In unserer Rubrik «5 Fragen an…» interviewt Schulleiter Pirmin Stadler den Co-Schulleiter Victor Steiner zu seinen Visionen und zur Definition von guten Schulleitungen. Der Stafetten-Stab wurde damit weitergereicht.
Victor, was ist deine Vision einer guten Schule? Und wie beschreibst du sie einem Kindergartenkind?
«Lieber Aaron, bald kommst du in die Schule. Du kannst dich darauf freuen. Du wirst ganz viele Möglichkeiten haben, zu spielen und Dinge zu lernen und zu tun, die dich interessieren. Du kannst dich zum Beispiel mit Pilzen beschäftigen, die dich so faszinieren und es gibt viele Bücher dazu. Wenn du willst, kannst du den ganzen Tag Pilze unter dem Mikroskop betrachten oder auch mal einen Nachmittag mit deinem Götti Pilze sammeln gehen, der sich sehr gut damit auskennt. Falls du welche findest, kannst du uns damit gerne ein Zmittag kochen. Wenn es die anderen der Gruppe auch interessiert, besuchen wir zusammen die Pilzfabrik im Nachbarsdorf. Solltest du einmal keine Idee haben und nicht wissen, was du tun möchtest, findest du bestimmt jemanden in der altersgemischten Gruppe, der etwas Spannendes macht. Da kannst du dich anschliessen oder etwas Eigenes daraus machen.»
Etwa in der Art würde ich meine Vision von Schule einem Kindergartenkind erklären – obwohl diese bei uns schon zu einem grossen Teil Realität ist. Im Vordergrund steht für mich, dass das Kind gerne zur Schule geht, Erfolg hat, sich gut aufgehoben fühlt und zu einem möglichst grossen Teil selbst bestimmen kann, womit es sich auseinandersetzen will. So ist es motiviert und erlebt Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit beim Lernen. Meine Aufgabe als Lehrperson verändert sich dadurch massiv. Unterrichtsvorbereitung wird zur Vorbereitung der Lernumgebung und dem möglich Machen von individuellen Projekten aller Art.
Wenn du selbst Schüler wärst an deiner Schule, was würdest du am meisten schätzen?
Obwohl ich in meiner eigenen Schulkarriere kaum grössere Probleme hatte, sehe ich aus der Retroperspektive, dass es hauptsächlich Fragen der Beurteilung waren, die mich unzufrieden machten. Es gab, vor allem an der Kantonsschule, mehrere Situationen, in denen ich absolut unglücklich über die Beurteilung meiner Lehrpersonen war. Es ging dabei um grössere Arbeiten, um eine Abhandlung über Siddharta von Hermann Hesse beispielsweise oder um die Bedeutung zivilen Ungehorsams, in die ich viel Zeit investierte und persönlich extrem spannend fand. Diese Auseinandersetzungen liessen mich reifer werden und eröffneten mir neue Zugänge zu zentralen Fragen des Lebens.
Eine Note um knapp genügend herum war dann eine herbe Enttäuschung. Zum Glück kam ich nicht zum Schluss, an meinen Fähigkeiten zu zweifeln. Ich zweifelte vielmehr das Beurteilungssystem, die Fähigkeit des Lehrers zu beurteilen und die Schule im Allgemeinen an.
Dies würde mir an der Grundacher Schule nicht passieren. Beurteilungen finden auf Wunsch der Schüler:innen statt. Dabei sind die Lernbegleiter:innen eng am Lernprozess dran und können so persönliche Fortschritte gut einschätzen. Beurteilung soll möglichst keine selektive Aufgabe haben, sondern eine Hilfestellung zur Selbsteinschätzung, ein Wegweiser für die kommende Arbeit und eine Motivationsspritze sein.
Wie antwortest du in einem Satz auf diese Fragen:
- Was macht eine gute Lehrperson aus?
Eine gute Lehrperson (bei uns Lernbegleiterinnen und Lernbergleitern) zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nicht ins Zentrum stellt, weiss, was ein/e Schüler:in in einer bestimmten Situation von ihr braucht, und so das Lernen unterstützt und nicht nur verwaltet oder gar behindert.- Was macht eine gute Schulleitung aus?
Eine gute Schulleitung führt eine Schule als Ganzes in eine Richtung, die den Schüler:innen aber auch den anderen Beteiligten zugutekommt, ohne dabei den Auftrag der Schule und die Erkenntnisse der Forschung in Bezug auf das Lernen und die Entwicklungspsychologie aus den Augen zu verlieren. (Puh, das war jetzt ein langer Satz.)
- Worauf bist du stolz an deiner Schule?
Wir haben sowohl gute Lehrpersonen wie auch eine gute Schulleitung (lacht) und die Kinder der Grundacher Schule betonen immer wieder, wie gerne sie zur Schule kommen!
- Was macht eine gute Schulleitung aus?
Schulentwicklung und Scheitern gehören aus meiner Sicht zusammen. Würdest du eine solche Geschichte teilen und was du daraus gelernt hast?
Scheitergeschichten gibt es bei uns sicher zuhauf. Nur würde ich sie nicht unbedingt so nennen, eher vielleicht Entwicklungsgeschichten. Ohne das Scheitern wäre die nachfolgende Entwicklung nicht möglich.
Die Geschichten, die mir am nächsten gehen, sind diejenigen, die mit individuellen Geschichten einzelner Schüler:innen zu tun haben. Mir kommt da ein Junge in den Sinn, den wir als Quereinsteiger in die Mittelstufe aufgenommen hatten, weil er in der bisherigen Klasse nicht mehr tragbar war. Sein Verhalten überforderte alle Beteiligten massiv. Er wollte nicht ausführen, was jemand anderes von ihm verlangte und verhielt sich dann sehr störend. Er war clever, hatte viele Ideen und war im Kern ein liebenswürdiger Mensch. Zu Beginn schien es bei uns gut zu funktionieren. Er erfand Gesellschaftsspiele am Laufmeter und beglückte damit viele andere Kinder. Dass er die Regeln andauernd nach seinem Gusto anpasste, schien die anderen nicht zu stören.
Schliesslich gab es aber auch bei uns gemeinsame Aktivitäten und Momente, in denen es galt, ein übergeordnetes Ziel als Gruppe oder als Schule zu erreichen. Nach einigen Monaten fingen dann die Verhaltensauffälligkeiten wieder an. Trotz etlichen Gesprächen, verschiedenen Massnahmen und viel Geduld überstieg der Junge unsere Grenzen. Dies, obwohl in unserer Vision das Wohlbefinden und das personalisierte Lernen einen sehr hohen Stellenwert haben. Nach ca. eineinhalb Jahren führte sein Verhalten zu einer Heimeinweisung. – Ziel leider nicht erreicht – eigene Grenzen aber deutlich erfahren. Seither versuchen wir, bei Quereinsteigern noch genauer hinzusehen, bevor wir jemanden aufnehmen.
Wenn du in die Zukunft schaust, welche Fragen beschäftigen dich als Schulleiter?
Als Schulleiter einer kleinen Privatschule sind die Finanzen ein Dauerbrenner. Einerseits möchten wir unsere «Traumschule» umsetzen, andererseits brauchen wir dafür auch Kunden. Es zeigt sich, dass wir durch eine klare Profilierung auch Familien finden, die unser Angebot nutzen wollen. Trotzdem ist das immer wieder eine Herausforderung. Zieht eine Familie weg, hat das für uns gleich spürbare finanzielle Auswirkungen. Neben diesem Aspekt sehe ich zwei zentrale Punkte.
Der Erste betrifft die Schulentwicklung, was viel interessanter ist, als die Auseinandersetzung mit den Finanzen. Auch dies ist ein Dauerprozess, den wir als Schulleitung und als Gesamtteam konstant verfolgen. Dabei ist eine der immer wiederkehrenden Fragen, wie viel Freiheit wir zulassen wollen und wie viel Einschränkungen wir machen. Vieles dreht sich um diesen Balanceakt. Damit verbunden ist es uns ein zentrales Anliegen, unsere Schüler:innen in den Future Skills (was für ein grosses Wort!) zu bilden. Die Art und Weise des Lernens an den Schulen verändert sich gerade grundlegend: weg von der Schule als Wissensabfüllanlage hin zu einer des vernetzten Denkens, der Kollaboration und der Kreativität im Lösen von Problemstellungen. Dass die digitale Kultur dabei ein wertvolles Hilfsmittel ist, versteht sich von selbst.
Der Zweite stellt sich bei uns als unternehmerische Frage. In gut zehn Jahren bin ich pensioniert. Wer wird die Schule weiterführen? Dazu ist es wichtig, dass der Betrieb auf soliden Füssen steht. Damit meine ich finanziell, aber nicht nur. Genauso wichtig ist der Ruf der Schule in der Bevölkerung. Gute Beziehungen zu den Behörden und den anderen Schulen in unserem Umfeld, abnehmende Schulen und Ausbildner, die Grundi-Abgänger zu schätzen wissen.
INFOBOX Im letzten Beitrag in der Rubrik 5 Fragen an wurde Schulleiter Pirmin Stadler vom Schulleiter Thomas Walker über den Einsatz von digitalen Geräten im Unterricht interviewt.
Zur Person
Victor Steiner ist Co-Schulleiter der Grundacher Schule in Sarnen. Er ist Mitbegründer der privaten Tagesschule und war massgeblich am Ausbau bis zur 9. Klasse beteiligt. Vorher war er Klassenlehrer auf allen Stufen der Volkschule. Neben seiner Leitungs- und Begleitfunktion im Schulalltag gibt er auch Weiterbildungen in den Bereichen Altersdurchmischtes Lernen (AdL), personalisiertes Lernen und Arbeit mit Kompetenzrastern.
Zum Autor
Pirmin Stadler ist Schulleiter an der Kreisschule Urner Oberland, unterrichtet Medien und Informatik (M+I) auf der Oberstufe und bildet M+I-Lehrpersonen im Kanton Uri aus. Er setzt sich für eine zeitgemässe Schule ein.
Redaktion: Melina Maerten
Titelbild: zVg
Danke, Victor, für die spannenden Einblicke in eure Schule, welche ich sehr schätze. Aus deinen Antworten kann man herauslesen, wie wichtig die Schulleitung – neben den Lehrer:innen – bei der Gestaltung einer pädagogisch wertvollen Schule ist.
Herzliche Grüsse Niels
PS: Nach drei Männer würde ich mich freuen, wenn du als nächstes eine Schulleiterin interviewen würdest 🙂
Hallo Nils
Danke für deine Rückmeldung. Ich denke, eine Schulleitung ist tatsächlich sehr wichtig. Alleine kann sie allerdings nicht auf den Weg gehen – und darin liegt vermutlich die zentralste (und schwierigste?) Aufgabe: wie kriegt sie alle Lehrer:innen ins gleiche Boot?
Mit der Schulleiterin musst du noch etwas Geduld haben. Es kommt bestimmt bald eine. Nicht aber sofort.
Lieber Gruss
Victor