Scuola Svizzera Bergamo

Als Schulleiterin nach Italien auswandern: «Pazienza, Pazienza, Pazienza»

Letzten Sommer hat Rita Sauter nach 12 Jahren an der Schule Hedingen ihre Sachen gepackt und ist nach Bergamo in Italien gezogen. Seit diesem Schuljahr leitet sie dort die älteste Schweizer Schule, die Scuola Svizzera di Bergamo. In zweiten Interview schaut sie zurück auf das erste Semester und wirft einen Blick in die Zukunft.

Niels Anderegg: Nun bist du seit einem halben Jahr «Direttrice» der Schweizerschule in Bergamo. Ich kann mir vorstellen, dass der Wechsel in eine andere Kultur interessant, aber manchmal auch herausfordernd ist.

Rita Sauter: Der Kulturwechsel war ein Teil, der mich gereizt hat, den Wechsel nach Italien an eine Schweizerschule zu machen. Auch nach einem halben Jahr gibt es immer noch Dinge, welche ich neu entdecke und einzuordnen versuche. Dabei ist es manchmal schwierig zu verstehen, was zur Kultur von Italien gehört und was spezifische Merkmale unserer Schulkultur sind.

Von Beginn an ist mir zum Beispiel aufgefallen, welchen herzlichen Umgang die Lehrer:innen und Kinder untereinander haben. So passiert es mir jeden Tag, dass Kinder auf mich zukommen und mich umarmen. Zu Beginn habe ich dies der italienischen Kultur zugeordnet, bei welcher Berührungen zum Alltag gehören. So kann es sein, dass ein Vater oder eine Mutter beim Verabschieden mich noch kurz am Ellbogen berührt. Daniela, meine Assistentin, erzählte mir kürzlich, dass sie den herzlichen Umgang an unserer Schule besonders schätzt und er ein Qualitätsmerkmal unserer Schule sei, nicht in diesem Masse üblich in Italien.

Wenn du auf das erste halbe Jahr an der Schweizerschule Bergamo blickst: Was waren deine Highlights?

Die vielen Begegnungen mit den verschiedenen Menschen waren die schönsten Highlights. An der Schule Bergamo haben wir um die 130 Schüler:innen. Das ermöglicht mir, dass ich alle Kinder kenne und mit ihnen eine persönliche Beziehung aufbauen.

Einmal kam ein Schüler weinend in mein Büro. Er beklagte sich, dass er schlechte Noten hat. Wir hatten ein intensives Gespräch und wir schauten, wer was machen kann. Dabei hatten wir auch besprochen, dass seine Motivation, gute Noten zu schreiben, die wichtigste Voraussetzung ist.

Der Schüler übernahm die Aufgabe, sich im Unterricht besser zu konzentrieren und Fragen zu stellen. Ich habe mit den Lehrer:innen gesprochen und sie haben sich vorgenommen, mit ihm häufiger auf der Metaeben über sein Lernen zu sprechen. Nach einigen Wochen erzählte der Schüler der Sekretärin, dass er viel besser in der Schule ist.

Schweizer Schule Bergamo

Dann kommen die Schüler:innen häufiger zu dir ins Büro?

Mit der Zeit kamen Schüler:innen häufiger mit Anliegen oder auch einfach so zu mir. Bei einigen Lehrer:innen hat dies zuerst zu Unsicherheit geführt. Ich habe den Eindruck, dass hier auch ein Kulturwandel vom hierarchischen hin zu einer gemeinschaftlichen Verantwortung im Gange ist. Wenn Schüler:innen zu mir kommen und ihre Version erzählen, spreche ich über sie selbst und nicht über die Lehrperson. Ziel ist immer die gemeinsame Förderung der Kinder.

Welche Unterschiede in der Beziehung zwischen dir als Schulleiterin und den Mitarbeitenden hast du in diesem halben Jahr entdeckt?

Ich denke, dass ein Leitungswechsel immer zu Unsicherheiten führt. Es ist ein gegenseitiges Herausfinden, wer wie funktioniert, verbunden mit Ängsten und gleichzeitig Hoffnung. Das Team habe ich dabei von Anfang an als sehr neugierig und offen erlebt, die gegenseitige Vorsicht aber auch gespürt.

Da mir eine gemeinschaftliche Schule sehr wichtig ist, bin ich auf Feedback angewiesen. Zu Beginn war ich mir manchmal unsicher, ob die Feedbacks auch wirklich offen kommen. Zum Beispiel habe ich das Team gefragt, welche Ideen sie für ein mögliches Jahresthema für das nächste Schuljahr haben. Es kamen nur sehr wenige Rückmeldungen, und es war mir unklar, ob man sich getrauen würde zu sagen, wenn einem das Thema nicht behagt. Unterdessen habe ich das Gefühl, dass ich mehr Rückmeldungen und Hinweise bekomme. Die Beziehungen haben sich vertieft und wir haben an Sicherheit und Vertrauen gewonnen.

Wie gehst du mit den unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Ausbildungen der Italienischen und Schweizer Lehrer:innen um?

Wir haben nicht nur schweizerische und italienische, sondern Lehrpersonen aus weiteren Kulturkreisen. Sie haben viele sehr persönliche Kompetenzen gemein, welche sie ins Team einbringen. Ich erhoffe mir sehr, dass wir voneinander und von den unterschiedlichen Hintergründen den grösstmöglichen Nutzen ziehen können. Was mir auffällt, ist, dass die Schweizer Lehrpersonen häufig mutiger in sozialen Themen agieren. Ich bin sicher, dass dies die italienischen Lehrpersonen auch können, aber sich weniger getrauen, was vielleicht auch rechtliche Hintergründe hat.

Dabei sind die Schweizer Lehrpersonen und auch ich immer wieder auf sprachliche und kulturelle Übersetzungen angewiesen, um zu verstehen, was wie funktioniert. Auf das neue Schuljahr hin werden wir uns mit Lifeskills-Training der Schüler:innen befassen. Ich erhoffe mir dadurch sehr, dass wir gemeinsam unsere eigenen Kompetenzen erweitern, in eine Sicherheit in den Handlungen kommen und sich dadurch in diesen übergeordneten Themen eine gemeinsame eigene Kultur entwickelt.

Eine Besonderheit war auch, dass eine italienische Lehrerin unter dem Schuljahr an eine staatliche Schule gewählt wurde und innerhalb von wenigen Wochen die Schule verlassen hat.

Ja, das war für mich ein herausfordernder Moment. Die Lehrerin und gleichzeitig Stufenleiterin, welche in diesem Jahr ein höheres Entlastungspensum hatte, um mich im ersten Jahr zu unterstützen, wurde an die staatliche Schule gewählt und verbeamtet. Dazu gibt es alle paar Jahre ein Auswahlverfahren, dem man sich stellen muss. In einem Wettbewerb werden die besten Lehrer:innen ausgewählt und mit einer Beamtenstelle versehen. Wenn sie diese Stelle nicht angenommen hätte, wäre es möglich gewesen, dass dieses Angebot im ganzen Berufsleben nicht mehr aufgetaucht wäre.

Innerhalb von zwei Wochen war sie weg. So eine langjährige und tragende Lehrperson zu verlieren, hätte ich nicht erwartet. Ich wusste aus Gesprächen, dass dies passieren könnte, doch kurz vor den Weihnachtsferien ist dies auch für alle anderen überraschend gekommen.

Ich war erstaunt, wie das Team dies gut getragen hatte. Verschiedene Lehrpersonen haben Aufgaben übernommen, man hat mitgedacht und sich gegenseitig geholfen. Nun haben wir die Stufenleitung neu organisiert und eine neue Lehrperson gefunden. Nach einer kurzen Unstabilität sind wir schnell wieder in eine gut organisierte Ruhe gekommen. Auch dies ist für mich eine Highlight-Erfahrung.

Auch die Elternarbeit ist in Italien – und an einer Privatschule – anders als an einer Schule in der Schweiz.

Wiederum kann ich nur sagen, wie sie an der Schweizerschule Bergamo ist und nicht, wie es in Italien üblich ist. Mir ist seit Beginn aufgefallen, dass sehr vieles über Mail beziehungsweise über die Schulapp an Kommunikation passiert. Telefonate sind sehr selten. Man holt dann die Eltern eher einmal zu einem Gespräch an die Schule. Was für mich aber gleich ist: Eltern, die mit einem Anliegen an die Schule kommen, sind meistens besorgt. Sie in dieser Sorge ernst zu nehmen, ist für mich ein Schlüssel zu einem guten Gespräch.

Ganz besonders hier an der Schule sind die «Goldmaries». Das ist eine Gruppe von Müttern und einem Vater, die zur Gemeinschaftsförderung Anlässe in der Schule in der Freizeit organisieren. So fand beispielsweise eine Movienight statt oder ein Spielenachmittag. Es ist unglaublich, mit welchem Elan sich die «Goldmaries» engagieren. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ein Schüler bei einer Schulpräsentation sagte: «Und was besonders an unserer Schule ist, sind die Goldmaries.»

Ich weiss, dass es einen weiteren eher unerwartete Höhepunkt in diesem ersten halben Jahr gab.

Ein besonderes Ereignis war der Sicherheitskurs, den ich zusammen mit vielen Lehrer:innen an einem Samstagvormittag machen musste. Das Ganze nur auf Italienisch. Es war ein Kurs, den alle Firmen in Italien machen müssen und nicht auf die Schule abgestimmt war. Das Wesentliche, was ich verstanden hatte, war, dass egal was passiert: Ich und die Präsidentin der Schule habe die Verantwortung und sind schuld, wenn etwas passiert. Was für mich aber ebenfalls wesentlich war: Trotz des nötigen Respekts dem Inhalt gegenüber, kann ein solcher Kurs in einem Team mit einer guten Atmosphäre unterhaltsam sein. Wir hatten eine gute Stimmung und an diesem halben Tag auch viel gelacht.

Welche Unterschiede erlebst du im Unterricht?

Die Mehrsprachigkeit und wie die Kinder hohe Kompetenzen erwerben, ist für mich ein Highlight. Dadurch, dass für die meisten Kinder Deutsch eine Fremdsprache ist, dennoch der hauptsächliche Unterricht in Hochdeutsch stattfindet, wird mir bewusst, was in der Schweiz fremdsprachige Kinder leisten müssen. Hier ist die Sprache langsamer, mehr visualisiert.

Bei Veranstaltungen treten auch immer wieder Schüler:innen auf und benutzen die verschiedenen Sprachen. In diesem Momentan bin ich immer wieder sehr berührt und stolz auf die Leistungen der Schüler:innen. Es ist beeindruckend, mit welcher Leichtigkeit die meisten Schüler:innen in der Sekundarschule drei oder sogar vier Sprachen sprechen.

Generell sehe ich viele neue Ideen. Ganz unabhängig davon, welche Lehrperson woher kommt.

Nach einem halben Jahr kommen meist auch die ersten Schwierigkeiten zu Tage. Was war oder ist für dich herausfordernd?

Ich merke immer wieder, dass ich nicht einfach neu beginnen kann. Es tauchen irgendwelche alten Geschichten auf, die es auch zu berücksichtigen gilt oder die auch Tretminen sein können. Und häufig, wenn ich solchen Geschichten begegne, denke ich mir: Und was taucht da wohl in Hedingen auf, was für mich dazugehörte, für meine Nachfolgerin aber erst entdeckt werden muss?

Eine der grossen Herausforderungen, die auch in diesen Bereich gehören, sind die Verteilungen der Kompetenzen, Verantwortungen und Pflichten. Es prallen dabei verschiedene Vorstellungen und Gewohnheiten aufeinander. Diese zu klären sind nicht ganz einfach, weil man teilweise erst im Tun merkt, dass was für mich «normal» ist, für die anderen ungewohnt sein kann. Manchmal gibt es Dinge, welche ich nicht verstehe, weil ich sie anders angehen würde. Hier braucht es im Moment Energie, um Klärungen zu finden und Vertrauen aufzubauen. Es ist ein Anpassungsprozess für alle Seiten.

Die Schweizerschule ist eine Privatschule. Das bedeutet, dass du Werbung machen und dich darum kümmern musst, dass ihr im nächsten Jahr genug Schüler:innen habt.

Für mich ist es zentral, langfristig daran zu arbeiten und kurzfristig zu schauen, was es braucht. Dabei ist für mich eine zentrale Aufgabe, die hohe Qualität in der Schule immer wieder zu schaffen. Marketing muss auf einer hohen Qualität aufbauen.

Wenn du auf das nächste Semester schaust: Welche Herausforderung siehst du?

Wie du angesprochen hast, sind die Schüler:innenzahlen eine grosse Herausforderung. Die Geburtenrate sinkt und neue Privatschulen werden eröffnet. Durch die Unklarheiten in Bezug auf die Schüler:innenzahlen vom nächsten Schuljahr ist die Planung noch recht vage. Und ich bin gerne frühzeitig in der Planung. Da heisst es: «Pazienza».

Zudem sollen Gelder vom Bundesamt für Kultur gekürzt werden. Wenn dies in dem Masse ist, wie angekündigt wurde, wird dies für die Schweizer Schulen im Ausland eine existenzielle Bedrohung.

Ansonsten sehe ich immer noch die Sprache als grosse Herausforderung. Sie ist für mich in meiner Arbeit, obwohl ich schon viel verstehe, immer noch ein Hindernis. Wie gerne würde ich vieles klären und organisieren, mich mehr vernetzen, bin aber sprachlich noch zurückgebunden. Da Hilfe anzunehmen und geduldig weiterzulernen wird ebenfalls eine Herausforderung, welche mit «Pazienza» angegangen werden muss.

Und auf was freust du dich besonders?

Ich freue mich sehr auf einige wunderbare Projekte: Der Musiker Pippo Pollina kommt an unsere Schule, der glarner Künstler Marco Russo wird unsere Mauer im Frühling gestalten, Esel kommen auf unseren Pausenplatz und werden mit den Kindern arbeiten.

Zudem freue ich mich auf all die kleinen und grossen Geschichten, die ich noch nicht kenne, mir aber aus dem Schulalltag zugetragen werden: von Schlüsselmomenten von Kindern, Lehrpersonen und Eltern.

INFOBOX

Educationsuisse ist der Dachverband der 17 vom Bund anerkannten Schweizerschulen im Ausland. In 10 Ländern auf 3 Kontinenten bieten diese Schulen eine hochwertige Ausbildung nach Schweizer Lehrplan. Dabei vermitteln sie nicht nur Wissen, sondern auch Schweizer Werte und stärken die internationale Vernetzung der Schweiz. Neben der hohen Bildungsqualität fördert Educationsuisse aktiv den Austausch und die Vernetzung zwischen den Schweizerschulen im Ausland.

Darüber hinaus berät und unterstützt Educationsuisse junge Auslandschweizer:innen und Absolvent:innen von Schweizerschulen im Ausland zum Thema Ausbildung in der Schweiz.
So tragen die Schweizerschulen Schweizer Bildungsqualität, Kultur und Verbundenheit in die Welt hinaus.

Lesen Sie auch das erste Interview mit Niels Anderegg und Rita Sauter.

Zu den Autor:innen

Rita Sauter war während 12 Jahren Schulleiterin an der Schule Hedingen. Seit dem 1. August leitet sie die Schweizer Schule in Bergamo. Sie ist ausgebildete Primarlehrerin, Heilpädagogin und Schulleiterin.

Niels Anderegg leitet das Zentrum Management und Leadership an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Leadership for Learning, Teacher Leadership und Professionalisierung von Führungspersonen von und in Bildungsorganisationen.

Rita Sauter und Niels Anderegg leben seit vielen Jahren als Paar zusammen.

Redaktion: Melina Maerten
Bilder: Scuola Svizzera

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