Im Rahmen der Lehrveranstaltung «Medienbildung und Informatik» geht es auch um Medienethik und Wertefragen im Kontext von Digitalisierung. In diesem Zusammenhang haben Studierende dystopische Kurzgeschichten verfasst. Hier der Beitrag von Sharon Alfred:
Heute lag ich gemütlich und gelangweilt auf meinem Bett und scrollte durch Instagram. Auf meiner Instagram Explorer-Seite fand ich hauptsächlich Mädchen, die über ihre «Fitness-Reisen» berichteten, Frauen, die lächelnd, über «Body Positivity» posierten, während sie Ratschläge zur Gewichtsabnahme gaben. Dann gab es noch die dünnen Influencer, die sich verrenkten, um zu zeigen, dass sie auch Bauchfett haben. Aber durch diese Aktion liessen sie bewusst ihren beneidenswerten Körper noch beneidenswerter erscheinen.
Ich sah kurz von meinem Handy weg und erblickte mein Spiegelbild vor mir.
Mein Spiegelbild, das mich immer versucht zu würgen.
Mein Spiegelbild, das mich zum Weinen bringt.
Mein Spiegelbild, das mir die unverblümte Wahrheit offenlegt.
Mein Spiegelbild und ich.
Aus Gewohnheit schloss ich meine Augen. Natürlich war ich mir bewusst, dass ich nicht von meinem Spiegelbild wegrennen konnte, aber jedes Mal, wenn ich meinem Spiegelbild gegenüberstehe, habe ich das Gefühl, es wolle mich zu Tode würgen.
Langsam öffnete ich meine Augen und sah mich von oben bis unten an. Auf den ersten Blick vielen mir sofort meine Imperfektionen auf. Besonders störend fand ich meinen dicken Bauch. Ich bin nicht in der Lage einen flachen Bauch zubekommen, wie diese Influencer von vorhin. Meine Mutter sagt immer, dass die äusseren Merkmale nicht die Schönheit definieren. Was für ein Nonsens. Sie würde mich besser verstehen, wenn sie auch diese Influencer sehen würde, die immer ihren perfekten Körper posten. Unsere Gesellschaft liebt nun mal diesen Körperbau und da fragt sich meine Mutter, wieso ich mich nicht selbst liebe.
Um mich besser im Spiegel zu betrachten, band ich mir meine Haare zu einem Pferdeschwanz. Ich liess einen lauten Seufzer von mir. Ich mache so viel Sport und esse kaum etwas, aber trotzdem sieht mein Körper genauso hässlich aus wie vorher. Wieso fallen mir immer die negativen Dinge an mir auf?
Ich verdrehte genervt meine Augen und wollte mich wieder in mein Bett einkuscheln, um meine Zeit auf Instagram zu vergeuden, als plötzlich mein Spiegelbild mich frech angrinste.
Erschrocken fuhr ich hoch. Mir lief der Schweiss den Rücken hinunter. Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass mein Spiegelbild nur eine Einbildung war.
Etwas unruhig schaute ich wieder auf mein Handy. Natürlich mussten mir genau jetzt schöne Gesichter und perfekte Körper vorgeschlagen werden. Es ist, als ob die schlauen Algorithmen sich über mich lustig machen würden, dass ich so aussehe, wie ich bin.
Auf einmal wurde mir eine Werbung angezeigt, welche eine definitive Gewichtsabnahme verspricht.
Ich überlegte kurz, ob ich nicht vielleicht doch Medikamente nehmen sollte, um perfekt auszusehen. Nein, das brauche ich nicht. Ich muss nicht so perfekt aussehen, um von anderen gemocht zu werden.
Meine Emotionen waren auf einmal unkontrollierbar und ich fing an zu weinen. Voller Wucht warf ich mein Handy gegen den Spiegel. Im Hintergrund konnte ich noch das Klirren der Scherben hören.
Mit Tränen in den Augen versuchte ich von meinem Bett aufzustehen, als mich plötzlich etwas zurückstiess.
«Vielleicht solltest du diese Medikamente nehmen?» Als ich diese Stimme hörte, weiteten sich meine Augen. Vor mir stand mein Spiegelbild. «Was willst du von mir?», fragte ich.
Mein Spiegelbild grinste mich frech an und sagte: «Ich bin du und du bist ich. Solange du unglücklich bist, kann ich auch nicht glücklich sein. Dein Gefühlschaos kommt daher, dass wir beide nicht mehr ein und dasselbe sind. Du willst etwas werden, dass ich einfach nicht bin.»
«Hör auf mich zu manipulieren!», schrie ich voller Verzweiflung. Mein Spiegelbild setze sich neben mir hin und hielt das Medikament, dass ich mir besorgen wollte, in der Hand.
«Wenn das das Einzige ist, dass dich glücklich macht, dann nehme dieses Medikament. Falls du dich aber selbst liebst, so wie du bist, dann nehme es nicht.»
Ohne zu Überlegen nahm ich das Medikament und schluckte es hinunter. Es war sehr hart und schwer zu verdauen. Plötzlich drehte sich der ganze Raum um mich herum. Mein Spiegelbild sah mich zornig an und begann eine andere Gestalt anzunehmen. Vor mir stand plötzlich eine abgemagerte Version von mir. Ich sah schrecklich aus. Bevor ich mein Bewusstsein verlor, flüsterte mir mein Spiegelbild ins Ohr: «In Wirklichkeit sahst du immer so aus.»
Sharon Alfred