Aller Anfang … ist leicht

Im besten Fall läuft es so: Der erste Satz zieht uns über die Schwelle und hinter uns fällt die Tür zu. Nicht umsonst heisst es, der erste Satz sei der wichtigste überhaupt, von ihm hänge das Schicksal des Textes ab. Aus dem gleichen Grund wird sprichwörtlich behauptet, anfangen sei schwierig.

Ich muss widersprechen. Aller Anfang ist leicht. Alle Türen stehen offen. Vor uns liegt ein Feld der unbegrenzten Möglichkeiten. Wer eine packend Geschichte erzählen will, hat die wirklichen Hürden und Hindernisse alle noch vor sich.

Schwer fällt am ersten Satz höchstens die Entscheidung. Die Last unendlich vieler Optionen kann einen lahmlegen. Aber wir können auch einfach alle Varianten notieren, die uns einfallen, und später entscheiden, womit wir am besten beginnen. 

Um dem Geheimnis des Anfangs auf die Spur zu kommen, sammle ich schon seit vielen Jahren erste Sätze. Offenbar bin ich da nicht der Einzige (und sicher nicht der Erste). In seinem Buch «Jemand musste Josef K. verleumdet haben …»: Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten (C.H. Beck, 2020) unternimmt auch der Germanist Peter-André Alt den Versuch, etwas Ordnung ins Chaos der Romananfänge zu bringen.

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Zu guter Letzt
Sogar ein bisschen Statistik ist dabei ganz aufschlussreich. Über 8000 Wörter machen die 250 zitierten Anfangssätze aus. Die häufigsten semantischen Begriffe (und Substantive) sind dabei:
Zeit und Jahr (je 16), Mensch und Buch (15), Welt und Geschichte (14). Das reicht zwar noch nicht für ein Rezept, ist aber immerhin schon ein Anfang.

Alles auf Anfang

In der Rubrik Romananfang, aber auch mit eigenen ersten Sätzen haben wir uns an dieser Stelle immer wieder mit dem Beginnen befasst. Im Schreiben, mit jedem Text fangen wir immer wieder ganz vorne an. Manchmal startet das Abenteuer mit einem fulminanten ersten Satz, manchmal stellt sich dieser erst viel später ein, am Ende eines langen Auswahlprozesses.

Der erste Satz, heisst es, entscheide quasi über das Schicksal eines Romans oder einer Erzählung. Da wundert es einen, dass überhaupt noch ein Autor, eine Autorin den Stift aufs leere Blatt setzen mag. Wie kommen Anfänge eigentlich zustande – und gibt es ein Rezept für den guten Start?
In seinem Essay in der Neuen Zürcher Zeitung beschäftigt sich Daniel Ammann mit den vielfältigen Möglichkeiten und Mythen des Anfangens – eine kleine Poetik der ersten Sätze.

Von Kaffeeplantagen, Plagen und langen Tagen

hasler_Ibicaba_cover_web«Dieser Traum, Barbara, von der Veredelung des Menschen. Schau dir diese Fracht an, eine Arche Noah der Elenden: Ausgezehrte, von der Maschine Kaputtgemachte, Waisen, Kranke. Ein Blödsinniger aus Matt, zwei Blinde aus dem Kanton Aargau, ein Lahmer aus dem Zürcher Oberland.»

(Eine Rezension von Amanda Wong)

Nachdenklich richtet sich Lehrer Davatz mit diesen Worten an seine junge Hausangestellte Barbara, die daraufhin nur zu schweigen vermag.

Auf einer Arche Noah nicht mit Tierpärchen, sondern mit von der Gesellschaft ausgespuckten Schweizern wie ihresgleichen beladen, gleiten sie Ibicaba entgegen, das bescheidenen Wohlstand und einen Neuanfang verspricht. Haben sie nicht alle die berauschenden Berichte aus den Auswandererzeitschriften über dieses Paradies in Brasilien gelesen, in sich aufgesogen und sich ein Bild davon gemacht! Ibicaba. „I-bi-ca-ba“, so mag es wohl ausgesprochen werden.

In dieser neuen Kolonie soll Thomas Davatz das Amt des Lehrers bekleiden. Ausgerüstet mit Schreibfeder, Reisetagebuch und mit scharfer Beobachtungsgabe muss er jedoch bald nach Ankunft feststellen, dass sich ihr gemeinsamer Traum von einem neuen Leben zu einem Alptraum entwickelt, aus welchem schnelles Aufwachen nicht möglich sein wird.

Eveline Hasler nimmt sich einem Stück Schweizer Auswanderungsgeschichte an, das sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts abspielt. Basierend auf Thomas Davatz’ Original-Reisedokumenten, vereint sie historische Tatsachen mit Fiktivem zu einem Leseerlebnis, das von Spannung, Mitgefühl, Unglaube und auch Ekel lebt.

Eveline Hasler
Ibicaba – Das Paradies in den Köpfen. 
München: dtv, 1988.
288 Seiten

Ungutes im Morgengrauen


spaetholz
«Um sieben Uhr würden sie kommen. Sie kommen immer am frühen Morgen, wenn sie etwas Ungutes vorhaben. Im Morgengrauen werden Verurteilte abgeholt. Rocco wusste nicht, wo er das gehört oder gelesen hatte. Ihm war nur, als ob er es wüsste: In der ersten Morgendämmerung finden jene, die Ungutes vorhaben, den geringsten Widerstand vor.»

Wenn ein kantiger Tessiner Altbauer in der Küche seines Hofes mit einem Militärkarabiner in der Hand auf das Ungute wartet, darf viel Helvetisches erwartet werden: Ein ordentlicher Schuss Grappa in einem Sennen-Quadratschädel und schweizerischer Wehrwillen gegen den Ausverkauf der Heimat. So wartet der Karabiner auf den rücksichtslosen Fabrikanten Korten, der seine Villa unbedingt auf der Schafswiese hinter seinem kleinen Hof hat bauen müssen und nun per Gerichtsbeschluss auch noch Roccos Lebensbaum fällen lassen will. Soll der speckige Fabrikant nur kommen!

Aber das Helvetische hat noch andere Nuancen: die Verschandelung der Heimat, sprich früher war alles besser. In gutschweizerischer Manier schreibt hier ein Deutschschweizer Autor von einem Tessiner Bergbauern, der sich gegen alles Neue sträubt: gegen den Stausee, gegen fliessend Wasser im Haus, gegen Strom. Ganz nach dem Motto: «Das hatte man früher nicht und brauchte es auch nicht.»

Zweifelsohne nicht ungut ist, wie Kauer von Ungutem erzählt. Im Gegenteil, gut kann er erzählen, der Kauer Walther, ausserordentlich gut sogar.

Wie’s rauskommt, soll hier nicht verraten werden. Aber nur so viel: Es gibt viel Ungutes am Ende, aber anders als erwartet und trotzdem irgendwie gleich.

Walther Kauer
Spätholz.
2. Auf. Basel: Lenos Pocket, 2015.
230 Seiten.

Im «dreck nest», wo alles beginnt

Seltsame Schleife«BUENAVENTURA, schreibt er, ist ein dreck nest – wobei: ein dreck nest mit drei hundert tausend einwohnern, jenseits von allem was ich mir vorgestellt hatte – aber hier, also, bin ich auf die welt gekommen.»

Mit der Rechtschreibung hat es dieser Erzähler nicht sonderlich. Und wenig erfreut ist der in diesem «dreck nest» Geborene über die Tatsache, ebendort zur Welt gekommen zu sein. So viel sei vorab von diesem Roman verraten: Dörflinger, der unterkühlte Computernerd, erzählt von seinem Road Trip in den südamerikanischen Dschungel und wird angesichts der ihm wiederfahrenden Abgründe noch über ganz anderen Dinge «not amused» sein.

Mit dem Autor Rolf Niederhauser führte Alex Rickert ein Gespräch über den wohl kühnsten Schweizer Roman aus dem Jahr 2014. Das Interview mit Rolf Niederhauser lesen Sie im «Schweizer Monat». Die Rezension folgt in der Dezemberausgabe des «Literarischen Monats».

Rolf Niederhauser
Seltsame Schleife.
Zürich: Rotpunktverlag, 2014.
727 Seiten

Utopische Reise

Reise nach Kalino«Seit Julius Werkazy zurückdenken konnte, teilte er Probleme in zwei Kategorien ein: in solche, denen er ausweichen konnte, wie unbezahlte Rechnungen, und in solche, die er wohl nie loswerden würde, wie seinen eigenen Namen.» Bald hat der Detektiv alter Schule noch ganz andere Probleme am Hals. In der geheimnisvollen und futuristischen Stadt Kalino, in der die ewig jungen Menschen keinen Tod kennen, wurde ein Mord verübt. Der Gründer höchstpersönlich lädt Werkazy ins abgeschottete Paradies ein, um den Fall zu lösen. Aber wie sich zeigt, verbergen sich hinter den glücklich-oberfächlichen Fassaden auch dunkle Abgründe. Werkazy hält sich nichts ans Protokoll und mischt sich gleich am ersten Tag unters Volk. Wissen die Kalinianer, wie ihnen geschieht? Leben sie tatsächlich in einem Himmel auf Erden oder sind sie in einem seelenlosen Höllenlimbus gefangen?

Radek Knapp spielt geschickt mit utopischen Motiven und Elementen der Science-Fiction, erzählt aber eine altmodische Detektivgeschichte, die auf verblüffende und verstörende Weise den Irrsinn unserer Welt spiegelt.

Radek Knapp
Reise nach Kalino.
München u. Zürich: Piper, 2012.
255 Seiten

Reisen macht sprachlos

«Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Dies fiel mir schon ziemlich früh auf.»Cover Aichinger

Auf diese Provokation von Ilse Aichinger in den ersten Buchzeilen ist man geneigt zu kontern: Sind es nicht gerade die Begegnungen mit dem Fremden, die einem die Augen öffnen? Zugestanden: Nicht jeder Autor gewinnt dem Reisen so viel ab wie ein Christoph Ransmayr. Charles Baudelaire zum Beispiel scheiterte gründlich. Als er im 19. Jahrhundert per Schiff nach Indien wollte, um auf andere Gedanken zu kommen, hielt er es nur bis La Réunion aus. Er nahm dort das nächstbeste Schiff zurück in seine Pariser Heimat. Die ihm bekannten Wege inspirierten ihn weit mehr als alles Fremde.

Auch Isle Aichinger geht immer wieder die gleichen Wege. Konkret: jenen zwischen ihrer Wohnung in einem Wiener Hochhaus und dem Café «Demel». Dort findet sie ihre Geschichte(n). Die Aufzeichnungen beginnen am 11. September 2001 mit dem Attentat auf New York und enden mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Elfriede Jelinek. Man darf gespannt sein, wie weit Aichinger mit ihren Reiseutensilien – Papier und Bleistift – kommt.

Ilse Aichinger
Unglaubwürdige Reisen
Frankfurt am Main: Fischer, 2005. 187 Seiten

Also …

«Also, es fängt damit an, dass ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke.»

FaserlandWelche Geschichte wird uns die Person wohl erzählen? Der Buchtitel Faserland und die  Kapitelüberschrift «Eins» helfen nicht weiter. Wir wissen einzig: «Es» fängt jetzt an. Die Frage ist was? Möglicherweise ist «es» die Anekdote, die man einem Kumpel erzählen würde. Vielleicht beginnt hier auch eine Reise. Die Person befindet sich ja auf Sylt und trinkt ein Bier.

Einen zusätzlichen Hinweis liefert eines der Referenzzitate vor Romanbeginn:
«Give me, give me – pronto – Amaretto»
(The Would-Be-Goods)

So viel soll verraten sein: Die Person ist ein steinreicher Schnösel mit grossem Durst. Zwischen Partys und Hoffnungslosigkeit reist er von Sylt bis nach Kilchberg an den Zürichsee. Beim Erscheinen des Buches 1995 erntete es von den Feuilletons 90 Verrisse und nur 2 lobende Rezensionen. Mittlerweile hat das Buch Kultstatus und wurde in acht Sprachen übersetzt. Zu seinen Verehrern gehören unter anderem Daniel Kehlmann und Harald Schmidt, der den Autor Christian Kracht auch mal in seine Late Night Show eingeladen hat.

Christian Kracht
Faserland.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995. 166 Seiten.

Das Gegenteil eines Krimis

das-groessere-wunder_hoch«Das Gestern stand klar vor ihm, das Soeben schwand, zerfloss, ungreifbar und verbraucht. An seinem Zelt wurde der erste Leichnam vorbeigetragen, notdürftig bedeckt mit einer im Wind flatternden Plane.»

So viel vorweg: Diese Leiche wird nicht der einzige Tote bleiben, dem wir in diesem Buch begegnen. Dabei ist das Buch quasi das Gegenteil eines Krimis. Die Hauptfigur, Jonas, begleiten wir als Leser einmal auf der Achterbahnt seiner Jugend und einmal auf einen Trip auf den Mount Everest.

Ein Schicksalsschlag im Jugendalter treibt Jonas in eine endlose Suche nach dem Extremen. Mit allem, was er hat, sträubt er sich gegen das Erwachsenwerden. Er reist um die Welt, lebt mal als Einsiedler mitten in Rom, mal als Rucksacktourist in Elendsvierteln und begegnet schliesslich Marie, seiner grossen Liebe. Der Roman ist ein rauschender Roadtrip und ein Fest des Hedonismus. Stellenweise übertritt er jedoch die Grenze zum Kitsch. Das Buch entwickelt aber eine derartige Sogwirkung, dass man es, einmal angefangen, nicht mehr aus den Händen gibt. Es ist lange her, seit ich einen Roman so schnell verschlungen haben wie diesen – ein grösseres Wunder.

Thomas Glavinic
Das grössere Wunder.
München: Hanser Verlag, 2013. 528 Seiten.

Ein junger Pfarrer auf Abwegen

Der Beginn des Romans geht so: Leine_244771_MR.indd

«Die Witwe ist aus freiem Willen hier hinaufgegangen, niemand hat sie dazu gewzungen. Sie hat die Läuse aus ihren besten Kleidern geklopft und sich dann angezogen, ihr Haar im Urineimer des Gemeinschaftshauses gewaschen und hochgesteckt.»

Der Roman erzählt vom jungen Pfarrers Morten Falk, der nach katholischen Gesichtspunkten ein grosser Sünder ist. Er sucht das sexuelle Abenteuer mit einem androgynen Jungen, liest lieber in Rousseaus Schriften als in der Bibel, stiehlt und führt Abtreibungen durch. Nichtsdestotrotz ist einem der Pfarrer sympathisch. Getrieben von Lebenshunger und aufklärerischen Idealen reist er als Missionar am Ende des 18. Jahrhunderts von Kopenhagen in eine dänische Kolonie in Grönland, wo alles anders ist, als er es erwartet hatte.

Mit Humor und Tragik erzählt Kim Leine vom Schicksal eines modernen Menschen, dem es unmöglich ist, seine eigene Integrität zu wahren. Das Buch ist ein grosses Lesevergnügen.

Kim Leine: Ewigkeitsfjord (Hanser, 2014, 635 Seiten)

Mit Kim Leine zum Schauplatz des Romans gehen:
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