Im Rahmen der Lehrveranstaltung «Medienbildung und Informatik» geht es auch um Medienethik und Wertefragen im Kontext von Digitalisierung. In diesem Zusammenhang haben Studierende dystopische Kurzgeschichten verfasst. Hier der Beitrag von Deborah Suter:
Ruhe ist etwas kostbares. Angeblich konnte man sich früher unbegrenzt und ungestört an einem ruhigen Ort aufhalten und geniessen. Kaum vorstellbar für die heutige Zeit. Ruhe wird hart erkämpft, eingelöst an den wichtigen Stellen.
Als es das erste Mal ruhig war fiel Adrian fast von seinem Stuhl. Mitten im Tag von keinen Werbungen berieselt zu werden war nicht nur ungewohnt, sondern gleichzeitig auch erschreckend und komisch. Es wurde ihm bewusst, wie sehr er sich das ständige Hintergrundgeräusch von auf ihn abgestimmten Werbungen gewohnt war.
Es stimmt, dass dies eigentlich das zu erwartende Ergebnis gewesen wäre, aber der Erfolg erschien ihm während seiner Nachforschungen und Versuchen trotzdem weit hergeholt. Seit mehreren Jahren hatte Adrian an einem Softwareprogramm, welches die Werbung in seinem Implantat blocken kann, gearbeitet. Sein plötzliches Gelingen zog verschiedene Konsequenzen mit sich, einige waren zu erwarten, andere kamen plötzlich aber ergaben bei genauerem Hinsehen Sinn.
Dies war auch der Grund für Adrians heutige Abendbeschäftigung. Nervös blickte er hin und her und zog seinen Hut tiefer über sein Gesicht. Ein lächerlicher Versuch unbemerkt zu bleiben, seine Daten waren schliesslich mit seinem Implantat für jeden erhältlich. So auch sein Aufenthaltsort, sollte jemand wirklich nach ihm suchen. Trotzdem war er so unauffällig wie nur irgend möglich gekleidet, wenn auch nur um ihm ein Gefühl von Sicherheit zu geben.
«Hast du die Kopien?»
Adrian zuckte zusammen. Die raue Stimme gehörte zu Nummer 86. Ein Offizieller. Seine eigentliche Aufgabe wäre es die Werbeeinstrahlung von verschiedensten Personen zu überwachen und wo nötig Anpassungen vorzunehmen. Bei einem Überzug der zur Verfügung stehenden 8 Stunden Werbepause pro Tag müsste Nummer 86 Nachforschungen anstellen und die Person wenn nötig in Gewahrsam nehmen.
Adrians erster Erfolg die Werbeeinstrahlung in seinem Implantat zu blocken war mit vielen Fehlern verbunden, für die er sich bis jetzt noch verfluchte. So hatte er vergessen in seinem Programm einen Sender einzusetzen, welcher eine Werbeeinstrahlung an die Zentrale weiterleitet.
Seine neu gewonnene Ruhe konnte Adrian nicht lange geniessen und bekam Angstzustände als Nummer 86 einen Tag später Kontakt zu ihm aufnahm. Bis Heute ist sich Adrian nicht sicher, ob er es als Glück oder Unglück bezeichnen soll, dass gerade Nummer 86 sein Überwacher war.
Als Antwort auf die Frage zog Adrian einen USB-Stick aus seiner Jacke hervor und nickte. Nummer 86 schnaubte auf und murmelte vor sich hin, während er Adrian in eine Nebengasse zog: «Ich verstehe wirklich nicht, warum du die Files auf so einem altmodischen Speichergerät mit dir herumträgst.» Dass sie auf allen aktuellen Speichergeräten sofort aufgefallen wären schien er dabei völlig zu vergessen.
Mittlerweile war sich Adrian an die Reihenfolge eines solchen Abends gewöhnt. Heimlich auf der Strasse treffen, Kopien machen, unauffällig wieder nach Hause laufen. Dieser Ablauf war üblich bei jedem Mal, wenn Nummer 86 einen oder eine Interessente/n fand und in das Schwarzmarktgeschäft hineinzog.
In der Nebengasse wartete auch schon der heutige Kunde auf sie. Nervös umherblickend wuschelte er sich durch die Haare. Der Anblick von Nummer 86 und Adrian schien noch mehr aus der Fassung zu werfen, er fing sich jedoch schnell wieder und schenkte den Beiden ein unsicheres Lächeln.
Adrian fiel in seine Routine zurück und zusammen mit Nummer 86 installierte er das Programm im Implantat des Kunden. Die Reaktion auf die Ruhe war das Einzige, was Adrian nicht von den illegalen Machenschaften abhielt. Überraschung, Unsicherheit und schliesslich Entspannung.
Entspannung war das, was Adrian sich am meisten durch das Softwareprogramm gewünscht hat. Geniessen konnte er sie nur für die Zeit bis Nummer 86 ihn gefunden hat.
Seine Arbeit hatte ebenfalls mit Softwareprogrammen zu tun. Die Fähigkeiten, die er für die Arbeit brauchte, befähigten ihn auch das eigene Programm zu entwickeln. Während der Arbeit hat er heimlich an seinem Programm gearbeitet. Still und leise, darauf bedacht nicht aufzufallen.
Gelungen ist es ihm nicht, seine Mitarbeiterin entlarvte ihn nach etwa einem Jahr. Sie war eine seiner ersten Kunden. Hannah entwickelte das Programm so weiter, dass es noch weniger auffällt, seither konnten Adrian und Nummer 86 bedeutend mehr Kunden dafür gewinnen.
Der Kunde verabschiedete sich schnell. Wenn Adrian mehr darauf geachtet hätte, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass die Nervösheit des Kunden nicht nachgelassen hat, sondern sich eher noch vergrösserte.
So schloss Adrian aber einfach die Augen und wartete bis Nummer 86 das Geschäftliche erledigte. Als er von einigen Geldscheinen auf die Hand geschlagen wurde, öffnete er die Augen wieder und seufzte laut auf. Er schnappte sich seinen Anteil und versorgte ihn schnell in seiner Brieftasche.
«Wenn das so weitergeht, kann ich mir bald die neue Version leisten.»
Nummer 86 lachte dreckig und fächerte sich mit seinen eigenen, deutlich mehr, Geldscheinen Luft zu. Wahrscheinlich redete er wieder von einem neuen Auto. Adrian verdrehte die Augen und drehte sich zum Gehen um.
«Du könntest mir ruhig mehr vertrauen, wir arbeiten schon über sieben Monate miteinander.»
«Du hast das Implantat doch bereits umprogrammiert, wozu brauchst du das Programm?»
«Ganz einfach, falls dir was zustösst. Und wir sind Partner, hast du jemals davon gehört, dass ein Partner eines Projektes kein Zugriff darauf hat?»
«Mir geschieht nichts, Nummer 86 hat mich ja damals erwischt, er untersucht meine Spuren und verwischt sie.»
«Mach nicht auf blöd, gib mir einfach eine Kopie.»
Bevor Adrian noch die Seitengasse verlassen konnte, hörte er Sirenen und wurde von mehreren Offiziellen umzingelt. In der Mitte stand sein heutiger Kunde, der Zeigefinger auf Adrian und Nummer 86 gerichtet und die Augen weit aufgerissen.
Es war zwecklos wegzurennen. Hinter ihm befand sich eine Sackgasse, Beweise lagen in seiner Jackentasche und im Implantat des Kunden.
Nummer 86 ruf aus, fluchte, schob die ganze Schuld auf Adrian, aber es war zwecklos. Auch er wurde von den Offiziellen festgenommen. Die Blicke die er zugeworfen bekam fast noch böswilliger als die auf Adrian. Er hatte das Vertrauen seiner Mitarbeitenden missbraucht.
Adrians letzter Gedanke galt Hannah und der Kopie, welche er ihr eine Woche zuvor doch noch zukommen hatte lassen. Was sie damit anstellen würde konnte er nicht ahnen, genauso wie Hannah niemals wissen würde, was mit ihm passiert ist.
Deborah Suter, 2021