Fünf Uhr

Seit fünf Wochen klingelt mein Wecker fünf Tage in der Woche um fünf Uhr. Zu Beginn ging ich davon aus, dass ich mich daran gewöhnen würde. Jeden Morgen redete ich mir ein, dass sich mein Körper einfach noch an den neuen Schlafrhythmus gewöhnen müsse. Mit der Zeit würde alles besser werden. Es wurde nicht besser. Noch immer sträubt sich am Morgen jede Faser meines Körpers dagegen, aus dem Bett zu steigen und den in diesen Momenten nahezu unerträglich scheinenden Weg ins Badezimmer anzutreten. Dass mit Routine und Übung alles einfacher wird, ist eine der Lebenslügen, die ich mir immer wieder erzähle: Wenn ich genug trainiere, werde ich mit meinem Velo bald ganz entspannt die Berge hochfahren können. Wenn ich mir den Samstagmorgen immer fix zum Putzen einplane, werde ich mich mit der Zeit gar nicht mehr über das Putzen nerven. Wenn ich mich immer gesund ernähre, werde ich mich irgendwann gar nicht mehr nach Burger und Pommes sehnen.

Aber noch immer läuft mir beim Anblick von Fast-Food-Buden das Wasser im Mund zusammen, noch immer verspüre ich beim Polieren der Wasserhähne keine Begeisterung, noch immer brennen meine Muskeln, wenn ich einen Pass hochfahre und noch immer verfluche ich meinen Wecker jeden Morgen aufs Neue. Viele der wichtigen Dinge im Leben werden wohl immer schmerzhaft und anstrengend bleiben, egal wie sehr ich mich um Routine bemühe. Und da frage ich mich manchmal schon, warum ich mir diese Plagerei eigentlich antue. Doch dann sehe ich, wie die Sonne hinter dem Säntis aufgeht und sich im Zürichsee spiegelt, oder ich ertappe mich dabei, wie ich im streifenfrei-polierten Spiegel selbstverliebt meine Radlerwaden bewundere. Und plötzlich erscheint mir die Welt doch nicht mehr so ungerecht. Zumindest so lange, bis um fünf Uhr der Wecker läutet.

Peter Fäh studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutor im Schreibzentrum.

Die Menschen, die wir sind

Abgesehen von der globalen Pandemie, die uns immer noch beschäftigt, passiert aktuell auch noch ziemlich viel anderes auf diesem Planeten. Klimaerwärmung beispielsweise. Flüchtlingskrisen. Frauenstreiks.

Und: Rassismus und Diskriminierung. Jetzt, hier, überall.

«I can’t breathe.»

Auch ich bin Teil eines Systems, das Weisse in so vielen Situationen bevorzugt. Ein System, das Schwarze und People of Colour, Asiat*innen oder Angehörige indigener Völker ausgrenzt, diskriminiert, mit misstrauischem Blick taxiert, zu Minderheiten macht. Auch ich bin Teil des Problems, wenn ich mich nicht aktiv dagegen ausspreche und aktiv dagegen vorgehe. Denn schlussendlich ist Stillschweigen bei Ungerechtigkeiten auch immer eine Form der Zustimmung.

«I can’t breathe.»

Ich weiss nicht, wo wir anfangen sollen bei diesem Missstand, der unsere Gesellschaft seit Jahrhunderten wie ein Parasit befällt. Wie wir endlich begreifen können, dass keiner und keine besser ist als das Gegenüber. Dass jeder Glaube und jede Herkunft Berechtigung hat, anerkannt werden sollte, und dennoch absolut nichts über einen Menschen aussagt.

Es braucht aber jetzt eine Veränderung, dringend.

Ich für meinen Teil beginne mit der Sprache. Sie steht uns allen zur freien Verfügung und wir haben es selber in der Hand, welche Worte wir verwenden, ob wir «rassistische Witze» tolerieren, ob wir uns bei Diskussionen über «die Ausländer, die immer …» beteiligen, ob wir stillschweigend zuhören oder ob wir endlich damit anfangen, uns dagegen auszusprechen, und Partei ergreifen für jene, die es leid sind, den Kampf ständig alleine auszufechten.

Lasst uns gemeinsam kämpfen.

Denn, egal ob Held oder einfach nur Nachbarin:

Wir alle sind Menschen.

Ronja Stamm studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutorin im Schreibzentrum.

Helden, die (wir) nicht bleiben

Wie Nicholas vor zwei Wochen beschäftigen mich Helden. Eine neue Wohnung wie Natascha hätt ich auch, die staubt seit Mai wegen Corona ohne Möbel vor sich hin. Aber das ist die kleinere Geschichte. Wenngleich «Staub zu Staub»: Da wär ich beim Thema.

Neulich abends vor dem Fernseher hat mich das Entsetzen gepackt. Ist mir bewusst geworden: Viele Junge heute kennen Clint Eastwood nicht mehr. Jedenfalls nicht in Poncho und mit Hut. Das wäre zu verkraften, aber was soll ich ihnen dann mit Brando kommen, Dean oder Hopper? Ganz zu schweigen vom Rainer Werner oder den Ganzgrossen hinter der Kamera?

Auch das wär zu verkraften – was ist schon Film? Dürrenmatt dann vielleicht? Auch nicht? Dutschke oder King? Dylan oder wenigstens Jagger? «Cassius Clay» am Ende oder – hallo, wir sind in Zürich! – Roger Berbig? Alles Fehlanzeige!

Relikte. Spuren in der Zeit

Ich sinniere zurück in meine Jugend und erinnere mich: Im riesigen Dschungel der Welt habe ich mir einst meinen Weg gebahnt, meinen Verstand als Machete: Habe Helden erwogen und wieder gefällt. Neue erwählt und durch andere ersetzt. Glauben gezüchtet und gejätet. Mal hoffend, meist hadernd bin ich auf der Suche nach Autorität zwar nicht fündig, aber allmählich selbst eine geworden.

Die Suche hat mich geformt. Meine Aussenkanten definieren Menschen: Ich bin verletzt wie Hopper oder Saint Phalle, lebenshungrig wie Dean, wünsche mir den Scharfsinn von Dürrenmatt oder Beauvoir, den Mut von Ali, messe mich an der Aufrichtigkeit eines Dylan. Und gefalle mir ab und an ganz gern ein wenig bockig. Wie Eastwood.

Aber: Clint Eastwood …? – Wer war das noch gleich? – Wie könnt ich das je erklären …

Ich bin dann haltlos schlafen gegangen und habe von einem alten Freund geträumt. Wir sassen in einem Café und ich erzählte ihm von meinem Leben.

Arno Gadola war einst «kleiner» Pfleger der Psychiatrie, aber mit grosser Vision: Aus eigener Kraft schuf er in Bern die Organisation Pro Vita 24. Dieser Spitexdienst betreut psychisch Kranke zu Hause und sichert ihnen so Freiheit und Würde. Daneben hat sich Arno sehr für Kunst interessiert und ausgestellt. Auch mich. Nur wenige Wochen nach seinem grossen Fest, dem zehnten Jubiläum seiner Firma, hat er mir von seiner Diagnose erzählt. Er starb nach langer Krankheit. Arno widme ich den folgenden Text, der am nächsten Morgen entstand.

Verblassen

Ich habe bedeutende Menschen gekannt. Du kennst sie nicht, ihre Namen standen nicht in der Zeitung. Aber sie haben die Welt geschaufelt mit grossen Kellen und ich kam mir wichtig vor, sie zu kennen.

Sie sind gestorben und es blieb mir nichts von ihnen als Erinnern. Bleicher, mit jedem Versuch zu erzählen. Unnütz an dem Ort, wo die Welt nun dreht. Milliarden neuer Geschichten jede Sekunde spülen sie hinweg in dem Strom der Zeit, in das Meer des Vergessens.

Hilflos schaue ich zu, wie diese Menschen verschwinden. Und mit jedem ein Teil von mir. Meine eigne Bedeutung verblasst: Weniger und weniger habe ich zu erzählen. Bald bin ich nichts mehr. Und dann bin ich nicht mehr.

Und es wird an Dir sein zu sagen: Ich habe bedeutende Menschen gekannt.

Peter A. Kaiser studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutor im Schreibzentrum.

Die Nachbarin, die ich nicht sein wollte

Corona-Zeit war und ist Gammellook-Zeit. Und auch ein bisschen Räumen-wir-später-auf-Zeit. Zumindest bei mir. Die perfekte Zeit also, um seine neuen Nachbarn kennenzulernen – oder?

Mein Freund und ich haben nämlich inmitten dieser komischen Zeit beschlossen, nach Zürich zu ziehen. In die Wohnung neben meiner besten Freundin – und über den erwähnten neuen Nachbarn. Diese neuen Nachbarn haben ein Zügelunternehmen. Und weil wir vor allem anfangs nicht so Fan waren von der Idee, unseren gesamten Haushalt wegen Social Distancing ganz alleine zu zügeln, haben wir beschlossen, ebendiese Nachbarn doch mal anzufragen, was denn das Für-uns-Zügeln so kosten würde. Nach einem etwas verwirrenden Telefonat warteten wir auf die Terminbestätigung für eine Besichtigung unseres «Hausstandes» per Mail. Als diese nach drei Tagen noch immer nicht kam, hatten wir uns schon vorgenommen, nochmal zu schreiben – als es an der Türe klingelte. Mitten in der Corona-Gammel-Zeit. Ich also ohne BH, im alten Trainer, mit zwei grossen, nicht-überschminkten Pickeln im Gesicht und mit einer nicht gerade perfekt aufgeräumten Wohnung. Nach kurzem Hin und Her beschlossen wir, die fremden Klingler reinzulassen und stellten mit leichtem Schreck fest, dass unsere neuen Nachbarn vor uns standen – und gerne mal die Wohnung anschauen würden, so um eine realistische Offerte erstellen zu können. Sie seien eben auf dem Heimweg gerade bei uns vorbeigefahren, da habe es sich halt angeboten, spontan vorbeizukommen. Sie hätten sich vor zehn Minuten per Mail angemeldet.

Seasons for all
Züglete mitten im Semester, mitten in der Corona-Zeit.

Details erspare ich euch, aber lasst euch gesagt sein, dass eine weitere Auswirkung von Corona seither darin besteht, dass wir uns unseren neuen Nachbarn nicht mit einem kleinen Essenskorb, unserem schönsten Outfit und bestem Lächeln vorstellen konnten. Aber naja, immerhin kennen sie uns jetzt schon in einem realistischeren Setting – ich geniesse es jedenfalls, mich auch in der ersten Woche völlig okay zu fühlen, wenn ich meinen Nachbarn auf dem Weg in die Waschküche im Trainer und mit Strubbelhaaren begegne.

Natascha Hossli studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutorin im Schreibzentrum.

Der Held, der ich schon immer sein wollte

Soweit mir bekannt ist, geht es bei der Heldengeschichte um die Reise der Hauptfigur. Vor allem zu Beginn wird sie durch eine weise Gestalt geführt, die ihr wichtige Tipps und Tricks auf den Weg mitgibt. Mithilfe von verschiedenen Prüfungen und Bewährungsproben wird ihr Charakter getestet. Zum Abschluss macht sich die Hauptfigur auf den Weg nach Hause, mit gereifter Persönlichkeit.

Ein Beispiel: Aline hatte noch nie selber eingekauft. Doch plötzlich war alles anders. An diesem Tag wurde sie losgeschickt. Ihr Vater zeigte ihr auf Google Maps den Standort der nächsten Migrosfiliale und sagte ihr, was sie da einkaufen solle. Zudem teilte er ihr auch die wichtige Information mit, dass sie für das «Wägeli» einen «Zweifränkler» braucht.

Aline machte sich also auf den Weg in die Migros. Im Tram wurde ihr Billett kontrolliert und am Marktplatz wurde sie von Mormonen in ein längeres Gespräch über ihren Glauben verwickelt. Obwohl sie sich nicht sicher war, ob das Geld dafür reiche, kaufte sie noch die Gassenzeitung, weil sie das eine gute Sache fand. Sie musste noch ein Stück laufen. Dann stand sie endlich in der Migros. Die letzte Hürde war dann aber der Fakt, dass der Bio-Senf ausverkauft war. Aline musste entscheiden, dass der normale Senf auch genügte. Danach begab sie sich auf den Heimweg.

Per Definition eine Heldengeschichte, oder?

Vielleicht hier noch ein weiteres Beispiel: Noctis war der Prinz von «Insomnia». Er hatte die «Kronenstadt» noch nie verlassen. Als er sich dann erstmals auf den Weg machte, um seine Verlobte, das Orakel Lunafreya, zu heiraten, verstarb sein Vater in einem brutalen Kampf.

Der beste Freund seines Vaters, Cor, zeigte Noctis, wie er als neuer König die immer stärker werdende Dunkelheit besiegen könne. Dazu musste er die Geister seiner Urahnen sammeln und zudem den Segen der sechs Gottheiten des Planeten Eos erkämpfen. Noctis machte sich also mit seinen besten Freunden Ignis, Gladiolus und Prompto auf den Weg, um die Dunkelheit zu besiegen.

Leider kenne ich das Ende der zweiten Geschichte selber noch nicht, ich bin noch mitten drin!

Wenn man beide Geschichten betrachtet, sind die Handlungsstrukturen dieselben: Beides sind Heldengeschichten. Und somit sind Aline und Noctis eine Heldin und ein Held. Sie gehen ins Unbekannte, bewähren sich und kehren verändert zurück.

Werde wie Aline und Noctis: Mach dich auf und werde auf deine Art eine Heldin oder ein Held!

Nicholas Rilko studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutor im Schreibzentrum.