Schule ist einerseits ein Ort der Kontinuität und des Bewahrens, andererseits muss sie den gesellschaftlichen Wandel aufnehmen und sich entsprechend verändern. In diesem Spannungsfeld sind Führungskräfte gefordert, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die Theorie U ist ein praxisorientiertes Modell, um aus einer entstehenden Zukunft heraus zu führen und Veränderungen dort zu initiieren, wo sie sinnvoll und notwendig sind. Samuel Hug war am Seminar «Theorie U: Von der Selbstführung zur Systemführung» der PH Zürich dabei und teilt mit uns seine Erkenntnisse.
«Ich glaube, Noten abschaffen, ist keine gute Idee, und ich glaube, Noten sind höchst problematisch, beides», sagt der Bildungsexperte Roland Reichenbach in der Sternstunde Philosophie vom 2. Juni 2024. Wie gehen wir mit solchen Paradoxien um?
Der deutsche MIT-Forscher (Massachusetts Institute of Technology) und Berater Otto Scharmer beschreibt drei Entwicklungsstufen in der Bildung, die er in den letzten Jahrzehnten beobachtet hat. Diese Entwicklung geht vom «Teaching for Testing» über das «Student-Centric Learning» hin zum «Whole Person/Whole System Learning» (oder auch Flourishing Head, Heart, Hand).[1] Am Beispiel «Schule ohne Noten» werden die unterschiedlichen Haltungen der drei Stufen im Bildungsumfeld sichtbar, die derzeit kontrovers diskutiert werden. Insbesondere beim Übergang in ein «Whole Person/Whole System Learning» wird deutlich, dass neue Formen des Denkens und Handelns zu etablieren sind, die sich nicht einfach aus bestehenden Narrativen und Mustern ableiten lassen.
Die eigene Echokammer verlassen
«Das Alte trägt nicht mehr, das Neue ist noch nicht in Sicht»[2] ist man mit Blick auf das Bildungssystem geneigt zu sagen. Doch wie können zukunftsfähige Lösungen entwickelt werden, wenn wir noch gar nicht genau wissen, wohin die Reise gehen soll?
Hier ist ein Umdenken erforderlich, nicht zuletzt bei den Führungskräften. Doch knappe Zeitressourcen, täglicher Leistungsdruck und lange To-do-Listen zwingen zu effizientem und lösungsorientiertem Arbeiten. Es fällt schwer, aus der eigenen Echokammer von Verhaltens- und Denkmustern auszubrechen. Nicht zuletzt darum geht es in der «Theorie U»[3] von Otto Scharmer – ein systemischer Ansatz, um auf persönlicher, aber auch auf organisationaler Ebene zu einer erweiterten und achtsamen Wahrnehmung von innen und aussen zu gelangen. Auf mentaler Ebene allein kann dies nicht gelingen.

Bei der Theorie U geht es darum, Potenziale und Zukunftschancen zu erkennen und sich auf das sogenannte «Unknown Field» einzulassen. «Open Mind, Open Heart und Open Will» lautet das Credo bei Scharmer. Im Presencing (aus «Presence» und «Sensing») wird ein Zugang zu den eigenen mentalen, emotionalen und körperlichen Ressourcen ermöglicht und darauf aufbauend ein Gestaltungsprozess für neue Lösungen und Wege initiiert und sichtbar gemacht. «Dieser Prozess: Wahrnehmen, inneres Wissen, Ausprobieren, funktioniert nur dann, wenn es uns gelingt, den inneren Ort, aus dem wir handeln, zu verändern.»[4] umschreiben die beiden Pädagogen Wilfried Schley und Michael Schratz den Prozess der Theorie U.
Ins «U» eintauchen
Neunzehn Schulleiter:innen sowie Führungskräfte aus Bildungsorganisationen trafen sich Ende Mai auf Schloss Au zum Seminar «Theorie U: Von der Selbstführung zur Systemführung», welches von Franziska Kamm und Simone Inversini geleitet wurde. Geprägt vom anspruchsvollen Alltag waren die Teilnehmenden bereit, innezuhalten und einen Schritt aus dem täglichen Hamsterrad zu wagen. Ziel des Seminars war es, aus der eigenen Rolle heraus in die Tiefen des «U» einzutauchen und den Prozess persönlich zu durchlaufen.
In einer Standortbestimmung liessen sich die Teilnehmenden zunächst darauf ein, sich in die verschiedenen Situationen des eigenen Organisationskontextes hineinzuversetzen. Dieser Perspektivwechsel hilft, die eigene Rolle mit neuen Augen zu sehen. Ein weiterer Schritt ist das aufmerksame Zuhören. Gerade die Praxis im Alltag zeigt immer wieder, wie wir nur zuhören, um das Gegenüber mit den eigenen Argumenten zu erschlagen oder im Feedbackmodus alles auseinanderzunehmen, was uns zugetragen wird. Die Übungen zeigen, wie wertvoll schöpferisches Zuhören sein kann und wie sich im Dialog neue Einsichten eröffnen können.
Um auf den Boden des «U» beziehungsweise in den Zustand des Presencing zu gelangen, bedarf es eines Loslassens des Gelernten – einer Verbindung mit der Quelle, aus der sich das innere Wissen offenbaren kann. Dies wird mit der Übung Journaling vertieft, in der die eigene Rolle reflektiert wird. Dabei zeigt sich, dass ein vollständiger Modus des Presencing nicht nur auf der mentalen Ebene erlebt werden kann. Die emotionale und körperliche Präsenz muss mit einbezogen werden. Das mag für den einen oder anderen befremdlich klingen. Doch wie wertvoll die Körpersprache in ihrer Gesamtheit sein kann und wie viele Informationen sich aus inneren Bildern, Empfindungen und Emotionen erschliessen, überrascht. Neue Einsichten kristallisieren sich heraus, die vorher nicht erkennbar waren. Im besten Fall sind sie schon so konkret, dass sich daraus die Idee für einen konkreten Prototypen verdichtet. Bei der Arbeit mit Ton machen sich die Teilnehmenden daran, ihren Istzustand sichtbar zu machen. Daraus entwickeln sie ihre zukünftige gewünschte Situation – eine Art Prototyp aus Ton, der sich in der Zukunft manifestieren darf.
Im Seminar zeigt sich: Die Theorie U ist eine Möglichkeit für Führungspersonen, die Tür zu einem unbekannten Feld zu öffnen und daraus konkrete Handlungsszenarien abzuleiten. Oder um es in den Worten von Otto Scharmer zu sagen: «Leadership is about the capacity of the whole system to sense and actualize the future that wants to emerge»[5].
INFOBOX
Möchten Sie eine Weiterbildung zum Thema Theorie U besuchen? Dann empfiehlt die PH Zürich das Angebot für Führungspersonen im Bildungswesen am 16.5.2025: Theorie U: Von der Selbstführung zur Systemführung.
Auf Anfrage bietet die PH Zürich Workshops für Schulen an, welche individuell auf die Bedürfnisse des Leitungs- und Schulteams ausgerichtet werden können.
Quellennachweise
[1] Otto Scharmer im Rahmen eines Vortrags zum Thema «Leading from the Emerging Future» in Berlin, Juni 2023
[2] In Anlehnung an die Aussage des italienischen Schriftsteller Antonio Gramsci: «Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.»
[3] Theorie U – von der Zukunft her führen, C. Otto Scharmer, 2020, Carl-Auer-Systeme-Verlag
[4] Führen mit Präsenz und Empathie, Wilfried Schley/Michael Schratz, 2021, Beltz, S. 168
[5] Leading from the Emerging Future: From Ego-System to Eco-System Economies, C. Otto Scharmer, 2013, Berrett-Koehler Publishers
Zum Autor

Samuel Hug ist an der PH Zürich für Kommunikation und Marketing im Bereich Weiterbildung und Dienstleistungen zuständig. Er beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit den Themen der Achtsamkeit und der Theorie U.
Redaktion: Melina Maerten
Titelbild: Samuel Hug