Furiosa wartet. An ihrer Pose erkennt man, dass sie noch lebt (wäre sie tot, läge sie auf dem Rücken, ihre acht Beine sauber über der Brust verschränkt). Ihr Pseudofell schimmert bläulich. Auf ihrem Hinterleib hat sie eine kahle Stelle, die sich langsam, aber stetig ausdehnt – ein Zeichen, dass sie sich bald häuten könnte.
Furiosa ist nicht meine erste Spinne, aber bisher die Einzige, die ich hinter Glas halte. Meine früheren Spinnen sind immer von selbst zu mir gekommen, meistens im Herbst, wenn es draussen kühl wurde. Manche haben jahrelang in meinem Kinderzimmer gelebt, sie zu töten war verboten.
Furiosa ist um einiges grösser als die Zimmermänner, Winkel- und Kreuzspinnen aus dem Garten, sie gehört zur Familie der Vogelspinnen. Sie ist gross genug, damit ich jedes ihrer äusseren Körperteile mit meinen Primatenaugen erkennen kann: die Giftklauen, die kleinen Füsschen, die Spinnwarze, die acht winzigen, fast blinden Äuglein.
Furiosa und ich sind beide kohlenstoffbasierte Lebewesen, Zentren des Erlebens. Wir müssen essen und trinken und wir sterben irgendwann. Damit enden jedoch unsere Gemeinsamkeiten. Was uns vor allem unterscheidet: Vogelspinnen sind zutiefst solitär. Während Äffchen wie ich die Welt als soziales Gefüge erfahren, unterscheidet Furiosa nicht zwischen einer Heuschrecke und einer Artgenossin. Sie tastet sich durch ihr Terrarium und schlägt ihre Klauen in alles, was sich zu abrupt bewegt.
Furiosa «wartet» nicht, sie dämmert. Sie braucht fast nichts, jede Woche eine Grille und ein bisschen Wasser. Sie ist nie einsam, sie langweilt sich nicht, sie lernt nicht, sie kennt kein Ich und Du. Sie dämmert und lauert und harrt aus – und das seit 350 Millionen Jahren (ihre Art natürlich, nicht sie selbst).
Sie hätte wohl nichts dagegen, dass ich sie Freundin nenne, es wäre ihr komplett egal.
Wenn ich vor dir steh, sind meine Beine wie Püree.
Unfähig, sich in Bewegung zu setzen, denn sie lassen sich einfach nicht hetzen.
Doch wenn ich mich nun doch muss fortbewegen, dann nur um dich hineinzulegen.
Hineinzulegen in das warme, weiche Bett, welches viel mehr ist als ein Lazarett.
Kissen und Decken schmiegen sich um deine Gestalt, bevor ich mich zu dir leg und deinen Inhalt pfleg.
Ich flüstere dir warme Worte zu, um dein Seelenheil zu horten,
um es zu umsorgen und lieb zu kosen.
Dies, um deinen Schmerz abzureissen und ihn ins Jenseits zu verweisen,
um dir aufzuzeigen, dass du deine Seele herzen sollst, da du viel mehr bist als eine Art Frist.
Nämlich hier, um die Welt zu bereichern und nicht hier, um sie zu bedauern.
Denn alles, das du nicht umformen kannst, ist nichts im Vergleich zu all dem, das du ändern kannst, allem, das du verlangen kannst, allem, das du verbannen kannst.
Deswegen tanze um dein Seelenheil und fülle im Leid lieber dein Lebelein,
denn du bereicherst die Welt, vielleicht viel mehr als es dir gefällt.
@Kim Moser
Kim Moser ist Tutorin am Schreibzentrum der PH Zürich.
„Mac n cheese“ Pizza war am Wochenende vor dem Fat Tony Thema. Gespräche über CA$h- und Moneyflow. „angelaworks.ch“ online Vikariatsportal. In Erinnerung an die Italien Ferien schwelgend, suche ich im Internet „songs a piscina italiana sommer 2022“. Artikel gelesen, was ist „zilch execution“ ? Morgendliches Kaffeetrinken im Campo, zehn Männer in schwarzer Kleidung betreten das Lokal. In schwarzer Kleidung mit Aufschrift „Eindhoven“. Eine Gegend in der Niederlande. Saufen Bier. Klicke weiter. „Ultra-Bewegung“ bezeichnet eine Organisationsform von fanatischen Anhänger:innen eines Fussballteams. Zurück an der Hochschule: „Lerntypen bei Kindern“. Wann hast du Geburtstag? Um welche Zeit? Gib mir noch den Ort an! „humandesign.ch“. Liegen auf der Fritschiwiese in der Sonne auf dem etwas feuchten Untergrund. Schau mal Wurmkacke! Niemals?!. „Das Wunder Wurm“. Es gibt grundsätzlich drei Gruppen von Regenwürmern. Die eine Regenwurmart gräbt sich vertikal durch die Erde und bildet so stabile Röhren, welche sie ein Leben lang behausen. Die Horizontalgrabenden füllen ihre Röhren direkt wieder mit ihrem Kot auf. Die kleingewachsenen und agilen Regenwürmer bilden die dritte Gruppe und leben im Wald, im Kompost oder auf Misthaufen. [Drei TikTok Tabs offen] Dienstagmorgen, Vertiefungsfach Geografie, begebe mich auf eine virtual Tour of Cape Town auf „airpano.com“. Kennst du „Noah die Bettschen“? Ne, keine Ahnung. Zürcher Jungkünstler, selbstüberzogen sagen welche, Genie sagen andere. „Gustavo Petro, presidente electo de Colombia“, „la vicepresidenta Francia Marquez en los diálogos regionales vinculantes“ y mucho más. Im Treffpunkt Kiosk lesend. Junot Díaz ein aus der Dominikanischen Republik stammender Schriftsteller und in New York aufgewachsen. Dies, das, fúku. Dies, das, fúku. „Nzz.ch“, fúku: ein vielseitig verwendbarer Fluch oder auch das Grosse Amerikanische Unheil. [pornographische Inhalte]
Unsere ehemalige Tutorin schreibt im aktuellen Heft auf S. 21 über ihr erstes Jahr im Schuldienst.
Hier ein Ausschnitt:
«Ich suche aktiv nach drei Dingen, die gut liefen. Diese kurze Übung findet bereits Anklang bei einigen aus dem Kollegium; wir erinnern uns gegenseitig daran, sie durchzuführen. Es ist eine Überlegung wert, diese Strategie auch den Lernenden zur Bewältigung des Alltags mit auf den Weg zu geben.» Antonia Rakita (inside 2/2022, S. 21, Pädagogische Hochschule Zürich)
Seit 2009 schreiben die Tutorinnen und Tutoren des Schreibzentrums schon für das Magazin Akzente der PH Zürich. In der Studikolumne der Mai-Ausgabe (2/2022, S. 25) gibt unsere Tutorin Lisa Morellini einen Einblick in ihre Wochenendvorsätze und erzählt, warum sie fünf auch mal gerade sein lässt, wenn am Sonntag ab 14 Uhr bunte Drinks gereicht werden.
Bevor wir ihre Gesichter pudern, rasieren wir den soeben Verstorbenen Backen, Kinn und Oberlippe. Es wäre würdelos, sie zuwuchern zu lassen wie alte Ruinen, sagen wir uns. Es war ihm immer wichtig, gepflegt auszusehen, er hätte auch jetzt darauf bestanden.
Gepflegt sein, heisst: nicht verwildern, nicht wie die anderen Tiere sein. Der Körper als Wildnis, die begärtnert werden muss. Das Fell als Dickicht, das gerodet gehört. Rasiere keine Achselhaare! Hör auf, deinen Bart zu modellieren! Kümmere dich nicht um spröde Enden! Entwirre keine Knoten!
Im Wald lebt ein Heiliger. Sein Haupthaar reicht ihm bis zu den Kniekehlen, sein Bart bedeckt seine Genitalien, so dass er sich vor Gott nicht schämen muss. Tagsüber betet er, nachts bettet er sich auf Moos und schläft ruhig, denn die Tiere des Waldes sind mit ihm.
«Wilder Mann», Illustration aus einem Nürnberger Schönbartbuch, ca. 1600 (Wikimedia Commons)
Fast vier Jahre dauerte es, bis ihr Haar richtig wuchs, bis man es endlich zu kleinen Zöpfchen flechten konnte. Die Kopfhaut spannt, doch sie findet sich wunderschön. Eine Fee mit Haaren aus Mond- und Sternenlicht.
Sie ist überzeugt, dass die Haare der Reichen besser aussehen. Besser, das heisst: gesünder, dichter, kräftiger. Sie benutzen dafür teure Wundermittel, die tatsächlich wirken. Haarmasken mit Extrakten aus Ginkgo und menschlicher Placenta. Oder sie spritzen sich Blut von Sportlern in die Kopfhaut, zur Verjüngung der Follikel.
Im Sonnenlicht sieht man den Schädel durch ihr schütteres Haar scheinen. Es ist fein wie Spinnfäden, löst sich fast auf unter den Blicken der Leute. Dünnes Haar, das heisst: Zerfall, Verlust der Lebenskraft. Es ist Zeichen der Sünde, auf die falschen, die billigen Wundermittel vertraut zu haben. Jene, die die Kopfhaut verätzen und das Haar brüchig machen – wie blöd kann man nur sein?!
Am Ende der Welt hält ein Cyborg Wache. Wenn ihre Maschinenaugen eine Bewegung in der Ferne erfassen, fokussieren sie scharf und zielgenau; nichts entgeht ihrem Blick. Auf ihrem metallenen Schädel spiegelt sich das Sternenlicht. Ein Schwarm Vögel jagt über sie hinweg und quietscht dabei wie rostige Scheren.
Derweil träumt der Fleischteil ihres Gehirns von Hasen und Rehen, die zu ihren Füssen grasen.
Lisa Thwaini studiert an der PH Zürich und ist Tutorin im Schreibzentrum.
Tutor Nicolas Schmid
(Illustration: Elisabeth Moch)
Mit dieser Frage habe ich mich im letzten halben Jahr immer wieder auseinandergesetzt. Doch die Frage fühlt sich schwer an – so schwer, dass wenn sie mir durch den Kopf schwirrt, mein Körper merkt, wie die Schwerkraft einsetzt und mich langsam in Richtung Boden zieht.
Ich liege gerade auf der Couch und starre an die Decke. Um mich herum ist es still. Diese Stille gibt mir ein Gefühl, das sowohl angenehm als auch unwohl zugleich ist. Nun lausche ich tief in mich hinein – so tief, dass ich beinahe den Boden unter mir verliere und ich in die endlose Unendlichkeit meines Daseins verschwinde. Ich höre die Schreie undefinierbarer Gedanken, die aufeinanderprallen. Sie verlangen nach Ordnung und kaum greifbaren Antworten.
Wie selten bin ich nur für mich, frei von allen Rollen und Obligationen unserer Leistungsgesellschaft? Im Jetzt bin ich kein Lehrer, kein Student, kein Mitarbeiter, Bruder, Sohn oder Freund – nur mich und die Abgrundtiefe meiner Gedanken. «Wer bin ich?», rede ich im Dialog zu mir selbst. «Wer will ich sein?», «Was will ich sein?». Seit knapp 25 Jahren lebe ich mit mir – Tag für Tag – und doch scheine ich mich kaum zu kennen.
Kann ich das überhaupt noch? Mir selbst zuhören? In einer reizüberfluteten Welt, gefolgt von stetiger Erreichbarkeit und des immer Daseins – wenn auch abwesend – stehen wir konstant unter Strom und in Bewegung, mit nur seltenen Momenten für uns allein.
Fragen über Fragen, eine Aneinanderreihung verschiedenster Ereignisse meines Lebens – alles in meinem Kopf. Der scheinbar kurze Moment dehnt sich weiter und weiter bis hin zur Unendlichkeit. Ich merke, wie meine Augen immer schwerer werden, mein Körper sinkt immer tiefer in die Couch, sie hüllt mich ein mit altem Stoff und trägt mich wie auf Wolken durch meine Wohnung. Nun ja, das wars wohl mit der Lebensphilosophie. Morgen ist ein neuer Tag.
Liebe Leserinnen und Leser: Wann hast du dir das letzte Mal zugehört und dir die Frage gestellt, wer du bist, wenn du gerade niemand sein musst?
Nicolas Schmid studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutor im Schreibzentrum. Der Text ist erschienen als «Gastspiel»-Kolumne im Magazin für die Mitarbeitenden der PH Zürich, inside 1/2022, S. 21.
Letzthin erzählte mir mein 7-jähriges Gottenkind eine Geschichte. Die ging so: «Die Zuckerfee ist im Weltall und dann findet sie einen Asteroiden. Da waren viele Marsmännchen. Und dann machten sie mit einer Maschine ganz viele Süssigkeiten. Und jemand im Zirkus schlug ganz viele Räder und flog so ins Weltall. Wir hier unten müssen alle unseren Mund aufmachen, denn es fallen Süssigkeiten auf die Erde. Normaler Sand lässt Zauberbäume wachsen. Und jetzt pflücke ich einen Grashalm und es regnet Sand. Der Grashalm hat sich aufgelöst.»
Lass uns wieder Kinder sein Lass uns träumen, uns verlieren an den Tag und nicht auf morgen warten Lass uns Tränen lachen und weinen Lass uns im Luftschloss leben und den Schlüssel wegschmeissen Lass uns nicht nachdenken, sondern einfach tun Lass uns einander die Meinung geigen, uns doof finden und wieder vertragen Lass uns ins Weltall fliegen und Süssigkeiten regnen lassen Lass uns im Kleinen Grosses sehen und Schönheit im Sand Lass uns wieder die Kinder sein, die wir einst waren und noch immer sind – irgendwie.
Ich frag mich, wann ich mein Kindsein gänzlich niederlegte. Gab es einen bestimmten Moment oder waren es viele? Edna St. Vincent Millay hatte schon recht, als sie sagte: «Kindheit ist nicht von Geburt bis dann und dann, und dann und dann ist das Kind gross und räumt Kindliches weg. Kindheit ist das Königreich, in dem niemand stirbt.» Warum nur wollen alle Kinder gross sein und dieses Königreich verlassen? Warum haben wir es je verlassen? Denn in diesem Königreich lässt normaler Sand Zauberbäume wachsen.
Semira Pfister ist PH-Studentin auf der Sek-I-Stufe
Seit 2009 schreiben die Tutorinnen und Tutoren des Schreibzentrums schon für das Magazin Akzente der PH Zürich. In der Studikolumne der Februar-Ausgabe (1/2022, S. 25) berichtet unsere Tutorin Lisa Thwaini von ihrer Faszination für starke Raubtiere und ihrer Schwäche für grausame Gute-Nacht-Geschichten.