Niels Anderegg genoss es anfangs April endlich wieder einmal an eine Tagung zu reisen und vor einem Publikum zu sprechen. In seinem Tagebuch-Blog erzählt er von seinen Erfahrungen an der österreichischen Bundeskonferenz zur Begabungsförderung in Kärnten und warum er solche Tagungen während der Corona-Pandemie vermisst hat.
Dienstag, 5. April 2022
Seit langer Zeit steige ich zum ersten Mal wieder in einen Nachtzug ein. Nach einem intensiven Arbeitstag geniesse ich es, vor der Abfahrt mit einem Kollegen ein Bier zu trinken und dann anschliessend Richtung Kärnten zu fahren.
Auch wenn das Schlafen im Nachtzug nicht so komfortabel ist wie zu Hause, so geniesse ich die Fahrt dennoch. Während man bei einer Online-Tagung sich 5 Minuten vor Beginn einfach am Bildschirm einloggt, mache ich mich nun auf die Reise und werde nicht nur neue Inhalte, sondern auch mir bisher unbekannte Menschen treffen und einen neuen Ort kennenlernen.
Mittwoch, 7. April 2022
Die Reise mit dem Nachtzug hat den Vorteil, dass man bereits am Morgen ankommt und die Stadt beim Erwachen erlebt. Ich geniesse meine erste Melange mit Croissant in einem kleinen Kaffee und mache mich dann auf den Weg zum Stift St. Georgen, wo die Tagung stattfinden wird. Heute stehen einzelne Sitzungen, welche ich online aus dem Klostergarten machen kann, und letzte Absprachen mit den Organisatorinnen auf dem Programm. Nachher nehme ich mir Zeit für einen Spaziergang um den Längsee.
Gegen Abend treffe ich andere Teilnehmende, welche aus ganz Österreich angereist sind und es bietet sich die Gelegenheit, bei einem Glas Wein und Sonnenuntergang sich kennenzulernen sowie erste Fachgespräche zu führen.
Donnerstag, 8. April 2022
Es geht los! Die Freude aller Beteiligten, endlich wieder Tagungen in Präsenz durchzuführen, ist im Raum förmlich zu spüren. Schon folgt der erste Höhepunkt: «The Blue Elephants» eröffnen die Tagung mit Musik. Das ist eine Gruppe von vier Studierende der PH Kärnten. Beim Zuhören wird mir wieder einmal bewusst, welches Glück es für die Schule ist, wenn solche Personen Lehrer:innen werden. Die Sorgen des Alltags sind weit weg und ich kann es kaum abwarten, mich zwei Tage lang in Fragen von begabungsfördernden Schulen sowie deren Entwicklung und Führung zu vertiefen.
Der erste Referent ist Jan Kwietniewski aus Hamburg. Er stellt ein Modell vor, welches an Hamburger Schulen zur (Weiter)entwicklung von begabungsfördernden Schulen eingesetzt wird. Das Modell besteht aus den fünf Handlungsfelder. Das Modell ist sehr praxisnahe und es gibt eine hilfreiche Broschüre dazu. Auf einmal taucht meine ‘alte’ Schule auf einer Folie von Kwietniewski auf. Schnell muss ich ein Foto machen und der jetzigen Schulleiterin schicken. Rottenschwil goes international!
Das Referat war für mich sehr anregend und ich finde es spannend, nicht nur die Referate anzuhören, sondern dass ich mich mit ihm zwei Tage lang austauschen kann. Die Rektorin der PH Kärnten, Marlies Krainz-Dürr, verweist bei ihrer Eröffnungsrede auf die Wichtigkeit des Dazwischen bei Tagungen. Wie recht sie hat! Wie machen Sie das in Hamburg? Wie in Österreich? Wie gehen Sie in solchen Situationen um?
Im zweiten Vortrag geht es um die Frage, wie von der Politik her Begabungsförderung an Schulen gestärkt werden kann. Claudia Resch vom österreichischen Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung zeigt auf, wie ausgehend von der Bundesregierung über die verschiedenen Ämter und Dienststellen das Thema Begabungsförderung in den Schulen gestärkt werden soll.
Im Zentrum der Diskussion steht unter anderen die Frage nach Top Down oder Bottom Up. Ich bin wieder einmal gestärkt in meinem Verständnis, dass die beiden Begriffe wenig hilfreich sind und wir stärker in Netzwerken denken müssen. Anregend ist für mich auch der Hinweis, dass man die pädagogische Schulführung eben nicht ohne die Verwaltung und Politik führen kann. Für die Zeitschrift «Lernende Schule» konnte ich dazu kürzlich ein Gespräch mit James Spillane führen. In diesem plädierte er dafür, dass alle Ebenen miteinbezogen werden müssen, wenn man die pädagogische Schulführung ernst nimmt. Der Vortrag von Claudia bestärkt mich in diesem Gedanken.
In zwei Workshops erhalte ich Einblicke über verschiedene Praxisbeispiele aus Österreich. Die bildungspolitische Steuerung in Österreich ist deutlich anders als in der Schweiz und die Schulleitungen – in Österreich redet man von den Direktorinnen und Direktoren – haben andere Kompetenzen. Gerade aus dieser Unterschiedlichkeit kann ich vieles mitnehmen, was für uns in der Schweiz spannend ist. Die Lehrgänge an den Pädagogischen Hochschulen beispielsweise sind für die Teilnehmenden gratis. Dadurch haben es die Schulleitungen leichter, Personen für diese zu motivieren und anzumelden. Wenn die Schulleitung dies jedoch nicht gezielt tut und die Personen dann auch entsprechend im Sinne von Teacher Leadership einsetzt, dann ist der Besuch wenig wirkungsvoll. So gibt es auch in Österreich Lehrer:innen, welche Lehrgänge aus Begeisterung besuchen und niemand sich dafür interessiert. Oder sie besuchen die Lehrgänge, weil jemand von der Schule dies muss und die Person gerade freie Kapazität hat. Teacher Leadership ist gefragt.
Am Abend findet eine kleine, feine Veranstaltung statt. Eine Maturandin singt verschiedene Lieder und eine Dozentin der Hochschule liest dazu kurze Geschichten vor. Ein wunderbar sinnlicher Abschluss eines intensiven Tages.
Freitag, 9. April 2022
Ich habe die Ehre, den zweiten Tagungstag mit meinem Referat zu starten. Ich spreche darüber, wie Führung an Schulen organisiert sein muss, damit sie sich hin zu begabungsfördernden Schulen entwickeln können. Wichtig ist mir, dass dabei die Begabungsförderung nicht das einzige Thema einer Schule ist, sondern diese mit den anderen Themen verknüpft werden. Schliesslich muss jede Schule eine begabungsfördernde sein. Oder gibt es welche, die nicht die Begabungen aller Schüler:innen fördern wollen? Das Thema Teacher Leadership verknüpfe ich mit dem der Begabungsförderung und argumentiere, dass sie nicht bei den Schüler:innen aufhört, sondern auch die Lehrer:innen, die Schulleitung und das ganze Bildungssystem miteinschliessen muss.
Während des Vortrags wird mir wieder bewusst, welcher Unterschied es ist, ob man vor einem Publikum steht oder in einen Bildschirm hineinredet. Beim Vortrag nehme ich die Reaktionen des Publikums wahr, kann darauf eingehen und es entsteht wie eine Gemeinschaft.
Anschliessend leite ich noch zwei Workshops zu meinem Vortrag. Ich habe diese bewusst so gestaltet, weil es dadurch einen intensiven Austausch unter den Teilnehmenden ergibt, von dem ich genauso viel profitieren kann.
Die beiden Tage sind wie im Fluge vorbeigegangen. Ich nehme wieder den Nachtzug. Bis dieser fährt, kann ich den Abend noch in Klagenfurt geniessen. Leider ist Stefan Brauckmann krank, sodass ich den Abend allein geniessen muss. Zum Glück hat er mir beim letzten Besuch in Klagenfurt die richtigen Restaurants und Bars gezeigt, sodass für mich gut gesorgt ist.
Wenn ich auf die Tagung zurückblicke, wird mir wieder einmal bewusst, dass der Besuch einer solchen nicht nur mit dem Inhalt zu tun hat. Das Dazwischen ist mindestens so wichtig: das Treffen und der Austausch mit anderen Personen, sich in einer anderen Umgebung zu bewegen, Kultur zu geniessen und – ja – auch das Geniessen. Bei einer Onlinetagung gibt es nämlich keinen Apéro!
INFOBOX Hat Ihnen mein Tagebucheintrag Lust gemacht, auch wieder einmal eine Tagung zu besuchen? Die nächste Möglichkeit bietet das Symposium Personalmanagement vom 20. Mai 2022. Dort gibt es interessante Vorträge, Workshops, das Treffen von Kolleginnen und Kollegen sowie einen Apéro. Bis am 15. Mai können Sie sich anmelden. Und wenn Sie Lust auf eine internationale Tagung haben, empfehlen wir Ihnen die ICSEI Konferenz. Enikö Zala-Mezö hat dazu einen Blogbeitrag geschrieben. Die nächste ICSEI findet vom 10.-13 Januar 2023 in Chile statt. Sicher werden auch einige Personen der PH Zürich daran teilnehmen. Wer sich für eine Teilnahme interessiert, kann sich gerne bei Niels Anderegg melden.
Zum Autor
Niels Anderegg leitet das Zentrum Management und Leadership an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Pädagogische Schulführung und Professionalisierung von Führungspersonen von und in Bildungsorganisationen.
Redaktion: Melina Maerten
Bilder: Niels Anderegg
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