«Das Bildungssystem ist ungerecht»

Das Spiel «IQ 110», übersetzt aus dem englischen und adaptiert auf das schweizerdeutsche Bildungssystem, ermöglicht es nicht nur Lehr-, Fach- und Führungspersonen Bildungs(un)gerechtigkeit zu erfahren, sondern bietet auch Schüler:innen die Möglichkeit, sich mit ihrem Schulsystem auseinanderzusetzen. Jasmin Kolb erzählt von ihren Erfahrungen im Spiel mit Jugendlichen einer Kantonsschule.

Wie fühlt es sich an, wenn der Weg zur Maturität ein Spiel wäre und nicht alle mit denselben Karten spielen dürften? Diese Frage stellten sich die Jugendlichen, als sie IQ 110 – An Exceptionally Unfair Game spielten – ein Lernspiel, das auf eindrückliche Weise erlebbar macht, wie ungleiche Bedingungen den Bildungsweg prägen und wie komplex das Thema Bildungsgerechtigkeit tatsächlich ist.

Im Spiel übernehmen die Jugendlichen zufällig verschiedene Rollen – Kinder mit ganz unterschiedlichen Startbedingungen: Svenja, die mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder in der Nähe der Stadt in einer Villa mit eigener Kunstsammlung und vielen inspirierenden Menschen wohnt, zu Mirko, der mit zwei Vätern in einer zweistöckigen Wohnung mitten in der Stadt wohnt, sehr viel Energie hat und mit vollem Tatendrang und Ideen im eigenen Restaurant hilft, bis hin zu Nina, die mit Mama, Papa, Schwester, Bruder und kleiner Zwillingsschwester in einer Sozialwohnung am Rand der Stadt lebt, Secondhandkleidung trägt und am liebsten Karate-Videos auf YouTube schaut.

Die Spielregeln scheinen einfach, da alle mit demselben Intelligenzquotienten starten und dasselbe Ziel verfolgen: den Weg durchs Bildungssystem möglichst erfolgreich zu absolvieren. Die Umsetzung sieht jedoch etwas anders aus. Im Verlauf des Spiels wird spürbar, wie stark der Bildungsweg durch Faktoren geprägt ist, die ausserhalb der individuellen Leistung liegen.

Manche Schüler:innen erreichen ihr Ziel scheinbar mühelos, andere müssen trotz grosser Anstrengung immer wieder Rückschläge hinnehmen. Sie können nicht zum Zahnarzt, auch wenn sie Schmerzen haben, können keinen Schwimmkurs besuchen, weil niemand sie begleitet oder entdecken, dass sie im falschen Körper geboren sind und erfahren Hass im Internet.

Die Privilegien oder Benachteiligungen, die aus ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital entstehen – ganz im Sinne der Kapitaltheorie von Pierre Bourdieu – werden anhand unterschiedlicher Situationen für die Jugendlichen Realität und mit ihrer eigenen Lebenswelt verglichen.

«Es war hilfreich, sich einmal in die Lage von jemandem zu versetzen, der nicht so privilegiert ist wie ich und auch Mal das Bildungssystem aus einer anderen Perspektive zu sehen.»

Aussage einer Schülerin

Besonders eindrücklich wird das Spiel, wenn dieselbe Situation für verschiedene Spielende ganz unterschiedliche Folgen hat. Ziehen beispielsweise Mirko und Nina beide die Karte «Ich habe das Gefühl, dass ich im falschen Körper geboren bin», zeigen sich die ungleichen Reaktionen des Umfelds. Während Mirko in einem unterstützenden Umfeld Halt findet, stösst Nina auf Ablehnung und erlebt zusätzliche Hürden in ihrer schulischen Laufbahn.

«Das Bildungssystem ist ungerecht.»

Aussage eines Schülers

Diese Gegenüberstellungen führen den Jugendlichen eindrücklich vor Augen, dass Gerechtigkeit nicht bedeutet, dass alle gleichbehandelt werden.

Ein weiteres Beispiel, wo Unmut in der Gruppe laut wurde, war die Diskussion als Svenja, in der Primarschule das Kärtchen zieht «Ich werde schnell wütend. Deshalb gerate ich häufig in Schlägereien mit anderen Kindern» und nun vor den Optionen steht, ob sie der Schule verwiesen wird, eine Lehrperson mit ihr redet und das Problem löst oder ihre Lehrperson mit den Eltern professionelle Hilfe organisieren. Ein:e Jugendlich:e antwortet darauf hin, dass Mädchen doch keine Aggressionen haben und dies wohl eher bei Jungen der Fall wäre. Svenja wehrt sich darauf hin und sagt, dass es bei ihr durchaus schwierig sei zuhause und in ihrem Umfeld kaum Platz für Wut und Aggressionen sei und sie dies deshalb in der Schule zeige.

In der anschliessenden Diskussion reflektieren die Jugendlichen gemeinsam und setzen sich mit ihren individuellen Erfahrungen im Bildungssystem und persönlichen Einstellungen und Vorurteilen auseinander, um zu sehen, wie Werte und Bildung zusammenhängen. Darüber hinaus entsteht Raum für die Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Themen vor dem Hintergrund sozialer Herkunft, Geschlechtervielfalt und Ressourcenzugänglichkeit. Das Spiel kann dabei als Lehrmittel eingesetzt werden, um Dialoge über Bildungs(un)gerechtigkeit anzustossen.

INFOBOX

Das Spiel IQ110 wurde von Studierenden und Dozierenden der Fachhochschule in Amsterdam entwickelt und herausgeben. Niels Anderegg hatte das Glück, das Spiel im Rahmen einer Studienreise kennengelernt und mit in die Schweiz gebracht zu haben. Gemeinsam mit Jasmin Kolb wurde das Spiel sprachlich und kulturell übersetzt und in verschiedenen Spielrunden weiterentwickelt. Verschiedene wertvolle Hinweise von Kolleg:innen der Hochschule und Schulleitenden haben das Spiel schrittweise bereichert.

Interessierte Schulen können eine Probeversion von IQ 110 auf Anfrage gerne ausprobieren und mit ihren Teams oder Klassen durchführen.

Zur Autorin

Jasmin Kolb hat pädagogische Psychologie an der Universität Fribourg studiert und arbeitet im Zentrum Management und Leadership als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Sie beschäftigt sich vor allem mit wissenschaftlichen Evaluationen und der Weiterentwicklung der Schulleitungsausbildung.

Redaktion: Jasmin Kolb
Titelbild: Bildarchiv PHZH

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