Beitrag von Tobias Zimmermann, Dozent für Hochschuldidaktik und Leiter der ZHE-Geschäftsstelle,
und von Franziska Zellweger Moser, Bereichsleiterin Hochschuldidaktik am ZHE.
Bald beginnt das neue Semester, und so machen sich derzeit viele von uns Gedanken über die Gestaltung von Lehrveranstaltungen. Virulent ist dabei oft die Frage, welche Themen im Präsenzunterricht behandelt werden und welche im so genannten Selbststudium. Dozierende sind dabei auch mit curricularen Vorgaben ihrer Hochschulen oder Studiengänge konfrontiert. Nicht immer entsprechen diese Vorgaben den didaktischen Vorstellungen der Dozierenden.
Lernpsychologische Kontroverse
Auch lernpsychologisch ist Selbststudium kein unumstrittenes Konzept. Kritische Stimmen weisen etwa darauf hin, dass einige Studierende überfordert sind, wenn sie Lernaktivitäten selbständig planen und umsetzen sollen. Ein prominenter Vertreter dieser Kritik ist etwa der Lernpsychologe John Sweller, der kürzlich zu dieser Frage ein Referat an der PH Zürich hielt. Aus didaktischer Sicht besteht zudem das Risiko, dass man beim Gestalten von Selbstlerneinheiten einseitig die Studierenden im Blick hat. Der Lehrperson und ihrem Verhalten kommt aber auch bei Selbstlernphasen grosse Bedeutung zu.
Demgegenüber betonen konstruktivistisch geprägte Lerntheorien, dass Lernen immer aktiv und konstruktiv ist. Was jemand lernt, hängt demzufolge ganz erheblich von seinem Vorwissen ab. Gemäss solchen konstruktivistischen Vorstellungen wird deshalb Unterricht, in dem alle das Gleiche tun, den meisten Lernenden nicht gerecht. Dies führt zur Forderung, Studierende müssten sich weitgehend eigenständig mit den Lerngegenständen auseinandersetzen, um nachhaltig lernen zu können.
Didaktisches Sandwich
Finden Sie beide Ansatzpunkte plausibel? Dann nehmen Sie eine «mittlere» Haltung ein, die heute verbreitet vertreten wird. Man spricht hier von «gemässigtem Konstruktivismus», «integrierter Position» oder von problemorientiertem Unterricht (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mandl 2006). Zentral ist die Auffassung, dass es sowohl Anleitung als auch eigenständige Lernphasen braucht: Studierende sind auf den Input von Lehrpersonen angewiesen, brauchen aber auch Zeit, um sich selbständig mit den Lerninhalten auseinanderzusetzen. Selbststudium heisst in diesem Sinne, stärker eigenverantwortlich zu lernen, aber nicht unbedingt alleine oder gar einsam. Gesucht sind also methodische Möglichkeiten, angeleitetes und individuelles Lernen zu kombinieren!
Aus unserer Sicht hat sich zur Strukturierung der Abfolge von geführten und von Selbstlern-Phasen das so genannte Sandwich-Prinzip bewährt. Dieses wurde vom Lernpsychologen Diethelm Wahl entwickelt und strukturiert den Unterricht in Phasen der Anleitung/Information und der subjektiven Aneignung (siehe Grafik).
Häufig werden Selbstlernphasen zum Üben und Vertiefen von im Präsenzunterricht eingeführten Konzepten eingesetzt. Aber auch das Umgekehrte ist möglich: Selbstlernphasen dienen dann primär der Informationsaneignung (auch dazu sind entsprechende Arbeitsaufträge nötig!). Im Präsenzunterricht hingegen werden Fragen diskutiert, Übungen gelöst und Inhalte vertieft. Dieses Vorgehen wird derzeit unter dem Stichwort «Flipped Classroom» intensiv diskutiert.
Methodische Umsetzung von Selbstlernphasen
Die Sandwich-Phasen können unterschiedlich umfassend sein – so kann ein Sandwich eine einzelne Lektion/Stunde umfassen, aber auch ein ganzes Semester. Auch die didaktische Methodik ist im Einzelnen nicht festgelegt. Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von empirisch erforschten Methoden, mit denen sich bestimmte Lernziele erreichen lassen. Wir nennen hier eine kleine Auswahl an Methoden, die flexibel und fachübergreifend einsetzbar sind:
- Fallbearbeitungen
- Gruppenpuzzle
- Gruppenrallye
- Kollegiale Praxisberatung
- Online-Diskussionen (vgl. dazu ausführlich die Dissertation von Zimmermann 2014)
Gelenkstellen sind zentral
Es gibt also verschiedene Wege, Unterricht in Präsenz- und Selbststudium zu rhythmisieren. Wesentlich sind dabei die so genannten Gelenkstellen (siehe grafische Darstellung), also die Übergänge zwischen Anleitungsphasen und Phasen subjektiver Aneignung. Mit ihrem Gelingen steht und fällt die Kohärenz eines nach dem Sandwich-Prinzip gestalteten Unterrichts. Wahl betont dabei folgende Aspekte:
- Am Ende einer Anleitungsphase muss der Auftrag für die Selbstlernphase klar sein. Sehr empfehlenswert sind dabei schriftlich formulierte Aufträge.
- Die Selbstlernphase dient dem Individualisieren. Sie gibt den Studierenden die Möglichkeit, basierend auf ihrem individuellen Vorwissen weiter zu lernen. Selbstlernphasen dienen hingegen nicht primär dem Vorbereiten der kollektiven Phase – im Vordergrund stehen die individuellen Lernprozesse.
- Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt für den Übergang von Selbstlernphasen zu Anleitungsphasen: Es werden immer individuelle Lernprozesse unterbrochen, für einige Studierenden ist der Moment gerade passend, für andere nicht. Deshalb ist es nicht erfolgversprechend, Selbstlernphasen durch ein langes Sammeln von Ergebnissen abzuschliessen. Das Zusammenführen soll deshalb nur so lange dauern, wie es für die Fortsetzung des Unterrichts, also für die nächste Anleitungsphase, wirklich nötig ist.
Selbststudium – nötig, aber kein Selbstläufer
Ist Selbststudium also schrötig oder nötig? Wir glauben, es führt kein Weg an der Frage vorbei, wie individuelle Lernprozesse unterstützt werden können. Wie gezeigt gibt es Ansätze, Selbstlernphasen sowohl für Studierende wie auch Dozierende attraktiv zu gestalten. Dies ist jedoch anspruchsvoller als es auf den ersten Blick scheint.
Einen ganzen Strauss empirisch validierter Methoden zur Umsetzung des Sandwichprinzips – auch für den Präsenzunterricht – können Sie im Kurs Lernwirksame Methoden von Prof. Dr. Diethelm Wahl kennen und anwenden lernen, der am 8. September 2016 zum nächsten Mal stattfindet. Literaturhinweise: - Franziska Zellweger Moser und Tobias Jenert (2014): Konsistente Gestaltung von Selbstlernumgebungen. Enthalten im Band 1 unserer Reihe „Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung“. - Diethelm Wahl (2013): Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln. 3. Auflage mit Methodensammlung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Als Dozierender ist es für mich sehr hilfreich, wenn die Studierenden kontinuierlich ihre Lern- und Entwicklungsprozesse dokumentieren. Diese Dokumentation zum Beispiel in einem E-Portfolio kann mit Kolleg/innen, Dozierenden, Community of Practice geteilt werden. Es besteht dann die Möglichkeit unabhängig von Ort und Zeit förderorientierte Rückmeldungen zu geben oder eben auch Ressourcen (Anleitungen, Impulse, Modelle, Literatur etc.) direkt in die Lern- und Entwicklungsprozesse zu verknüpfen.
Danke für diese Ergänzung, ich teile deine Einschätzung! Wir beobachten in der konkreten Umsetzung viele Schwierigkeiten mit Portfolios. Das braucht sehr viel, um ins Rollen zu kommen. Da bist du mit Sicherheit ein Pionier!
was darf ich unter „Wir beobachten in der konkreten Umsetzung viele Schwierigkeiten mit Portfolios.“ verstehen?
können sie diese schwierigkeiten beschreiben?
Lieber Herr Rüedi,
Danke für die Nachfrage. Ich verweise auf Gespräche mit Teilnehmenden in hochschuldidaktischen Kursen. Das Konzept des Portfolios in unterschiedlichen Ausprägungsvarianten ist für die meisten Dozierenden gut nachvollziehbar und erstrebenswert. Allerdings beobachte ich folgende Schwierigkeiten in der Umsetzung:
– Portfolios werden idealerweise curricular entlang eines Studiengangs eingesetzt, um den Lern- und Entwicklungsprozess zu dokumentieren und reflektieren. In der modularisierten Struktur nach Bologna ist die koordinierte Unterstützung dieser Portfolioarbeit manchmal schwierig zu gewährleisten. Es reicht nicht, wenn einzelne Dozierende Portfolioarbeit einsetzen möchten. Es braucht weitere Rahmenbedingungen, damit die Ziele, die mit Portfolios angestrebt werden, tatsächlich erreicht werden.
– Widerstände gibt es auch auf Seiten der Studierenden. Häufig werden von Studierenden im Portfolio Reflexionen eingefordert. Es wird unterschätzt was Studierende brauchen, damit Reflexionen tatsächlich den Lernprozess voranbringen. Auch wird unterschätzt, was Dozierende brauchen, um Reflexionsarbeit zu unterstützen und gegebenenfalls auch zu „beurteilen“.
– Letztlich scheitert Portfolioarbeit ab und zu auch an der Technik. Der Einsatz einer weiteren Plattform wie Mahara scheint eine Hürde zu sein. Wie könnte es gelingen, das Portfolio näher an die PLE der Studierenden heranzutragen.
Welche Erfahrungen machen Sie?
Beste Grüsse
Franziska Zellweger