Kunst lebt in dir

von Anonymous

«Kunst lebt in dir» steht plakativ über dem Eingang des Kunsthauses geschrieben. Du schüttelst den Kopf. Solch ein klischeehaft klingender Spruch. Gemeinsam betretet ihr die Eingangshalle. Deine Begleitung ist ein alter Freund aus der Schule. Heute hat es endlich geklappt, dass ihr beide Zeit habt. An der Kasse kauft ihr zwei Tickets für die Ausstellung mit dem Titel «Sonnen auf Untergängen». Dein Freund meint: «Mit solch einem schlechten Wortspiel kann es ja nur gut werden.» Du schmunzelst.  

Beim Eintreten in den ersten Raum der Ausstellung überkommt dich auf einmal ein komisches Gefühl. Alles zieht sich in dir zusammen und du fühlst dich unwohl. Deine Begleitung scheint davon nichts zu merken und läuft schnurstracks zu den Ausstellungsgegenständen. «Ich komme gleich», rufst du ihr nach. Doch dir geht es so gar nicht gut. Alles beginnt sich zu drehen. Pulsierende Lichter. Diese verdammten Pilze …!

Als du dich wieder ein wenig gesammelt hast und das Drehen sich beruhigt hat, stehst du vor einem mosaikartigen Wandgemälde. Es sieht aus wie ein Sonnenaufgang über dem Meer. Dein Schulfreund ist weit und breit nicht zu sehen. Doch etwas anderes fällt dir ins Auge. Die Wellen auf dem Bild fangen langsam an sich zu bewegen. Langsam aber sicher beginnt das ganze Wandbild zu atmen und kommt dir unglaublich nahe. Du willst einsteigen in die Mosaiksteine. Hineinschwimmen in die sich immer wieder brechenden, weiss schäumenden Wellen. Du streckst deine Hand aus und bist kurz davor, den Sprung in die fremde Welt zu schaffen. Doch dann spürst du plötzlich eine warme Hand auf deiner Schulter. «Komm wir gehen kurz eine Pause machen. Du hast wirklich ein wenig zu viel gehabt», meint eine vertraute Stimme. 

Und bei deiner nächsten Erinnerung seid ihr beide schon wieder draussen. Du hättest doch so gerne noch die Welt aus diesem Wandbild ein wenig näher kennengelernt. Dieses Meer bei Sonnenaufgang zu geniessen war alles, was du in diesem Moment wolltest. Doch jetzt war er vorbei. So abrupt wie er gekommen war. Und du bist wieder draussen im kalten, grauen, aber doch ach so schön herbstlichen Zürich. Du schaust nach oben und siehst wieder den Schriftzug über dem Eingang des Kunsthauses: «Kunst lebt in dir». Er lacht dir zu.

Anonymous studiert an der PH Zürich

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