Forschungstagebuch 1/3

Im Rahmen des Forschungsprojektes ‘Von den Besten lernen – Schulleitungshandeln an den Siegerschulen des Deutschen Schulpreises’ reist Niels Anderegg für drei Tage an eine Siegerschule des Deutschen Schulpreises nach Ostdeutschland. Jeden Tag berichtet er im Blog Schulführung.

Normalerweise reise ich jeweils am Vortag an, so dass ich am ersten Tag ausgeruht an die Schule gehen kann. Leider ist es dieses Mal nicht möglich. So nehme ich um 20 Uhr im Hauptbahnhof Zürich den Nachtzug in Richtung Berlin.

 

 

 

 

 

Das schöne am Nachtzug ist, dass man gleich mit einem Fläschchen Vino Spumante begrüsst wird. Und auch sonst ist es in meinem Zimmerlein gemütlich, so dass ich noch einen Fachartikel für das Forschungstreffen vom Montag lesen und dann bald tief und fest einschlafen kann.

Da ich umsteigen muss, werde ich schon um 5 Uhr geweckt. Immerhin mit einem Frühstück. Dann heisst es umsteigen und mit der S-Bahn in eine kleine Provinzstadt fahren, das Hotel suchen, den Koffer einstellen und ab an die Schule. Ich bin schon sehr gespannt was mich erwartet. Auch wenn ich bereits viel über die Schule gelesen habe, so ist die erste Begegnung an der Schule doch immer wieder überraschend. Michael Schratz spricht immer wieder davon, dass man sich in eine Schule ‘hineinspüren’ muss. Und genau so ist es auch heute wieder.

 

 

 

 

 

 

Als ich in der Schule ankomme überkommt mich wieder einmal das eigenartige Gefühl, dass man ‘Schule spürt’. Das mag nun, gerade in einem Bericht eines Forschers eigenartig klingen, aber ich mache immer wieder die Erfahrung, dass ich in ein Schulhaus hineinkomme und sogleich die Qualität dieser Schule fühlen kann. Und da geht schon das Forschen los. Was spricht mich an? Was macht diesen Ort besonders?

Mir fällt sogleich auf, dass Schülerinnen und Schüler überall am Arbeiten sind: Auf dem Gang, in kleinen Nischen und in den Schulzimmern, welche alle offene Türen haben. Hier wird mit einer Ernsthaftigkeit gearbeitet und gelernt, die spürbar ist. Dieser erste Eindruck wird sich im Verlauf des Tages weiter bestätigen und ich finde sowohl bei den Beobachtungen als auch in den Gesprächen mit dem Schulleiter und verschiedenen Personen immer wieder hinweise, warum dies an dieser Schule so ist. Und genau darum geht es mir in diesen drei Tagen: Ich möchte verstehen wie diese Schule ‘tickt’ und was die Schulleitung dafür macht.

 

 

 

 

 

Im Schulsekretariat treffe ich den Schulleiter zusammen mit den beiden Sekretärinnen und dem Hausmeister bei einem Kaffeeklatsch. Das Wort Beziehung wird während dem ganzen Tag immer wieder fallen. «Die wichtigste Aufgabe als Schulleiter ist es die Beziehungen zu den Menschen zu pflegen und zu gestalten». Auf dem Rundgang durch das Schulhaus spricht der Schulleiter immer wieder Schülerinnen oder Schüler an, murmelt dem einem zu, dass der Vortrag hervorragend war und sagt zum anderen, dass er dies toll gemacht habe. Auf meine Frage, ob er denn alle 450 Schülerinnen und Schüler kenne, schaut er mich nur erstaunt an. Später, im Verlaufe des Tages wird er zu Schulleitenden, welche auf Hospitation sind, sagen, dass er über den Unterricht und die Schülerinnen und Schüler wenig wisse, da seien die Lehrpersonen die Profis und die wissen ganz viel. 10 Minuten später, als eine der hospitierenden Schulleiterin von ihrer Beobachtung einer schwierigen Situation in einer Klasse berichtet, meint der Schulleiter: «Ach ja, Sie waren wohl in der 9b». Und berichtet dann, dass es dort momentan nicht so rund läuft und erzählt von den Gründen weshalb das momentan so ist und was sie dagegen unternehmen. Als ich ihn später darauf anspreche und meine, dass ich es ihm nicht abnehme, dass er nicht so viel über den Unterricht und die Schülerinnen und Schüler weiss, muss er schmunzeln. «Mir ist es wichtig, dass die Schulleitenden den Lehrpersonen vertrauen und ihnen die Möglichkeit geben auszuprobieren und ihr Ding zu machen». Hier kommt wieder die Beziehungsgestaltung ins Spiel. «Lehrpersonen und auch Schülerinnen und Schüler müssen die Möglichkeit haben ihre Ideen umzusetzen und auszuprobieren. Dazu brauchen sie mein Vertrauen und meine Wertschätzung. Die gebe ich ihnen durch mein Interesse und meine Präsenz». Der Schulleiter kontrolliert nicht, sondern ermutigt. Und er ist neugierig. Immer wieder fragt er Schülerinnen und Schüler, welche irgendwo am Arbeiten sind, was sie gerade tun. Er lässt es sich erklären und ist begeistert. Am Ende des Tages meint er bedauernd, dass er so gerne an allen Präsentationen der Projektarbeiten der Schülerinnen und Schüler dabei sein möchte. Aber das sei unmöglich. Ein Projekt hat es ihm dann jedoch so angetan, dass er versucht seine Termine so zu schieben, dass er an dieser Präsentation dabei sein kann. Dieses Team (der Projektunterricht an dieser Schule findet immer in Teams statt) geht der Frage nach, in wie weit die momentane Regierungsbildung in Deutschland mit der Situation der Weimarer Republik verglichen werden kann. «Auf diese Fragestellung muss man doch zuerst einmal kommen. Und das von Schülerinnen und Schüler die mitten in der Pubertät stecken und alle sagen, dass sie keinen Bock auf Lernen haben». Wie war das mit dem ersten Eindruck: Die Ernsthaftigkeit mit welcher hier gearbeitet wird.

Am Ende des Tages habe ich über 10 Seiten Beobachtungen in mein Forschungstagbuch getippt und das erste Interview mit dem Schulleiter geführt. Mit vielen Eindrücken und neuen Fragen und Hinweisen verlasse ich die Schule und gehe ins Hotel. Dort gehe ich nochmals meine Notizen durch und schreibe mir Stichworte, Eindrücke und Fragen auf. Ich bin schon gespannt auf den nächsten Tag. Ich werde um 7 Uhr einen Lehrer treffen und ihn und seine Klasse dann durch den Morgen begleiten. Ich freue mich darauf.

Nach der Nacht im Schlafwagen freue mich nun auf mein Hotelbett. Zuerst muss nun jedoch noch die Mailflut aus dem Büro bearbeitet werden. Auch als Forscher ist man immer noch ein Stück mit dem Büroalltag verbunden.

Niels Anderegg, Zentrumsleiter Management und Leadership PH Zürich