Die Lücken im Text der Geschichte – Nachruf auf E.L. Doctorow

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Der amerikanische Romancier E. L. Doctorow in seinem Haus in Sag Harbor, New York. Aufgenommen am 19. 8.2009. (Bild: Gordon M. Grant/The New York Times)

In seinen Romanen hat E. L. Doctorow reale und fiktive historische Figuren und Ereignisse virtuos amalgamiert. Damit sicherte er sich einen Platz in der ersten Liga der zeitgenössischen US-Literatur. Zu seinen prominentesten Lesern gehörte US-Präsident Barack Obama, nannte dieser doch E. L. Doctorow neben Shakespeare seinen Lieblingsautor. Mit linksliberaler Haltung leuchtete Doctorow zahlreiche Winkel der amerikanischen Geschichte aus und überraschte bis zuletzt immer wieder mit frischer Stimme. Nun ist diese Stimme, die im deutschen Sprachraum dank den Übersetzungen von Angela Praesent ein adäquates Pendant gefunden hat, verstummt. Doctorow verstarb im Alter von 84 Jahren in New York.

Artikel von Thomas Hermann in der NZZ vom 23. Juli 2015, S. 43.

Denkbar einfach

Die Welt ist komplex – das Leben kompliziert. Eine Fülle an Daten und Informationen macht die Sache nicht einfacher. Oft verstellen die Details sogar den Blick aufs Ganze. Zum Glück ist unser Hirn aber so angelegt, dass wir in der Komplexität Muster erkennen und intuitiv das Wesen der Dinge erfassen.

weibel_Simplicity_cover_webIn seinem Buch Simplicity (NZZ Libro 2015) erzählt Benedikt Weibel von faszinierenden Fallbeispielen und erhellenden Erfolgsgeschichten. Sein Loblied auf die Einfachheit verhehlt dabei nicht, dass der Weg zur simplen Lösung nicht selten beschwerlich und verworren verläuft. Wer Vielschichtiges reduzieren will, muss sich durch die Tiefen der Komplexität hindurch kämpfen. Einfachheit liegt eben nicht an der Oberfläche.

kahneman_Schnelles_Denken_cover_webWie wir rasch zu Entscheidungen gelangen und Komplexität austricksen, untersucht Daniel Kahneman in Schnelles Denken, langsames Denken (Pantheon 2014). Der Psychologe und Nobelpreisträger geht kognitiven Verzerrungen auf den Grund und zeigt, wie Vereinfachungen unser Urteilsvermögen trüben. Die Denkfehler bringen zwar Vorteile, aber bei manchen Aufgaben lohnt es sich, mehr als das Bauchgefühl zurate zu ziehen.
Expedition_ins_Gehirn_cover_webWas es bedeutet, wenn Komplexität die Oberhand gewinnt und Details nicht mehr gefiltert werden, zeigt die dreiteilige Reportage Expedition ins Gehirn (DVD 2006 / YouTube). Superbegabte lösen extreme Rechenaufgaben im Kopf, verfügen über ein gigantisches Erinnerungsvermögen oder sind masslos kreativ. Aber viele dieser Genies leiden unter Autismus und sind den einfachen Anforderungen des Alltags kaum gewachsen.

(Kurzrezension aus den Medientipps der Zeitschrift «Akzente» 2 (2015): S. 39.)

Benedikt Weibel, Simplicity – die Kunst, die Komplexität zu reduzieren. 3. Aufl. Zürich: NZZ Libro, 2015. 175 Seiten. / Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken. Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt. 11. Aufl. München: Pantheon, 2014. 622 Seiten. / Expedition ins Gehirn. 3-teilige Wissenschaft-Doku (3 x 45 Minuten). Buch, Regie, Produktion: Petra Höfer und Freddie Röckenhaus. München: TR Verlagsunion 2006.

Auf dem Schulweg

Foto: © Odd Andersen, Keystone
Foto: © Odd Andersen, Keystone

«Auch der Schulweg bildet.» Das verspricht etwa die Webseite schulweg-bildet.ch. Kinder, die ihren Schulweg alleine oder mit ihren Peers zurücklegen, lernen Selbstverantwortung zu übernehmen, sich im Strassenverkehr selbständig zu bewegen und können sich «ungestört mit Gleichaltrigen austauschen», wie es auf
der Seite heisst. Wer möchte da widersprechen. Nicht überall auf der Welt stellt der Verkehr aber die grösste Gefahr dar. Das Bild mit den drei Buben zeigt, wie ein Schulweg in einem Kriegsgebiet aussehen kann. Das schöne Wetter und die Gelassenheit, mit der sich die Jungen auf dem Heimweg bewegen oder pausieren, kontrastieren scharf mit dem Trümmerfeld, das sie durchqueren. Was lernen diese Kinder wohl auf ihrem Schulweg?

Der Fotograf Odd Andersen hat das Bild am 10. Dezember 2001 aufgenommen. Sechs Tage zuvor wurden hier bei einem Luftangriff ein Polizist getötet, mehrere Schulkinder verletzt und dutzende Gräber zerstört, wie es in der Legende zum Foto bei Keystone heisst. Dass das Bild in Gaza aufgenommen wurde und dass die Gebäude und der angrenzende Friedhof von israelischen Kampfjets zerstört worden sind, spielt in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle. Die Liste von Kriegsgebieten ist derzeit so lange, dass die drei Buben stellvertretend für zahllose Kinder verschiedener nationaler oder ethnischer Gruppen stehen, die täglich massiven Bedrohungen ausgesetzt sind.

(Fotografisches Fundstück von Thomas Hermann aus der Zeitschrift «Akzente» 2 (2015): S. 42.)

Wo Lehrpersonen im Kanton Zürich ausgebildet wurden

Im hep Bildschirmfoto 2015-07-14 um 07.46.10verlag ist der von Andreas Hoffmann-Ocon herausgegebene Band «Orte der Lehrerinnen- und Lehrerbildung» erschienen. Es ist eine Geschichte der Zürcher Lehrer/innenbildung entlang ihrer Ausbildungsstätten bis hin zum aktuellen Campus. Die Publikation basiert auf der gleichnamigen Ausstellung, die vom Zentrum für Schulgeschichte zur Campus-Eröffnung 2012 durchgeführt worden ist.  Ein Beitrag im Buch wirft einen Blick in die Schweizer Lehrerzeitung der 1950er-Jahre, wo Sarah Schlachetzki und ich fragen, welche Motive besonders häufig fotografisch gezeigt werden und was wir daraus über die damalige Zeit lernen können.

Hier gibt’s das Inhaltsverzeichnis und eine Leseprobe als pdf-Datei:  ortderlehrerbildung

Eine 17-Jährige lässt es krachen

frascella_Bet_coverMit ihrer direkten Art stösst die 17-jährige Turinerin Bet alle vor den Kopf. Hinter der rebellischen Verschlossenheit und kaltschnäuzigen Coolness steckt aber kein aufmüpfiger Teenager, sondern eine junge Frau, die dem Leben und sich einiges abfordert. Bet ärgert sich über Schwachköpfe und Tussis in der Schule, feige Spanner und über Frauen, die sich schikanieren lassen. Als ein Streik gegen die drohende Entlassung ihrer Mutter gewaltsam beendet wird und Bet erfährt, dass ihr in Rom lebender Vater gar nicht die Absicht hat, nach Turin zurückzukehren, schlagen Ohnmacht und Trauer endgültig in Wut um.
Christian Frascella lässt seine Heldin mit Verve und Witz erzählen und wartet mit einem furiosen Finale auf. Bet wird zur Stimme einer Generation, die ungehalten, aber sicher nicht gleichgültig ist.
– Daniel Ammann

Christian Frascella
Bet empört sich.
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 2015. 286 Seiten. Ab 14 Jahren.

Erschienen in «Bücher am Sonntag» vom 28.6.2015, S. 12.

Tutorinnen und Tutoren schreiben für «Akzente»: Die Studi-Kolumne 2/15

Akzente_2015-2_Blog_coverSeit 2009 schreiben die Tutorinnen und Tutoren des Schreibzentrums für das Magazin der PH Zürich. In Heft 2/2015 von «Akzente» zum Thema «Heterogenität – Umgang mit Vielfalt im Schulalltag» wundert sich Gabriel M. Sánchez auf Seite‎ 27 über ominöse ‹unisichtbare Hände›, die den Markt regulieren.

Ausstudiert – die Studierenden-Kolumne:
Gabriel M. Sánchez: «The Invisible Hand» (und als PDF hier).

Produktives Aufschieben

Voller Esprit und Selbstironie nimmt sich der amerikanische Philosoph John Perry in The Art of Procrastination (dt. Einfach liegen lassen) einer Schwäche an, die den meisten nur zu gut vertraut ist. Statt der Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben, wenden wir uns lustvoll etwas anderem zu. Wir verplempern kostbare Zeit im Internet, starten ein neues Projekt oder widmen uns hingebungsvoll einer Mail-Anfrage, deren Beantwortung weder eilt noch in dieser Ausführlichkeit gerechtfertigt ist.Procrastination Workshop postponedWie Perry in seinem erfrischenden Plädoyer zeigt, hat das keineswegs mit Faulheit, Willensschwäche oder mangelnder Disziplin zu tun. Viele der strukturierten Aufschieber, wie er sie nennt, sind sogar ausgesprochen tüchtig und produktiv. Sie arbeiten einfach lieber an Dingen, die nicht zuoberst auf der Prioritätenliste stehen – zumindest so lange, bis etwas Unwichtigeres dazwischenkommt oder der Abgabedruck einer anstehenden Arbeit unerträglich wird. Das hat auch Vorteile, denn was wir liegen lassen, erledigt sich zuweilen von selbst.

Kurzrezension aus den Medientipps der Zeitschrift «Akzente» 2 (2015): S. 38.

Einfach liegen lassen von John Perry
John Perry
Einfach liegen lassen: Das Buch vom effektiven Arbeiten durch gezieltes Nichtstun.
München: Goldmann, 2015. 125 Seiten.

 

arte-Beitrag über John Perry und «The Art of Procrastination» unter tracks.arte.tv/de/art-procrastination

Trittsteine zum effizienten Schreiben

mayer_300_Tipps_coverAlle paar Wochen – so fühlt es sich an – erscheint ein neuer Ratgeber zum wissenschaftlichen Schreiben im Studium. Die durchwegs gut gemeinten Handreichungen beschäftigen sich mit der Vorbereitung und Strukturierung schriftlicher Arbeiten, der Literaturrecherche, dem Ausformulieren des Textes und der gewissenhaften Überarbeitung und Schlussredaktion. Angereichert wird das Ganze mit allerlei Tipps zur Zeitplanung, für die Layout-Gestaltung, das Zitieren oder den kreativen Umgang mit Schreibblockaden. Weil beim Verfassen einer grösseren Arbeit einiges an Anforderungen und Ansprüchen zusammenkommt, fühlen sich nicht alle Studierende dem wissenschaftlichen Schreiben gewachsen. Da tut Hilfe not.
Philipp Mayer fügt den zahlreichen Leitfäden und Handreichungen kein weiteres Manual hinzu. Vielmehr fasst er das Wichtigste noch einmal zusammen und reiht seine 300 Tipps wie Kalendersprüche auf. Die kurzweiligen Merkpunkte und Gebote bringen vieles auf den Punkt, was es für Novizen wie Schreiberfahrene zu beherzigen und immer wieder zu üben gilt. Jedes der elf Kapitel schliesst zudem mit Lektüre-Empfehlungen zur weiteren Vertiefung.
Die Anregungen sind zwar thematisch gruppiert, aber ein Schlagwortregister wäre für den schnellen Zugriff dennoch von Nutzen. Ausserdem handelt es sich bei manch einem Tipp um eine Plattitüde, die im Schreiballtag nicht ohne Weiteres umzusetzen ist. «Lassen Sie Ihre Texte wachsen so wie Perlen wachsen», heisst es da fast poetisch. «Ergänzen Sie bei jeder Sitzung eine weitere Schicht.» – Schön und gut, aber wie das funktioniert, lässt sich nur durch kontinuierliche Praxis und Geduld entdecken.

Philipp Mayer
300 Tipps fürs wissenschaftliche Schreiben.
UTB 4311. Paderborn: Schöningh, 2015. 138 Seiten.

Embedded Fiction

Phil Klay: Wir erschossen auch HundeWenn ein Autor seinen ersten Geschichtenband mit einem Dank an die lieben Tanten «Aunt Mimi, Aunt Pixi» und an die von der Familie «schwer vermisste Aunt Boo» beschliesst und dazu noch der Schreibwerkstatt für Kriegsveteranen seine Reverenz erweist, erwartet man vom betreffenden Opus eher Verarbeitungsprosa der simpleren Art, womöglich im Selbstverlag erschienen. Genau das trifft auf Phil Klays Erzählungen über den Irak-Krieg nicht zu.

Ausführliche Besprechung von Thomas Hermann in der NZZ vom 28. März 2015, S. 64.

Phil Klay
Wir erschossen auch Hunde.
Aus dem Amerikanischen von Hannes Meyer.
Berlin: Suhrkamp-Verlag,  2014. 301 Seiten.

«Der Wilde Hossten»

Buchcover

Endlich ist der neue Jamic da! Jamic, der im bürgerlichen Leben Johannes Stauffer heisst, sich selber aber James Stoicovic nennt und damit auf seine angeblich bosnischen Wurzeln anspielt, nimmt uns mit auf den Balkan, den «Wilden Hossten».

Damit wären wir auch gleich beim typischen Jamic-Stil, der Verschmelzung und Verballhornung: sei es terminologisch wie im Falle von Bonanzas Hoss und Osten, eben zu Hossten, oder inhaltlich, wenn er in Kusturica-Manier eine Gipsy-Brass-Band auf Winnetou und Old Shatterhand treffen lässt.

In seinen früheren Werken hat er zum Beispiel E. T. auf der Titanic auftreten lassen: E. T. funkt nach Hause, was auf dem Schiff für eine bizarre Hoffnungseuphorie sorgt. Oder er lässt den 1. Weltkrieg durch eine Pestwelle zu Ende bringen. In einem seiner raren Interviews verrät er uns den Grund seines Verschmelzungs-Faibles. Als Kind sei er vom Film-Monster King Kong versus Godzilla so fasziniert war, dass er ihn mindestens 1000 Mal gesehen habe, 250 davon rückwärts und bis heute künstlerisch nicht davon losgekommen.

Mit Der Wilde Hossten gelingt ihm wieder eine Genre-Verschmelzung. Dabei steht dem Buch das surrealistische Moment gut an. Zum Beispiel, wenn Winnetou mit seinem zur Querflöte umgeschnitzten Tomahawk gegen die Brass-Wand von Brogevic andudelt und das Ganze schliesslich in einem infernalen Gegurke endet. Dem Dada setzt dann Sam Hawkens die Krone auf, wenn er mit den Apachen zusammen aus seiner Perücke einen Putzlappen für die Tuba flechtet.

Ein weiteres typisches Jamic-Stilmittel, die Behauptung, mit denen er frühere Geschichten ordentlich gesalzen hat, ist in diesem Buch doch eher zu viel des Guten. So hätte er eigentlich einfach sagen können, Winnetou und Konsorten seien aus einem Karl-May-Film in Kroatien entronnen. Punkt. Stattdessen lässt er Brogevic behaupten, die Indianer stammten ursprünglich aus Kroatien und seien von den Wikingern nach Amerika verschleppt worden, ausser eben Winnetou und seine Apachen. Das überzeugt wenig, und originell ist es auch nicht.

Dazu kommen Jamics hanebüchene historischen Verdrehungen und plumpen Bezüge, mit denen er das Balkangulasch endgültig versalzt: «Brogevic»  ist natürlich eine Anspielung auf Goran Bregovic, damit es auch der Hinterste und Letzte versteht. Muss das sein?! Oder maue Wortkapriolen, wenn er Brogevic immer wieder zu Winnetou sagen lässt: «Winne, tu’ dies, Winne, tu’ das.» Macht nicht wirklich Freude!

Gegen Ende ist dann alles historisch verschwirbelt und die Geschichte derart verstrickt – Old Shatterhand ist nun auf einmal kein Mensch mehr, sondern ein Mechanoid aus Hoxas Albanien, der von den Jelzin persönlich gesteuert wird – dass es nicht mehr zum Dabeisein ist.

Was anfänglich ein heiteres Balkan-Beaten und wildes Hossten war, wird jetzt zum Balkenbiegen in dicker Sosse. Jamic wäre gute beraten gewesen, hätte er nach der Hälfte Schluss gemacht. Die Figuren entgleiten ihm und alles mündet in einer grotesken, wüsten und letztlich auch unmotivierten Publikums- und Autorenbeschimpfung.

Trotzdem, ein Lesegenuss ist der neue Jamic allenthalben, sofern sich die Leser*innen an den guten alten Diätgrundsatz halten: FdH (Friss die Hälfte).

Jamic
Der Wilde Hossten.
Krönlitz: Mandalassie-Verlag, 2015.
1543 Seiten.