Thesen zu «Digitalisierung» und «Schule»

Peter Holzwarth

In den letzten Jahren hat das schwedische Schulsystem eine intensive Phase der Digitalisierung erlebt. Doch in jüngster Zeit zeichnet sich eine Gegenbewegung ab, die verstärkt auf analoge Lehrmethoden setzt (s. Links unten). Die folgenden Thesen beziehen sich auf diese Debatte, die in ähnlicher weise in verschiedenen Ländern geführt wird.

  1. Mit den Begriffen «Digitalisierung» und «Schule» wird sehr viel Unterschiedliches assoziiert (z. B. digitale Geräte im Unterricht nutzen, Schülerinnen und Schüler für das digitale geprägte Leben kompetent machen, individualisierte Lernprozesse ermöglichen, Lerndaten sammeln und verarbeiten, mit Programmen wie Zoom oder Teams online unterrichten,  Arbeitsblätter digital abgeben statt als Kopie, Texte auf Monitoren vs. Texte auf Papier lesen, digitale Schuladministration, Tech-Firmen, die in die Schule wollen, um später von Käuferinnen und Käufer zu profitieren, totale digitale Überwachung von Schülerinnen und Schülern (vgl. China), Digitalisierung als weitere Belastung für Lehrpersonen, Digitalisierung als Entlastung für Lehrpersonen, Ablenkung durch schulfachfremde Funktionen auf digitalen Geräten, KI in der Schule, Verlust von kritisch-reflexiven Kompetenzen durch KI/ChatGPT, Untergrabung der elterlichen Medienerziehung durch schulischen Zwang zum mobilen Gerät, …). Je nach Assoziation können die Argumente sehr unterschiedlich ausfallen. Bei unterschiedlichen Bezügen können leicht Missverstöndnisse entstehen. Es ist daher sinnvoll bei einer Debatte die Bezüge transparent zu machen.
  2. Hinter politischen Entscheidungen in Bezug auf «Digitalisierung» und «Schule» können neben dem Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern immer auch noch andere Motive stehen (z. B. bestimmte Berufsbranchen fördern, Bildungsinstitutionen öffnen für die Interessen der IT-Wirtschaft (vgl. Niesyto 2021), Kosten einsparen, Personalmangel ausgleichen, Regierungen, die in ihrer Amtszeit das Schulsystem sichtbar prägen wollen).
  3. Medien wurden schon oft zum Sündenbock gemacht, wenn gesellschaftliche Probleme auftreten. Der Fokus auf Geräte an sich ist leichter als konkrete schulische Lernsetting in den Blick zu nehmen.
  4. Bildschirmzeit: Bei der Diskussion um Bildschirmzeiten sollte immer auch die Reflexion von Bildschirminhalten und Nutzungskontexten mitgedacht werden. „Welcher Mensch schaut mit wem in welchem Kontext wie lange welche Inhalte und welche Bedeutungen werden dabei konstruiert?” (vgl. Holzwarth & Lieger 2024).
  5. Medienkompetenzvermittlung/Medienkompetenzerwerb muss nicht nur bedeuten digitale Geräte zu benutzen (vgl. im Kontext Informatik: «Informatik ohne Strom»: https://ilearnit.ch/de/stromlos.html).
  6. In der Schule über Medienerfahrungen und menschliche Werte im Kontext von Medien, Digitalisierung und KI zu reden ist eine Aktivität, die sich ohne digitale Geräte und ohne Internet vollziehen kann.
  7. Es kommt auf die Balance von digitalen und analogen Lernszenarien an.
  8. Die Nutzung von digitalen Geräten allein ist noch kein Garant für modernen innovativen Unterricht. Auch mit digitalen Tools kann sehr traditionell unterrichtet werden.
  9. Naturerfahrung und die Nutzung von medialen Geräten sollten nicht in einer Entweder-Oder-Logik diskutiert werden. Ein Spaziergang im Wald kann beispielsweise mit digitalen Fotokameras dokumentiert werden, z. B. eine Kollage mit Fotos von verschiedenen Baumrinden, eine Fotoserie mit unterschiedlichen Blattformen oder Makro-Aufnahmen von Moosen und Flechten).
  10. Es kommt auf die konkrete didaktische Einbettung und Kontextualisierung von digitalen Hilfsmitteln an, nicht nur auf das Gerät an sich.
  11. Der direkte erfahrungsbasierte Vergleich von digitalen und analogen Techniken kann für Schülerinnen und Schülerhilfreich sein (z. B. Bild mit Farben auf Papier malen vs. Bild auf dem Tablet malen).
  12. Gegen digitale Geräte in der Schule sein muss nicht heissen, dass man auch gegen Medienkompetenzvermittlung/Medienkompetenzerwerb ist.
  13. Es wird aktuell viel darüber diskutiert, wie Handys und Tablets im Schulischen Kontext genutzt werden können, es wird aber zu wenig oder gar nicht diskutiert, wie Schülerinnen und Schüler mit medialer Ablenkung umgehen lernen können (Selbstregulation, Exekutive Funktionen: Fokus auf eine Aufgabe, ohne sich ablenken zu lassen).
  14. Es muss klar unterschieden werden: die Mediennutzung der Schülerinnen und Schüler im Schulkontext und der Umgang mit privaten Handys im Umfeld der Schule.
  15. Es macht einen Unterschied, ob jemand gegen digitale Geräte an sich ist oder gegen digitale Geräte in einer bestimmten Altersgruppe.
  16. Eine intensive Nutzung von digitalen Geräten in der Freizeit ist kein Argument gegen Thematisierung von digitalen Phänomenen oder Nutzung digitaler Geräte im Kontext von Lernen und Bildung. Gerade bei einer intensiven Freizeitnutzung ist die Thematisierung in der Schule wichtig. Nicht alle Familien können dies leisten.
  17. Ein sinnvoller Umgang mit KI/ChatGPT kann auch über Experimentieren mit ChatGPT gelernt werden (z. B. selbst ein Gedicht schreiben vs. Chat GPT ein Gedicht schreiben lassen und dann Produkte und Lernprozesse vergleichen).
  18. Ein problematischer Umgang mit KI/ChatGPT kann dazu führen, dass Nutzende sich auf das Erstellen von Prompts beschränken und gar nicht mehr selbst schreiben.  Damit könnten wichtige Lernprozesse verloren gehen, beispielsweise die Fähigkeit, KI-generierte Ergebnisse aufgrund eigener Schreiberfahrungen kritisch zu bewerten, das kritische Denken und der Erkenntnisgewinn, der durch das eigene Schreiben entsteht.
  19. Empirische Studien zum Lernerfolg mit und ohne digitale Geräte sind nicht immer eindeutig (vgl. Middendorf 2024). Es spielen sehr viele Einflussfaktoren eine Rolle und diese lassen sich in Forschungskontexten nicht immer sauber kontrollieren.
  20. Schulisches Lernen muss auf die Gegenwart und die Zukunft ausgerichtet sein. Es stellt sich nicht die Frage ob, sondern wie junge Menschen auf eine zunehmend medial und digital geprägte Gesellschaft vorbereitet werden sollen.

Literatur und Links:

Holzwarth, Peter & Lieger, Catherine. 2024.  “Medienkompetenz und Spielkompetenz für die «Generation lebensunfähig»”. merz | medien + erziehung 2024/5. München: kopaed, S. 69-75 (im erscheinen)

Niesyto, Horst. 2021. “‚Digitale Bildung‘ wird zu einer Einflugschneise für die IT-Wirtschaft”. In: medien + erziehung, HeX 1/2021, S. 23-28. https://horst-niesyto.de/wp-content/uploads/2021/02/2021_Niesyto_digitale_Bildung_IT-Wirtschaft_Langfassung.pdf

Middendorf, William. 2024. PISA 2022 und die Integration digitaler Medien in den Unterricht. Erkenntnisse und der Umgang mit Herausforderungen. 2024, 12 S. – URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-283814 – DOI: 10.25656/01:28381 https://www.pedocs.de/volltexte/2024/28381/pdf/Middendorf_2024_PISA_2022_und_die_Integration.pdf

https://die-pädagogische-wende.de/wp-content/uploads/2023/07/Karolinska-Stellungnahme_2023_dt.pdf

https://www.regeringen.se/contentassets/d818e658071b49cbb1a75a6b11fa725d/karolinskainstitutet.pdf

https://beat.doebe.li/bibliothek/a01535.html

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