Der Drachenflieger

Leila Nyffenegger

Der Wind streicht über seine Nähte, hebt ihn fast an. Die Schnur an seinen Seiten gespannt, der Drachenflieger steigt. Höher und höher, bis er nur noch ein tanzender Punkt im Blauen ist. Er spürt jede Bewegung, jede Böe, als wäre sie Teil von ihm. Der Himmel ruft, und mit jedem Meter fühlt er sich leichter.

(c) Leila Nyffenegger

Seine Seile lösen sich von der Erde, sein Körper streckt sich der Sonne entgegen. Der Wind trägt ihn, nein, verwandelt ihn. Nähte werden zu Schuppen, Stoff wird zu Flügeln, die sich mit einem majestätischen Schlag entfalten. Ein heisser Atem glüht in seiner Brust. Kein Spielzeug mehr, keine Freizeitbeschäftigung – er ist ein Drache.

Mit donnernden Schwingen jagt er durch den Himmel, steigt in die höchsten Strömungen, taucht durch goldene Wolken. Unter ihm breiten sich Felder, Wälder und Dörfer aus wie Muster eines vertrauten Teppichs. Er spürt die Kraft in seinem Leib, das Feuer, das tief in ihm flackert. Ein letztes Mal reisst er das Maul auf und speit Flammen in den sinkenden Tag. Die Glut tanzt in der Luft, verweht mit der Dunkelheit.

Dann spürt er, wie die Schwere zurückkehrt. Der Wind verliert seine Stimme, die Flügel werden wieder Stoff, die Schuppen verblassen. Langsam, ganz langsam sinkt er herab. Die Schnur ist wieder fest im Boden verankert. Der Drachen segelt herab, sanft, als hätte er nie losgelassen.

Reglos liegt er auf dem Gras, die Schnur um ihn herum. Die glitzernden Funken auf den Nähten sind erloschen. Ein letzter Blick zum Horizont zeigt die Sonne, die mit dem Feuer untergeht.

Er ist wieder ein Drachenflieger.

Leila Nyffenegger ist Tutorin am Schreibzentrum der PH Zürich.

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