Haare stutzen

Von Lisa Thwaini

Bevor wir ihre Gesichter pudern, rasieren wir den soeben Verstorbenen Backen, Kinn und Oberlippe. Es wäre würdelos, sie zuwuchern zu lassen wie alte Ruinen, sagen wir uns. Es war ihm immer wichtig, gepflegt auszusehen, er hätte auch jetzt darauf bestanden.

Gepflegt sein, heisst: nicht verwildern, nicht wie die anderen Tiere sein. Der Körper als Wildnis, die begärtnert werden muss. Das Fell als Dickicht, das gerodet gehört. Rasiere keine Achselhaare! Hör auf, deinen Bart zu modellieren! Kümmere dich nicht um spröde Enden! Entwirre keine Knoten!

Im Wald lebt ein Heiliger. Sein Haupthaar reicht ihm bis zu den Kniekehlen, sein Bart bedeckt seine Genitalien, so dass er sich vor Gott nicht schämen muss. Tagsüber betet er, nachts bettet er sich auf Moos und schläft ruhig, denn die Tiere des Waldes sind mit ihm.

«Wilder Mann», Illustration aus einem Nürnberger Schönbartbuch, ca. 1600 (Wikimedia Commons)

Fast vier Jahre dauerte es, bis ihr Haar richtig wuchs, bis man es endlich zu kleinen Zöpfchen flechten konnte. Die Kopfhaut spannt, doch sie findet sich wunderschön. Eine Fee mit Haaren aus Mond- und Sternenlicht.

Sie ist überzeugt, dass die Haare der Reichen besser aussehen. Besser, das heisst: gesünder, dichter, kräftiger. Sie benutzen dafür teure Wundermittel, die tatsächlich wirken. Haarmasken mit Extrakten aus Ginkgo und menschlicher Placenta. Oder sie spritzen sich Blut von Sportlern in die Kopfhaut, zur Verjüngung der Follikel.

Im Sonnenlicht sieht man den Schädel durch ihr schütteres Haar scheinen. Es ist fein wie Spinnfäden, löst sich fast auf unter den Blicken der Leute. Dünnes Haar, das heisst: Zerfall, Verlust der Lebenskraft. Es ist Zeichen der Sünde, auf die falschen, die billigen Wundermittel vertraut zu haben. Jene, die die Kopfhaut verätzen und das Haar brüchig machen – wie blöd kann man nur sein?!

Am Ende der Welt hält ein Cyborg Wache. Wenn ihre Maschinenaugen eine Bewegung in der Ferne erfassen, fokussieren sie scharf und zielgenau; nichts entgeht ihrem Blick. Auf ihrem metallenen Schädel spiegelt sich das Sternenlicht. Ein Schwarm Vögel jagt über sie hinweg und quietscht dabei wie rostige Scheren. 

Derweil träumt der Fleischteil ihres Gehirns von Hasen und Rehen, die zu ihren Füssen grasen.

Lisa Thwaini studiert an der PH Zürich und ist Tutorin im Schreibzentrum.

Normaler Sand lässt Zauberbäume wachsen

Von Semira Pfister

Letzthin erzählte mir mein 7-jähriges Gottenkind eine Geschichte. Die ging so: «Die Zuckerfee ist im Weltall und dann findet sie einen Asteroiden. Da waren viele Marsmännchen. Und dann machten sie mit einer Maschine ganz viele Süssigkeiten. Und jemand im Zirkus schlug ganz viele Räder und flog so ins Weltall. Wir hier unten müssen alle unseren Mund aufmachen, denn es fallen Süssigkeiten auf die Erde. Normaler Sand lässt Zauberbäume wachsen. Und jetzt pflücke ich einen Grashalm und es regnet Sand. Der Grashalm hat sich aufgelöst.»

© Bild: Gottenkind von Semira Pfister

Lass uns wieder Kinder sein
Lass uns träumen, uns verlieren an den Tag und nicht auf morgen warten
Lass uns Tränen lachen und weinen
Lass uns im Luftschloss leben und den Schlüssel wegschmeissen
Lass uns nicht nachdenken, sondern einfach tun
Lass uns einander die Meinung geigen, uns doof finden und wieder vertragen
Lass uns ins Weltall fliegen und Süssigkeiten regnen lassen
Lass uns im Kleinen Grosses sehen und Schönheit im Sand
Lass uns wieder die Kinder sein, die wir einst waren und noch immer sind
– irgendwie.

Ich frag mich, wann ich mein Kindsein gänzlich niederlegte. Gab es einen bestimmten Moment oder waren es viele? Edna St. Vincent Millay hatte schon recht, als sie sagte: «Kindheit ist nicht von Geburt bis dann und dann, und dann und dann ist das Kind gross und räumt Kindliches weg. Kindheit ist das Königreich, in dem niemand stirbt.» Warum nur wollen alle Kinder gross sein und dieses Königreich verlassen? Warum haben wir es je verlassen? Denn in diesem Königreich lässt normaler Sand Zauberbäume wachsen.

Semira Pfister ist PH-Studentin auf der Sek-I-Stufe

Brand

Von Lawrence Beriger

© Adrian Löffel

Mein Leben begann am Sonntagabend in der Nähe von Riazzino, TI. Einer dieser komischen Menschen hat mich ins Leben gerufen – wie unfair, dass es diese waren, die mich dann auch wieder auslöschen wollten! Doch Fairness, soviel steht fest, spielt in diesem schönsten aller Spiele nicht die geringste Rolle.

Der Spaziergänger rauchte in aller Ruhe eine Zigarette, genoss jeden einzelnen Zug. Ich konnte von meiner Spitzenposition aus sehen, wie er zufrieden an der Zigarette saugte und einfach im Moment lebte. Das fand ich schön, jedoch hat er die Glut einmal zu fest abgestossen, sodass ich mich aufteilte und nun leise schwelend auf dem Boden lag. Anfangs dachte ich, dass ich nun da verglühen werde, aber die Trockenheit des Bodens war so lecker, dass ich einfach zubeissen musste. Da ein dürrer Strohhalm und dort eine gestresste Tanne. Die sind die schmackhaftesten, denn die ätherischen Öle munden mir und sind leicht entzündlich. Was für die Menschen eine Windbö, ist für mich wortwörtlich ein Lebenshauch. Inzwischen hatte der nichtsahnende Spaziergänger die Zigarette fertig geraucht, und nun konnte ich mich auf das Festessen im trockenen Wald konzentrieren. Herrliche Bedingungen, die man doch nutzen muss: trockener Frühherbst. Laubblätter am Boden als Garnitur, Tannen und viel totes Holz. Ich frass mich also in aller Ruhe durch den Wald am steilen Hang und wurde immer voller, weshalb ich mehr Platz brauchte.

Dann hörte ich einen Helikopter, der am Lago Maggiore seinen Kessel füllte: man hatte mich entdeckt. In freier Wildbahn werden ich und meinesgleichen nicht gern gesehen. Ich hörte nun auch Sirenen näherkommen und so versuchte ich, himmelwärts zu gehen. Aber von oben kam der Helikopter und vor mir schlängelte sich einer meiner Feinde: der Bach. Für mich ein unüberwindbares Hindernis, wenn er breit genug ist. Der Helikopter bombardierte mich mit Wasser, die Soldaten schossen mit Schaum und Löscher und versuchten mich einzukreisen. Nach einem langen und anstrengenden Kampf liess ich sie gewinnen. Ich hatte meinen Spass gehabt, war gesättigt für eine längere Zeit.

Als die Feuerwehrleute mir immer näherkamen, säte ich meine Sprösslinge überlegt aus, sodass manchmal eine Stelle wieder zu brennen begann, während andere Brandherde erloschen. Ich nenne das scherzhaft Streiche, denn eigentlich gibt es für diese Ausleger kaum Chancen zu überleben, aber den Menschen wird dennoch mulmig zumute – ein herrliches Ablenkungsmanöver! Gegen Montagnachmittag war ich aber definitiv umzingelt und hatte nur noch ein bisschen Boden zur Verfügung, der mir schliesslich ganz entzogen wurde. Es war ein kurzes, aber schönes Wachsein.

Nun schlafe ich, bis ich wieder ins Leben gerufen werde.

Lawrence Beriger studiert an der PH Zürich und ist Tutor am Schreibzentrum

Sechsundzwanzigster Januar

Von Valérie Rust

© Foto: Valérie Rust

Es ist mein sechsundzwanzigster Januar und wohl der leichteste bisher. Die Wolken hängen nicht so tief und lassen dem Himmel Raum zum Atmen. Die tiefstehende Sonne taucht die karge Landschaft in warme Pastelltöne. Wenn ich meine Hand in ihre Strahlen halte, dann glaube ich wirklich daran – dass auch dieses Jahr dem Winter ein Frühling und dem Frühling ein Sommer folgt. Und dann schmerzt mich die Gewissheit weniger – über den Herbst nach dem Sommer und den Winter nach dem Herbst.

In meinem Zimmer ist gutes Wetter und manchmal gehe ich sogar freiwillig raus. Zwar treibt mir die Kälte auch dieses Jahr das Wasser in die Augen und das Rot in die Nasenspitze, aber es ist okay. Mein sechsundzwanzigster Januar ist okay.

Valérie Rust ist Student*in an der PH Zürich und Textildesigner*in

November-Hund

Von Peter Alexander Kaiser

©Peter A. Kaiser

Manchmal im November, wenn bleich mir der Nebel kommt, sitze ich trübe am Fenster.

Welchen Sinn macht es, frage mich, täglich neu Sinn zu behaupten? Wo doch: Rings frisst ihn die Welt – schneller als Deutsche Dogge Pizza.

Dummfug und Wirrsinn überrollen mich: Das Tier kriegt Diabetes. Der Arzt nennt es Zucker – vom Fett will nicht wissen. Gibt ihm Medikamente. Die hält es für Smarties. Geht vor den Hund, der Hund.

Menschen laufen zum falschen Gleis. Könnten gerade noch. Aber.

Kinder seh ich lachend rennen, schreien, schrammen und flennen.

Aus der Zeitung flattern faltrige Motten. Kobolde sind’s. Gespenster. Jage sie durch die Luft mit Besen. Treff ich – bloss: werden’s drei. Applaudieren eins dem andern und höhnen laut und frei.

Auf Knien – verzweifelt – raffe all die Dinge zusammen, die heruntergefallen sind. Mehr, denn je kann halten. Entgleiten mir immer neu.

Wenn nicht bald jemand, denke. Aber niemand. So klar in trüber Suppe seh gewiss.

Verstecken vielleicht? Endlos im weiten Weiss? Tauchen in die Herbstdämmerung? Ohne Zweck! Findet dich. Und dann.

Denn «wir gehen nicht unter in den Niederlagen, sondern in den Kämpfen, die wir nicht führen».

Seh’s, aber sehnt’, es nicht zu sehn. Ertrage zu tragen ohne Fragen – wozu, kann mir eh keiner sagen. Bloss: Wie lange, möcht wissen, muss noch das leichte Lichte ich missen?

Und wenn dann denk, keine Lust mehr hab, seh mich selbst: Schatten in weissen Schwaden. Moosfeuchter Finsterbaum. Hart noch, sich daran den Kopf zu stossen. Morsch genug, dereinst zu fallen.

Liegen dann im Schnee. Wie hinein in schon so manchen Frühling. Mit diesem aber zeitlos vergehn. Zwischen den ersten Blumen verwehn …

Und wenn jetzt grad so schön meinen Frieden gemacht hab, rufen sie von unten zum Essen und der Tisch ist noch nicht gedeckt und wo nicht sollte, liegt Zeug herum und es gibt unerledigte Dinge zu erledigen und schnatternd Nebensächliches zu besprechen und ursächlich Sachliches zu berechnen und alles ist und wird nun wieder: wild-wind-wirbliger Wiedersinn. Aber halt doch: Lebens-Zugewinn!

Ich bin, sage mir.

Verwundbares Tier.
Mutig durstige Lebensgier.

Klagen, aber wagen wir!

Peter Alexander Kaiser ist Autor, Sekundarlehrer und Tutor am Schreibzentrum der PH Zürich

Freundschaft ist krass

In letzter Zeit denke ich viel über Freundschaft nach. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ich gerade durch eine kleine Krise torkle und sehr dankbar bin für die Unterstützung, die ich auf meinem Weg erhalte. Ich staune manchmal über die Macht, die Freundschaft hat: Mir geht es ausnahmslos immer besser in Gesellschaft meiner Freundinnen. Wie krass, dass man im Laufe seines Lebens Menschen findet, die diese Wirkung auf einen haben, nicht? Wie kommt es, dass man solche Menschen um sich sammeln kann?

War es Zufall, dass genau eine meiner besten Freundinnen am ersten Tag im Gymnasium neben mir sass? Und dass wir uns eigentlich schon vorher hätten kennen sollen, weil unsere Eltern sich kannten?

War es Schicksal, dass es nicht nur mich, sondern auch eine andere Freundin aus dem Gymi ohne rationalen Grund nach Basel zog? Wollte uns das Schicksal wenigstens ein bekanntes Gesicht in dieser damals fremden Stadt bereithalten?

Und war es einfach Glück, dass da jemand war, die zuerst nur ein Hobby mit mir teilte, bevor sie zu einer nicht mehr wegdenkbaren Bereicherung meines Lebens wurde? Ein Mensch, der so oft so ähnlich und doch so anders tickt als ich?

Natürlich, definitive Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. Ich als sehr unreligiöse, nicht gläubige Person kann nicht viel mit Schicksal anfangen – und tendiere eher dazu, alle grossen und kleinen Begebenheiten des Lebens als Zufälle zu sehen. Zufälle, die entweder zu etwas Neuem führen oder völlig spurlos durch unser Leben ziehen. Diese Freundschaften, sie haben wohl mit zufälligen Begegnungen begonnen und sind mit zufälligen Ereignissen tiefer geworden – und jetzt kann ich mir nicht mehr vorstellen, wie mein Leben ohne diese Aneinanderreihung von Zufällen aussehen würde. Und ich bin unglaublich dankbar dafür, dass wir gemeinsam lachen, essen, weinen, diskutieren, reisen, tanzen und einfach sein können. Wie krass, dass manche Zufälle zu solch tiefen Verbindungen führen können.

Schöne Freundschaft – schöne Zeiten © Natascha Hossli

Natascha Hossli

Eyn thugendlehrstûck

um eynen gar wunderlichen sûndfall wie er sich zuogetragen anno Domini 1998 zuo Eton im kônigthum Ænglandia.

Eyn furmalig doctor und arg quacksalber, zum geschlecht geheißen Wakefield, publicierte eyn gewitzt lûgschrift zum zweck der buurenfângerey, in der geredet ward von eynem tyflischen vakzin, das muntere kindlein an authismen kranken ließ./ Gar vîl doctoren und grûndlich bewandert leut sahen, daſʒ diese geschicht ein lûgenmaar war und beeylten sich, das ângstlich und argwônlich volch zu beschwôren, îren kindlein das vakzin zu geben, auf daſʒ sie nicht an der Maserenseuch zugrund gehen mûssen./ Doch vîl volchsleute verwahret sich und îre bâlger fortan vor dem schûtzend vakzin und sahen in dem quacksalber Wakefield eyn klug und muotig mann, der wahr zuo înen sprach./

Eyn berufsschreyberling vom geschlechtsnamen Deer, gar verwundert ûber den unselig lûgeneyffer des furmalig doctori, entlarvte nach eyner grûndlich sucherey, daſʒ Wakefield von riichtumsgyr getrieben dîse truggeschicht gesponnen hatt./ Nicht nur ward îm eyn stattlich vermôgen von den advocaten aberglâubig edelleut gegeben, auf daſʒ er die so beschriebene lûgschrift verfasst, er besass noch dazuohin eyn patent fûr eyn anderes vakzin, das er dem volch als heilsam fûr îre zart und schuldlos kindlein pries./

Fûrderhin gebannt aus dem kreis der doctoren durch seyn gyrgetrieben lûgwerch, flûchtet

Wakefield zuo den spinnerten und argseligen leut, die der medicinisch vernûnfteley standhaft trutzen./ Umschaart von eydechsenleut, silberpapîrmûtzen, stubenhexen und judenfeynden muss Wakefield furtan seyne lûgenmaar tag um tag beschwôren, um so seyn brot zu verdienen./

Anno 2016 ward der quacksalber gesehen auf eyner vermaledeiten chrûzfâhre vor Mexico fûr ebendies volch, wie er gequâlet und ermûdet an eynem tische sass, umringt von allerley spinntisierern./

Wohl wûnscht sich der furmalige doctor Wakefield, daſʒ er sich nicht aus goldgyr um seyn ansehen und die gesellschaft bewanderter leut gebracht hätt./ Doch wie er sich versûndigt, verbannt er sich in die Hôll des stumpfsinns und der forcht wohl bis zum Jûngsten Tag.

Von der Schreyberin und Zeychnerin Lisa Thwaini zuo Zurichen anno Domini 2021

  • Diese frühneuzeitlich anmutende Moralerzählung basiert auf der Geschichte des britischen Arztes Andrew Wakefield, der durch seine als Schwindel entlarvte Studie zu einem angeblichen Zusammenhang der MMS-Impfung und Autismus zweifelhafte Berühmtheit erlangte. Wakefield gilt als zentrale Figur in verschwörungstheoretischen Kreisen, weil er die längst widerlegten Ergebnisse seiner Impfstudie nach wie vor propagiert. Anscheinend sei Wakefield aber nicht besonders glücklich darüber, sein Dasein unter Verschwörungstheoretiker*innen zu fristen, die er im Grunde verachten würde. So zumindest spekulierte ein Journalist, der Wakefield 2016 auf einer Kreuzfahrt für Verschwörungstheoretiker*innen begegnete. Wakefields Engagement erkläre sich wohl weniger aus (pseudowissenschaftlicher) Überzeugung als aus einem Mangel an anderen Verdienstmöglichkeiten, zumal er nach seiner Überführung mit einem Berufsverbot belegt wurde. So gesehen könnte Wakefield nicht einmal mehr als charismatischer Spinner durchgehen, sondern erschiene einfach als Typ, dessen finanzielles Kalkül nicht aufgegangen ist. Mehr Entzauberung geht kaum. Mehr Verzauberung aber auch nicht, weil sich aus dieser Vorlage eine nahezu märchenhafte Geschichte über Schuld und Sühne spinnen lässt, die in ihrer Rundheit wie aus der Zeit gefallen wirkt.

Lisa Thwaini studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutorin im Schreibzentrum.

Pickel sind nicht schön

Ich habe einen Pickel auf meiner Nas,
der ist so gross, das macht keinen Spass.
So kann ich mich nicht zeigen!
Ich brüll ihn an, doch wie unerhört … er tut nichts dergleichen.

Ich merk, so werd ich den nicht los.
Überleg mir einen Plan, schliesslich bin ich ja Philosoph.
Ich hab’s! Ich gib diesem Kerl einfach ein anderes Gesicht!
«Das ist Florian aus meinem Dorf. Bitte verzeiht ihm seine Macken,
      er kommt aus der Unterschicht.»

So geht mein Leben aus dem Affekt weiter,
an meiner Seite mein Alter Ego und dieser ganze Eiter.
Ich habe mich langsam an dieses Ding gewöhnt,
find es heimlich toll, wie es meine Nase krönt.

Doch es wird zum furchtbaren Polyp, ich glaub, ich habe
        zu viel dran rumgedrückt,
Es hat sich entzündet, es pocht und macht mich verrückt.
Es ist mir über den Kopf gewachsen, ich sehe gar nix.
Doch es bleibt Teil von mir, es steht direkt auf meinem Nasenspitz.

Zu viel Ekelhaftes gegessen, jetzt habe ich diesen Ausdruck
        im Gesicht.
Flüstere diesem faulen, feigen Eiter ins Ohr: «Erbrich dich, und
        du erblickst das Licht!»
Und endlich erlöst mich die schamerfüllte Offenbarung:
Es gibt keinen Erguss, es bleibt nur die Erfahrung.

© David Sucari

David Sucari studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutor im Schreibzentrum.

Heute mal Rockstar mit Zauberhut

 Strümpfe schwarz und blickdicht
 Stiefel bis zum Knie
 KLICK KLACK, laut
 im rassigen Takt 
 der Hintergrundmusik
 auf grauem Asphalt.
 Kompromisslos kraftvoll,
 entschieden voran. 

 Mit jedem Schritt 
 ein kleiner Samen gesät
 spriesst ein Blütenkopf
 aufmüpfig und mit 
 zugekniff’nen Augen
 frech
 die Zunge rausstreckt. 

 Der Mantel lang und schwer
 massiver Kunstfellkragen
 im dynamischen Schwung
 des Schrittes hinterlässt 
 wabernde, 
 in Sonnenlicht getränkte
 gleissende Luftmassen
 Atome, unübersehbar
 glitzernd
 und mit Sinn gefüllt. 

 Haare störrisch 
 halb aufgetürmt
 schief wie Peace-A
 halb fallengelassen
 achtlos
 wie manche Zigaretten
 erinnern daran, 
 mal wieder wild zu leben
 und einen ******* drauf zu geben
 was andere denken.
 Natürlich trotzdem nicht 
 über Leichen gehen
 viel lieber Mut geben. 

 Sonnenbrille nicht auf,
 viel lieber 
 Blicke sprechen lassen!
 Diese scharf & bestimmt,
 geradeaus
 und unausweichlich
 doch ab und an
 ein breites Lächeln 
 weil gutes Gitarrenriff /
 packender Bass /
 treibendes Schlagzeug.
 Das fätzt ... 

 Alles in allem
 die rohe Kraft
 Selbstverständlichkeit 
 und wilde Grazie
 eines Tigers,
 in Freiheit lebend.
 Nicht das Bedürfnis
 sich zu erklären.
 Es würd’ auch niemand fragen! 

 Ein anderer Tag
 langes Blumenkleid, ganz zart
 sanft wehend im Wind
 Sandalen aus Leder
 ganz und gar nicht
 geschwind. 

 Wie verkleidest du dich heut?

«wizard hat», Acryl auf Leinwand, 100 x 70 cm, Kelly Vass
 

Kelly Vass studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutorin im Schreibzentrum.

Nutze ihn aus

Es ist Samstagabend und ich sitze in meiner Küche auf dem braunen Lederstuhl zwischen der Tür und dem weissen Frühstückstisch. Ein gelber Hocker steht so in der Ecke, dass er jedes Mal weggeschoben werden muss, wenn der Putzschrank gebraucht wird. Vor mir der Herd, darunter der Backofen, nebenan der Abfalleimer und drüber das Waschbecken, rechts davon die Balkontür, davor ein roter Stuhl, noch eine viertel Drehung nach rechts: da der Kühlschrank.
Besuch betritt den Raum.

Er läuft zur Balkontür.
Nimmt den roten Stuhl.
Schiebt ihn zum Tisch.
Setzt sich hin.

Sie läuft zum Putzschrank.
Nimmt den gelben Hocker.
Schiebt ihn zum Tisch.
Setzt sich hin.

Er läuft zum Waschbecken.
Nimmt sich ein grosses Glas.
Füllt es mit Wasser auf.
Bleibt da stehen.

Sie läuft zum Herd.
Nimmt sich einen sauberen Lappen.
Putzt die Herdplatte.
Setzt sich drauf.

Wir sitzen auf dem Stuhl.
Trinken ein Glas Wein.
Heben die Hand senkrecht vor uns hin.

Raum, der nicht genutzt wird.
Raum, der empört.

Wir erzählen von uns.
Erzählen, erzählen und erzählen.
Analysieren die letzten Minuten.
Schämen uns.

Raum, der nicht genutzt werden darf.
Raum, der empört.

Nun fordere ich dich auf:

Stehe da, stehe dort.
Stehe mittendrin und nebenan.

Hebe die Hand,
Hebe sie höher,
Hebe sie an.

Mach den Spagat,
Sitz auf den Boden,
Lege dich hin.

Nutze den Raum,
Nutze ihn aus.

Raum ist Luxus, 2021, (c) Angelica Bühler

Angelica Bühler studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutorin im Schreibzentrum.