vorgaben ihrer Hochschulen oder Studiengänge konfrontiert. Nicht immer entsprechen diese Vorgaben den didaktischen Vorstellungen der Dozierenden.

Lernpsychologische Kontroverse

Auch lernpsychologisch ist Selbststudium kein unumstrittenes Konzept. Kritische Stimmen weisen etwa darauf hin, dass einige Studierende überfordert sind, wenn sie Lernaktivitäten selbständig planen und umsetzen sollen. Ein prominenter Vertreter dieser Kritik ist etwa der Lernpsychologe John Sweller, der kürzlich zu dieser Frage ein Referat an der PH Zürich hielt. Aus didaktischer Sicht besteht zudem das Risiko, dass man beim Gestalten von Selbstlerneinheiten einseitig die Studierenden im Blick hat. Der Lehrperson und ihrem Verhalten kommt aber auch bei Selbstlernphasen grosse Bedeutung zu.

Demgegenüber betonen konstruktivistisch geprägte Lerntheorien, dass Lernen immer aktiv und konstruktiv ist. Was jemand lernt, hängt demzufolge ganz erheblich von seinem Vorwissen ab. Gemäss solchen konstruktivistischen Vorstellungen wird deshalb Unterricht, in dem alle das Gleiche tun, den meisten Lernenden nicht gerecht. Dies führt zur Forderung, Studierende müssten sich weitgehend eigenständig mit den Lerngegenständen auseinandersetzen, um nachhaltig lernen zu können.

John Sweller erläutert seine Cognitive Load Theory
John Sweller erläutert seine Cognitive Load Theory

Didaktisches Sandwich

Finden Sie beide Ansatzpunkte plausibel? Dann nehmen Sie eine «mittlere» Haltung ein, die heute verbreitet vertreten wird. Man spricht hier von «gemässigtem Konstruktivismus», «integrierter Position» oder von problemorientiertem Unterricht (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mandl 2006). Zentral ist die Auffassung, dass es sowohl Anleitung als auch eigenständige Lernphasen braucht: Studierende sind auf den Input von Lehrpersonen angewiesen, brauchen aber auch Zeit, um sich selbständig mit den Lerninhalten auseinanderzusetzen. Selbststudium heisst in diesem Sinne, stärker eigenverantwortlich zu lernen, aber nicht unbedingt alleine oder gar einsam. Gesucht sind also methodische Möglichkeiten, angeleitetes und individuelles Lernen zu kombinieren!

Aus unserer Sicht hat sich zur Strukturierung der Abfolge von geführten und von Selbstlern-Phasen das so genannte Sandwich-Prinzip bewährt. Dieses wurde vom Lernpsychologen Diethelm Wahl entwickelt und strukturiert den Unterricht in Phasen der Anleitung/Information und der subjektiven Aneignung (siehe Grafik).

Das Sandwich-Modell von Wahl (Grafik von Franziska Zellweger, in Anlehnung)
Das Sandwich-Prinzip von Wahl (Grafik von Franziska Zellweger, in Anlehnung an D. Wahl)

Häufig werden Selbstlernphasen zum Üben und Vertiefen von im Präsenzunterricht eingeführten Konzepten eingesetzt. Aber auch das Umgekehrte ist möglich: Selbstlernphasen dienen dann primär der Informationsaneignung (auch dazu sind entsprechende Arbeitsaufträge nötig!). Im Präsenzunterricht hingegen werden Fragen diskutiert, Übungen gelöst und Inhalte vertieft. Dieses Vorgehen wird derzeit unter dem Stichwort «Flipped Classroom» intensiv diskutiert.

Methodische Umsetzung von Selbstlernphasen

Die Sandwich-Phasen können unterschiedlich umfassend sein – so kann ein Sandwich eine einzelne Lektion/Stunde umfassen, aber auch ein ganzes Semester. Auch die didaktische Methodik ist im Einzelnen nicht festgelegt. Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von empirisch erforschten Methoden, mit denen sich bestimmte Lernziele erreichen lassen. Wir nennen hier eine kleine Auswahl an Methoden, die flexibel und fachübergreifend einsetzbar sind:

Gelenkstellen sind zentral

Es gibt also verschiedene Wege, Unterricht in Präsenz- und Selbststudium zu rhythmisieren. Wesentlich sind dabei die so genannten Gelenkstellen (siehe grafische Darstellung), also die Übergänge zwischen Anleitungsphasen und Phasen subjektiver Aneignung. Mit ihrem Gelingen steht und fällt die Kohärenz eines nach dem Sandwich-Prinzip gestalteten Unterrichts. Wahl betont dabei folgende Aspekte:

  • Am Ende einer Anleitungsphase muss der Auftrag für die Selbstlernphase klar sein. Sehr empfehlenswert sind dabei schriftlich formulierte Aufträge.
  • Die Selbstlernphase dient dem Individualisieren. Sie gibt den Studierenden die Möglichkeit, basierend auf ihrem individuellen Vorwissen weiter zu lernen. Selbstlernphasen dienen hingegen nicht primär dem Vorbereiten der kollektiven Phase – im Vordergrund stehen die individuellen Lernprozesse.
  • Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt für den Übergang von Selbstlernphasen zu Anleitungsphasen: Es werden immer individuelle Lernprozesse unterbrochen, für einige Studierenden ist der Moment gerade passend, für andere nicht. Deshalb ist es nicht erfolgversprechend, Selbstlernphasen durch ein langes Sammeln von Ergebnissen abzuschliessen. Das Zusammenführen soll deshalb nur so lange dauern, wie es für die Fortsetzung des Unterrichts, also für die nächste Anleitungsphase, wirklich nötig ist.

Selbststudium – nötig, aber kein Selbstläufer

Ist Selbststudium also schrötig oder nötig? Wir glauben, es führt kein Weg an der Frage vorbei, wie individuelle Lernprozesse unterstützt werden können. Wie gezeigt gibt es Ansätze, Selbstlernphasen sowohl für Studierende wie auch Dozierende attraktiv zu gestalten. Dies ist jedoch anspruchsvoller als es auf den ersten Blick scheint.

Einen ganzen Strauss empirisch validierter Methoden zur Umsetzung des Sandwichprinzips – auch für den Präsenzunterricht – können Sie im Kurs Lernwirksame Methoden von Prof. Dr. Diethelm Wahl kennen und anwenden lernen, der am 8. September 2016 zum nächsten Mal stattfindet.

Literaturhinweise:
- Franziska Zellweger Moser und Tobias Jenert (2014): Konsistente Gestaltung von Selbstlernumgebungen. Enthalten im Band 1 unserer Reihe „Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung“.
- Diethelm Wahl (2013): Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln. 3. Auflage mit Methodensammlung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
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