«Herdöpfelhochdeutsch» wird salonfähig – der neue Roman von Silvia Tschui

Tschui_JakobsRoss_RZ.inddEine Lesprobe vom Romananfang:

«Ja, wenn das Elsie das Lied vom Blüemlitaler Bauern, wo vor Heimweh in der Fremde verräblet, nur wieder einmal in einem Salong singen und fidlen könnte, anstatt in diesem Finsterseer Chuestall nur das Rösli und das Klärli mit je einer Hampflen Heu in der Schnörre als Publikum zu haben!»

Dicke Post ist es, die hier von Silvia Tschui frisch ab Presse kommt. Die Handlung  ihres viel gelobten Debütromans spielt in den der ländlichen Schweiz vor 150 Jahren und erzählt von Armut, Missbrauch und Gewalt.

Der herbe Dialekt des Buches lässt einen oft schmunzeln. Die Geschichte jedoch ist blutig und tränenreich. In einem deftigen Schweizer Hochdeutsch schildert das Buch die Geschichte der Bauernmagd Elsie, die mit ihrem Gesang alle betört. Sie wird vom Hausherrn geschwängert und mit dem Rossknecht verheiratet. Silvia Tschui schreibt auf berührende Weise von einer jungen Frau, die ihrer Stimme und sich selbst zur Selbstbestimmung verhilft.

Silvia Tschui
Jakobs Ross.
Zürich: Nagel & Kimche, 2014.

Schande

Schande cover«Für einen Mann seines Alters, zweiundfünfzig, geschieden, hat er seiner Ansicht nach das Sexproblem recht gut im Griff.»

 

Ja, es geht um Sex. Und damit zusammenhängend um einen Skandal des  Literaturprofessors und Berufsromantikers David Laurie aus Kapstadt. Aber nicht nur. Den bleibenden Eindruck nach der Lektüre hinterlässt Davids Tochter Lucy. Obwohl das offizielle Apartheid-Regime gestürzt ist, brodeln die Rassenkonflikte unter der Oberfläche weiter. Lucy wird Opfer eines brutalen Überfalls und entwickelt einen ganz eigenen Umgang mit Rassenkonflikten, indem sie – für ihren Vater David unverständlich – den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbricht.

Mit Schande gewann J.M. Coetzee 1999 zum zweiten Mal den Booker Prize.

Der Roman wurde 2008 von Steve Jacobs verfilmt («Disgrace»).

 

J. M. Coetzee
Schande.
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
Frankfurt/M.: S. Fischer, 2000.

Abschied von den Eltern

Peter Weiss«Ich habe oft versucht, mich mit der Gestalt meiner Mutter und der Gestalt meines Vaters auseinanderzusetzen, peilend zwischen Aufruhr und Unterwerfung. Nie hab ich das Wesen dieser beiden Portalfiguren meines Lebens fassen und deuten können.»

 

 

Eben habe ich den Roman «Abschied von den Eltern» von Peter Weiss zum zweiten Mal gelesen. Die Erzählung ging mir bei der zweiten Lektüre noch viel näher als bei der ersten. Wenn ich die erste Seite lese, erhalte ich immer noch eine Gänsehaut.

Was im BBuchumschlag «Abschied von den Eltern»uch steht, betrifft wohl jeden auf eine andere Art. Sicher ist aber, dass wir uns alle irgendwann fragen, wie viel von unseren Eltern in uns ist. Im Roman erzählt Peter Weiss von seiner Kindheit und Jugend als Grenzerfahrung zwischen Aufruhr und Unterwerfung. Seine Ablösung von den Eltern war alles andere als einfach. Aber ist es das je?

Wer mehr als die Kostprobe der ersten zwei Sätze haben möchte, der lese zumindest die erste Seite. Wer die gelesen hat, wird das Buch wohl nicht gleich wieder weglegen.

Peter Weiss: Abschied von den Eltern. Suhrkamp, 1961.

Wolf und Haas, Anfänger und Hasardeur

Wolf Haas: Komm, süsser Tod_cover«Jetzt ist schon wieder was passiert.
Aber ein Tag, der so anfängt, kann ja nur noch schlechter werden. Das soll jetzt nicht irgendwie abergläubisch klingen. Ich gehöre bestimmt nicht zu den Leuten, die sich fürchten, wenn ihnen eine schwarze Katze über den Weg läuft. Oder ein Rettungsauto fährt vorbei, und du musst dich sofort bekreuzigen, damit du nicht der nächste bist, den der Computertomograph in hunderttausend Scheiben schneidet.
Und Freitag der Dreizehnte sage ich auch nicht. Weil es ist Montag der 23. gewesen, wie der Ettore Sulzenbacher mitten in der Pötzleinsdorfer Strasse gelegen ist und zum Steinerweichen geheult hat.»

Es gibt Leute, die mögen es nicht, wenn sie von Wildfremden geduzt werden. Denen würde ich Wolf Haas nicht empfehlen, denn der duzt jeden, der seine Krimis liest! Andererseits ist das ja vielleicht nur ein Pseudonym, das mit dem Wolf und dem Haas, ich meine, tönt doch irgendwie verdächtig. Wie dem auch sei, empfehlen tue ich ihn trotzdem, unbedingt sogar, nur schon deshalb, weil er ein blutiger Anfänger ist. Blutig, versteht sich von selbst für einen Krimi, aber Anfänger, nicht so wie Sie jetzt vielleicht meinen, nein, wirklich, der kann anfangen, da hört alles auf.
Ein Haas-Krimi beginnt in der Regel so: «Jetzt ist schon wieder etwas passiert.» Gut, gefällt vielleicht nicht jedem. Aber ich mag so was, umso mehr als ich mich in der Regel schwertue mit Anfängen und deshalb nicht ungern in eine Geschichte reingeritten werde. Und wenn ich mal drin bin, bleibe ich auch gern und schaue genüsslich zu, wie der Haas Wolf mit der Sprache herum schwadroniert, sie solange biegt, bis sie bricht und ein Aufschrei durch die Feuilletons geht: Gebrochene Sprache, kaputte Grammatik!

Wolf Haas: Komm, süsser Tod. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2000. 224 Seiten.

Tatsachen als Roman

«Der kleine Ort Holcomb liegt in der Weizenhochebene von West-Kansas, einer abgeschiedenen Gegend, die selbst Einheimische als ‹hinterm Mond› empfinden. Mit seinem harten, blauen Himmel und der wüstenklaren Luft gemahnt der gut siebzig Meilen östlich der Grenze zu Colorado gelegene Landstrich eigentlich eher an den Wilden als an den Mittleren Westen. Der Akzent, den man hier spricht, ist der näselnde Singsang der Prärie, der Viehtreiber und Rancharbeiter, und die meisten Männer tragen Frontier Trousers – die derben, schmal geschnittenen Baumwollhosen der Pioniere –, einen Stetson und spitze Stiefel mit hohen Absätzen. Das Land ist flach, und man hat nach allen Seiten einen herrlich weiten Blick; Pferde, Rinderherden, eine Gruppe weißer Getreidesilos, schlank und anmutig wie griechische Tempel, sind für den Reisenden bereits von weitem zu erkennen.»

Truman Capote: Kaltblütig (Orig. In Cold Blood; in der Übersetzung von Thomas Mohr).
Zürich: Kein & Aber, 2007. / München: Goldmann, 2009.

Gleich zwei sehenswerte Filme haben sich  mit der Entstehungsgeschichte dieses ersten «Tatsachenromans» befasst und zeigen Capote und Harper Lee bei ihren Recherchen in der Provinz.

  • Capote. USA 2005. Regie: Bennett Miller. Nach der Biografie Capote: A Biography von Gerald Clarke. Mit Philip Seymour Hoffman (Truman Capote), Catherine Keener (Harper Lee), Clifton Collins jr. (Perry Smith), Chris Cooper (Alvin Dewey).
  • Infamous. USA 2006. Regie: Douglas McGrath. Nach der Biografie Truman Capote: In Which Various Friends, Enemies, Acquaintances and Detractors Recall His Turbulent Career von George Plimpton. Mit Toby Jones (Truman Capote), Sandra Bullock (Nelle Harper Lee), Daniel Craig (Perry Smith), Jeff Daniels (Alvin Dewey).

 

 

Der langweiligste Romananfang der Literaturgeschichte

Die Rede ist von Theodor Fontanes Effi Briest. Wer sich den ersten Satz antun will, hier bitte:

In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstrasse, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiss und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein grosses, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf.

 

Doch Achtung: Man lasse sich nicht vom schnörkelhaften Einstieg täuschen. Wir haben es hier mit einem der bedeutendsten Romane einer Epoche zu tun, der vor Sprengkraft nur so strotzt. Die Ehetragödie entlarvt die scheinheilige Moral der damaligen preussischen Gesellschaft.

Fontane verwendet eine hochtrabende Sprache und verschachtelt Teilsätze. Dadurch ergeben sich vielschichtige Aussagen, die wohl nur Theodor Fontane so zu Papier bringen kann. Laienschriftsteller sollten die Finger von dieser Technik lassen.

 

Theodor Fontane: Effi Briest. dtv.

 

It was a dark and stormy night

«It was a dark and stormy night; the rain fell in torrents — except at occasional intervals, when it was checked by a violent gust of wind which swept up the streets (for it is in London that our scene lies), rattling along the housetops, and fiercely agitating the scanty flame of the lamps that struggled against the darkness.»

Unter dem Titel Bulwer-Lytton Fiction Contest wird jährlich ein Wettbewerb um den grässlichsten Romananfang ausgetragen. Geehrt wird damit der viktorianische Autor Edward George Bulwer-Lytton, dessen Roman Paul Clifford (1830) mit den Worten «Es war eine dunkle und stürmische Nacht» beginnt. – Snoopys Romane fangen übrigens auch immer so an: «It was a dark and stormy night.»

Mit einem Knalleffekt beginnen

«Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten.»

In diesem Romananfang stecken vier Wochen Arbeit. «Ich mag Bücher, die mit einem Knalleffekt beginnen», sagt der Autor in der Druckfrisch-Sendung vom 28.10.2012. «Wenn man das macht, stellt man einen Wechsel aus. Den muss man dann später auch einlösen.»

Richard Ford: Kanada. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Berlin: Verlag Hanser Berlin, 2012. 464 Seiten.

 

Ein Aussteiger steigt ein

«Der Tag, nach dem im Leben von Raimund Gregorius nichts mehr sein sollte wie zuvor, begann wie zahllose andere Tage.»

Was ist das, was das Leben der Hauptfigur derart auf den Kopf stellt? Das Rätsel im ersten Satz ist Programm des gesamten Romans.

 

 

Der Buchtitel enthüllt schon mal etwas: Es wird jemand einen Nachtzug nach Lissabon nehmen. Und das ist der Lateinlehrer Gregorius.

Hals über Kopf bricht Gregorius mit dem Alltagstrott. Mitten im Unterricht verlässt er das Berner Klassenzimmer. Die Ursache für seien Wandel ist – wie könnte es anders sein – der Reiz einer Frau, die ihm auf seinem Weg zur Arbeit begegnet ist. Nicht allein die Anmut der Portugiesin, sondern vor allem die Schönheit der Sprache in einem portugiesischen Buch, das ihm in die Hände fällt, verdreht Gregorius komplett den Kopf. Er beschliesst sich aus dem Staub zu machen und steigt in den Nachtzug nach Lissabon ein.

Allmählich vollzieht sich die Verwandlung des pedantischen Lateinlehrers Gregorius in … – ja, in was denn eigentlich? Des Rätsels Lösung ist das Rätsel des Leben selbst.

Der philosophisch angehauchte Roman belohnt den Leser mit Lebenseinsichten, die noch lange nach der Lektüre nachklingen.

Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon. München: btb.

Die Verfilmung mit Jeremy Irons in der Hauptrolle ist aktuell im Kino zu sehen.

«Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende»

 

 

 

 

 

 

 

 

So beginnt Triste Tropiques, der berühmte Reise- und Forschungsbericht des Menschenforschers Claude Lévi-Strauss. Über sechs Jahre hat er im  brasilianischen Urwald mit Eingeborenen gelebt.

Ein solcher erster Satz wirft daher grosse Fragen auf.

 

Destination Amazonas, Urwald

Der Ethnologe nimmt den Leser mit auf die Reise ins Unbekannte. Sie startet in Vichy-Frankreich und führt über karibische Inseln in den Amazonasdschungel. Umgeben von Lianen, Flüssen und wilden Tieren taucht der Forscher und mit ihm der Leser in eine Gesellschaft ein, die der unseren so ganz fremd ist und gleichzeitig ungeheuer fasziniert.

Das Buch ist voller spannender Geschichten und liest sich wie ein Abenteuerroman.

Selber Schuld, wer bei einem solchen ersten Satz nicht weiterliest.

 

Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.