Wer bist du, wenn du niemand sein musst?

Tutor Nicolas Schmid
(Illustration: Elisabeth Moch)

Mit dieser Frage habe ich mich im letzten halben Jahr immer wieder auseinandergesetzt. Doch die Frage fühlt sich schwer an – so schwer, dass wenn sie mir durch den Kopf schwirrt, mein Körper merkt, wie die Schwerkraft einsetzt und mich langsam in Richtung Boden zieht.

Ich liege gerade auf der Couch und starre an die Decke. Um mich herum ist es still. Diese Stille gibt mir ein Gefühl, das sowohl angenehm als auch unwohl zugleich ist. Nun lausche ich tief in mich hinein – so tief, dass ich beinahe den Boden unter mir verliere und ich in die endlose Unendlichkeit meines Daseins verschwinde. Ich höre die Schreie undefinierbarer Gedanken, die aufeinanderprallen. Sie verlangen nach Ordnung und kaum greifbaren Antworten.

Wie selten bin ich nur für mich, frei von allen Rollen und Obligationen unserer Leistungsgesellschaft? Im Jetzt bin ich kein Lehrer, kein Student, kein Mitarbeiter, Bruder, Sohn oder Freund – nur mich und die Abgrundtiefe meiner Gedanken. «Wer bin ich?», rede ich im Dialog zu mir selbst. «Wer will ich sein?», «Was will ich sein?». Seit knapp 25 Jahren lebe ich mit mir – Tag für Tag – und doch scheine ich mich kaum zu kennen.

Kann ich das überhaupt noch? Mir selbst zuhören? In einer reizüberfluteten Welt, gefolgt von stetiger Erreichbarkeit und des immer Daseins – wenn auch abwesend – stehen wir konstant unter Strom und in Bewegung, mit nur seltenen Momenten für uns allein.

Fragen über Fragen, eine Aneinanderreihung verschiedenster Ereignisse meines Lebens – alles in meinem Kopf. Der scheinbar kurze Moment dehnt sich weiter und weiter bis hin zur Unendlichkeit. Ich merke, wie meine Augen immer schwerer werden, mein Körper sinkt immer tiefer in die Couch, sie hüllt mich ein mit altem Stoff und trägt mich wie auf Wolken durch meine Wohnung. Nun ja, das wars wohl mit der Lebensphilosophie. Morgen ist ein neuer Tag. 

Liebe Leserinnen und Leser: Wann hast du dir das letzte Mal zugehört und dir die Frage gestellt, wer du bist, wenn du gerade niemand sein musst?

Nicolas Schmid studiert an der PH Zürich und arbeitet als Tutor im Schreibzentrum.
Der Text ist erschienen als «Gastspiel»-Kolumne im Magazin für die Mitarbeitenden der PH Zürich, inside 1/2022, S. 21.

Ein Gedanke zu „Wer bist du, wenn du niemand sein musst?“

  1. Nein, so hat sich die Frage in mir nicht gestellt, doch ich teile gerne mit dir folgende Gedanken:

    WO GEHT ES ZUM SEIN
    Im Niemandsland will ich dir als Jemand begegnen,
    will dich erfahren, erfühlen und begehren,
    doch dieser Wunsch bleibt mir verwehrt,
    und das ist weder richtig noch verkehrt,
    denn eines Tages fällt mir ein,
    vielleicht ein Niemand zu sein.

    Als dieser Niemand gehe ich nun durch die Welt,
    ob sie mir nun besser gefällt?
    Nein, denn jetzt fehlt mir Jemand,
    mit dem ich alles teilen kann,
    Jemand durch den ich erst zum Niemand geworden,
    bereitet mir doch jetzt allen Ernstes Sorgen.

    Hey du, lass uns von jetzt an zusammen weitergehen,
    lassen wir die alten Ideen stehen,
    und schauen wir auf den Moment,
    wo Ich als Niemand sich im Du als Jemand erkennt,
    und die Welt anhebt zum Singen,
    und wir als das Eine erklingen,
    im Niemandsland, wo alles begann,
    und die Ewigkeit allen voran,
    sich verneigt vor der Zeit für ein Tänzchen fein,
    denn da, da ist Sein.
    Herzlichst
    Melissa

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert