Professorin Katharina Maag Merki

Schulen in Zeiten der Covid-19-Pandemie – ein Hangeln von Notlösung zu Notlösung oder gezielte Schulentwicklung?

Katharina Maag Merki, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich, teilt mit uns ihre Wahrnehmung und Erfahrung, wie Schulen mit der Ausnahmesituation während des Coronavirus umgingen und noch umgehen und untersucht, welchen Einfluss eine solche herausfordernde Ausnahmesituation für die Schulentwicklung hat. Niels Anderegg hat Maag Merki dazu im folgenden Interview befragt.

Katharina Maag Merki, Sie setzen sich seit vielen Jahren mit dem Thema Schulentwicklung auseinander. Welche Fragen stellen Sie sich, wenn Sie an die letzten Monate im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie denken?

Die Weiterentwicklung der eigenen Schule, des Unterrichts und der Fähigkeiten der Lehr- und Fachpersonen sind alltägliche Geschäfte einer Schule. Die Auslöser zur Qualitätsentwicklung sind vielfältig: Der eigene Wunsch, sich zu verbessern, die Notwendigkeit, besser zu werden, weil andere die Arbeit an der Qualität der Schule einfordern, die Einführung eines neuen Lehrplans, Rückmeldungen von Schulbehörden, Nachfragen von Eltern und – vor allem – wenn es im Unterricht nicht wie gewünscht läuft und die Schülerinnen und Schüler die Lernziele nicht zur Zufriedenheit erreichen. Es sind also kleine und grosse Herausforderungen, schulintern oder schulextern wahrgenommen und angenommen, die Motor für die Qualitätsentwicklung in der Schule sind.

Und die Covid-19-Pandemie? Eine Herausforderung war sie mit Sicherheit für alle Schulen. Aber welche Herausforderungen haben sich den Schulen tatsächlich gestellt? Haben alle Schulen die gleichen Herausforderungen wahrgenommen? Und welche Ansätze oder Strategien haben zur Bewältigung der Herausforderungen beigetragen? War es ein Hangeln von Notlösung zu Notlösung oder wird es im Laufe der Covid-19-Pandemie möglich sein, Schulentwicklungsprozesse gezielt anzustossen und die Arbeit an der Qualität der schulischen Prozesse weiterzuentwickeln?

Aber es könnte ja auch sein, dass die Covid-19-Pandemie eine zu grosse Irritation des Systems Schule darstellt, um nachhaltige Veränderungen zu realisieren. Wenn die Pandemie eines Tages eingedämmt ist: Gehen die Schulen dann zurück zum Bisherigen, zum business as usual?

Was nehmen Sie wahr: Welche Herausforderungen haben sich den Schulen gestellt? Und wie sind sie damit umgegangen?

Die Covid-19-Pandemie wird alle Schulen in irgendeiner Weise auf dem falschen Fuss erwischt haben – es hat aber sicherlich Unterschiede gegeben. Die Zeit, die den Schulen vor dem Lockdown am 16. März 2020 dafür zur Verfügung stand, die eigene Schule auf den Fernunterricht vorzubereiten, war bestimmt ein wichtiger Faktor. Weitere Punkte waren, ob alle Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler bereits mit Computern und Laptops ausgerüstet waren, eine Lernplattform implementiert war oder sämtliche E-Mail-Adressen der Eltern vorlagen.

Wenn eine Schule in diesen Bereichen vorbereitet war, konnte sie sich schneller um das Wesentliche kümmern, nämlich darum, wie denn Unterricht aus Distanz aussehen sollte, was gute Lernaufgaben sind und wie sichergestellt werden kann, dass sich alle Schülerinnen und Schüler jeden Tag mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen können – auch jene, deren Eltern nicht in der Lage sind, beim Lernen zu helfen.

Hier zählt mit Sicherheit das, was wir als Schulentwicklungskapazität bezeichnen. Schulen, die Routinen und Strategien zur Verfügung haben im Austausch miteinander, in der Analyse von Problemen und im Finden von Lösungen. Diese Kapazitäten sind wie Ressourcen, die helfen, grosse Herausforderung wie Schulschliessungen und Wiedereröffnungen unter gesundheitlichen Risiken so gut wie möglich zu bewältigen.

Welche Rollen spielen denn die Regelungen und Vorgaben der Behörden? Die Kantone sind teilweise unterschiedlich vorgegangen. 

Das ist richtig. Es stellt sich schon die Frage, ob diese Unterschiede einen Einfluss auf die konkrete Praxis der Schulen haben. Die Behörden mussten innert kürzester Zeit gesetzliche Grundlagen schaffen und festlegen, was Vorgaben waren, in welchen Bereichen die Schulen Spielräume hatten und was die Kantone an Unterstützung bieten konnten. Die rasche Klärung dieser Punkte hat vermutlich viel dazu beigetragen, dass zumindest die ersten Tage und Wochen einigermassen gut über die Bühne gingen. Im anderen Fall war die Unsicherheit in den Schulen wohl so gross, dass zunächst gar nichts umgesetzt werden konnte und einzelne Lehrpersonen während der ersten Tage mehr oder weniger «von der Bildoberfläche verschwanden».

Aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir in unserer geplanten Studie «S-Clever. Schulentwicklung vor neuen Herausforderungen» nicht einfach alle, sondern gezielt Schulleitungen aus Kantonen befragen, die bei den Schulschliessungen und Wiedereröffnungen unterschiedlich vorgegangen sind. Konkret werden sich die Schulleitungen der allgemeinbildenden Schulen in den Kantonen Aargau, Thurgau, St. Gallen, Luzern und Zürich an der Studie beteiligen.

Dieses Forschungsprojekt ist eine trinationale Studie, die auch in Deutschland und Österreich durchgeführt wird. Damit wird es noch besser möglich sein, Unterschiede in den Regelungen herauszuarbeiten und ihren Einfluss auf die Entwicklung der Schulen zu untersuchen. Dank der Heterogenität der teilnehmenden Kantone und Länder können wir über den eigenen Tellerrand hinausschauen.

Sie möchten in der Studie genauer untersuchen, in welchem Zusammenhang die Covid-19-Pandemie mit Schulentwicklung steht. Wofür steht eigentlich S-Clever?

Es ist eine Herausforderung, in der jetzigen Zeit Schulentwicklungsprozesse gezielt anzugehen, da die verschiedenen Einflüsse schwer einzuschätzen sind. Und dennoch haben viele Schulen sehr gute Ansätze realisieren können. Wir möchten daher einen Austausch zwischen Forschung und Praxis im Zusammenhang mit ganz realen kleineren und grösseren Schulentwicklungsansätzen ins Zentrum rücken.

Wir interessieren uns für die konkrete Schulentwicklung in den einzelnen Schulen und das gemeinsame, clevere und vorausschauende Entwickeln von Handlungsansätzen mit den Schulleitungen, Lehrpersonen und Schulbehörden. Das „S“ in S-Clever steht für viele der fokussierten Beteiligten und Bereiche: für Schulentwicklung, Schülerinnen und Schüler, Schule, Schulteams, Schulleiterinnen und Schuleiter, Schulbehörden und System.

Wer wird befragt?

In einem ersten Schritt werden die Schulleiterinnen und Schulleiter befragt. Die erste Erhebung startet im September 2020, die zweite folgt im Februar/März 2021 und die dritte im Mai/Juni 2021. Da wir daran interessiert sind, zu erfahren, wie Schulen mit den aktuellen Herausforderungen im laufenden Schuljahr 2020/2021 umgehen und Schulentwicklung kein Eintagesgeschäft ist, ist es wichtig, die Schulen nicht nur einmal zu befragen. Bei Interesse der Schulen möchten wir gegen Ende des Schuljahres auch die Lehrpersonen miteinbeziehen und später wenn möglich die Kinder.

Forschung und Praxis sollen sich treffen. Was haben Sie konkret geplant und wie profitieren die Schulen von der Studie?

Es ist uns wichtig, dass unsere Studie einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Schulen und des Bildungssystems leistet, nicht im Elfenbeinturm realisiert wird und entsprechend an den Realitäten vor Ort vorbei zielt. Wir arbeiten daher an allen Stellen der Studie eng mit Personen in der Praxis zusammen:

  • Bei der Erstellung des Fragebogens haben wir die Fragen laufend mit Schulleitungen und Lehrpersonen diskutiert, um sicherzustellen, dass die Fragen praxisrelevant sind.
  • Alle Schulleitungen werden individuelle Rückmeldungen zu ihrer Schule mit Hinweisen auf Best-Practice-Beispiele erhalten. Diese können sie dann für ihre eigenen Schulentwicklungsprozesse nutzen.
  • Wir organisieren Regionalworkshops, um die Ergebnisse und cleveren Lösungsansätze auf Schul- und Unterrichtsebene in einem direkten Austausch mit Schulleiterinnen und Schulleiter und Vertreterinnen und Vertreter von Bildungspolitik und -administration zu diskutieren. Und bei ausreichender Datenbasis stellen wir den Kantonen und Verbänden neben einem Gesamtbericht einen eigenen Bericht zur Verfügung, über den wir uns gerne mit ihnen austauschen.

Damit sollte es möglich sein, in Zukunft für weitere Herausforderungen, die sich im Bildungswesen stellen werden, noch besser aufgestellt zu sein. Zu Beginn der Pandemie waren viele wohl dazu gezwungen, aufgrund einer aussergewöhnlichen Lage aussergewöhnliche, allenfalls auch intuitive Entscheidungen zu fällen. Es ist das Ziel der Studie, dass aufgrund der Ergebnisse einer späteren ähnlichen Situation bewusster entgegengetreten werden kann und dass nicht nur die Schulentwicklungskapazitäten der Schulen, sondern auch des gesamten Bildungssystems gestärkt werden können.

INFOBOX

Wenn sich viele Schulleiterinnen und Schuleiter an der Studie beteiligen, sind die Ergebnisse aussagekräftig. Damit kann auch einen Schub für die Schulentwicklung vor Ort und in der Schweiz ausgelöst werden, wie Katharina Maag Merki sagt. Für Fragen wenden Sie sich bitte an: Telefon 044 634 27 80 oder contact-ch@s-clever.org

Zum Autor

Niels Anderegg leitet an der PH Zürich das Zentrum Management und Leadership. In seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit befasst er sich mit dem Zusammenhang von Führung und Lernen. Er interessiert sich für die Frage, was eine «gute Schule» ist und was Führungspersonen dazu beitragen können. Unter anderem leitet er den Lehrgang «Pädagogische Schulführung» und «Schulführung und Inklusion».

Redaktion: Melina Maerten

Titelbild: zVg

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