(Un-)Ordnung muss sein: Zwischen Flexibilität und Systematik in der Weiterbildung

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Beitrag von Markus Weil

Weiterbildung soll flexibel sein, angepasst an individuelle Bedürfnisse, zeitlich frei gestaltbar, modularisiert. Das alles sind legitime Ansprüche. Wenn sich gleichzeitig der Ruf nach Anrechenbarkeit und Zertifikaten hinzugesellt, stehen Bildungsinstitutionen vor einigen Herausforderungen. Nach innen bringt Weiterbildung eine gewisse Unordnung in die Tertiärstufe des Bildungssystems. Nach aussen bedarf es verständlicher Worte, die gleichzeitig hohe Flexibilität und eine gewisse Systematik deutlich machen.

«Ordnung ist das halbe Leben»

Schön ordentlich: Die eigene Bildungsbiografie lässt sich im schweizerischen Bildungssystem einordnen. Wo sind Sie entlanggegangen?

Quelle: SBFI 2019

Was bringt der Blick auf diese ordentliche Darstellung des Bildungssystems? Es wird unterschieden zwischen Primar-, Sekundar- und Tertiärstufe und Weiterbildung, die manchmal auch als Quartärstufe bezeichnet wird (z.B. im Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrats, 1970). Vertikal gibt es verschiedene Typen von Bildungsinstitutionen und -abschlüssen beruflicher und allgemeiner Natur. Diese Strukturierungsleistung dient der rechtlichen und administrativen Verortung, der Orientierung für den persönlichen Bildungsweg, der Vergleichbarkeit, Zugangsberechtigung bis hin zu Finanzierungsbedingungen. Die eindeutigen Fälle sind – wenn auch im historischen Wandel – meist gut verortet und systematisiert. Flexibilität im schweizerischen Bildungssystem lässt sich im Wechsel zwischen den verschiedenen horizontalen und vertikalen Einordnungen aufzeigen. In der Darstellung ist dies mit «üblicher Weg» und «möglicher Weg» gekennzeichnet. Aber Ordnung ist eben nur das halbe Leben.

«Jede Ordnung ist der erste Schritt auf dem Weg in neuerliches Chaos»

Spannend wird es bei Fragestellungen, die nicht so einfach zu beantworten sind. Wenn wir den Fokus auf das beidseitig eingezeichnete Band «Weiterbildung» in der Darstellung richten, stellen sich bereits auf den ersten Blick Fragen nach «üblichen und möglichen Wegen». Nehmen wir uns exemplarisch den Quadranten vor, der mit «Hochschulen» und «Tertiärstufe» gekennzeichnet ist. Seit der Bologna-Reform um die Jahrtausendwende wurde das europäische Hochschulsystem in Bachelor, Master und PhD/Doktorat gegliedert – in einigen Fällen zusätzlich mit Diplomen oder Abschlüssen zur Berufsbefähigung. Aber: Fachhochschulen, Pädagogische Hochschulen und Universitäten in der Schweiz bieten nicht nur diese Tertiärbildung an, sondern treten im vierfachen Leistungsauftrag (Studium, Forschung, Dienstleistung und Weiterbildung) immer auch als Weiterbildungsanbietende auf. Parallelen lassen sich in der höheren Berufsbildung oder bei Berufsfachschulen aufzeigen, die ebenfalls Weiterbildungsfunktionen wahrnehmen. Es zeichnen sich gewisse Herausforderungen ab, im Bildungssystem mehrere Funktionen abzudecken und gleichzeitig als Hochschule wahrgenommen zu werden: Die Hochschule als Weiterbildungsanbieterin.

Quelle: Adobe Stock

«Unordnung ist eine Uhr ohne Zeiger»

Haben Sie schon einmal von CAS, DAS und MAS gehört?  In Weiterbildungsprogrammen hat sich an Hochschulen diese Systematisierung von Certificate, Diploma und Master of Advanced Studies etabliert. Ausserhalb der Schweiz lösen diese Begriffe meist fragende Blicke aus. Es handelt sich nicht um ein bologna-konformes europäisches System, sondern um eine Ordnungsleistung für Weiterbildung an schweizerischen Hochschulen. CAS, DAS und MAS können nicht von anderen Bildungsstufen angeboten werden. Sie unterliegen schweizweiten Konventionen, ohne jedoch zum formalen Bildungssystem zu zählen. Sie sind und bleiben Weiterbildung. Nicht nur die Systematik lehnt sich an Bachelor, Master, PhD/Doktorat an, auch wird Workload in ECTS-(Weiterbildung-)Punkte (Europäisches System zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen) umgewandelt, welche allerdings nicht automatisch als ECTS-(Studiums)-Punkte für die Studienangebote anrechenbar sind. An Hochschulen wird in den Weiterbildungsprogrammen oftmals auf das gleiche Personal sowie auf ähnliche methodisch-didaktische und curriculare Konzepte zurückgegriffen wie in den Studiengängen, so zum Beispiel für das Verfassen von Abschlussarbeiten. Unterschiedlich zum Hochschulstudium sind Finanzierungsmechanismen, Adressat:innen und die gesamte Angebotspalette, in der CAS, DAS und MAS nur einen Bruchteil ausmachen und im Kontext von  internen Weiterbildungen, Beratungen, Tagungen, Kursen, Workshops und vielem mehr zu denken sind.

«Wer Ordnung hält, ist zu faul zum Suchen»

Es folgen vier Vorschläge, wie das systematische und institutionelle Verhältnis von Hochschulbildung und Weiterbildung gedacht werden könnte.

Quelle: Gonon/Weil 2021. Dieses Schema kam in der Publikation von Gonon/Weil 2021 zum Einsatz, wo eine internationale Verortung der schweizerischen CAS-DAS-MAS-Besonderheit vorgenommen wurde.
  1. Separat: Hochschulen fokussieren auf Bachelor-, Master- und PhD-Programme. Diese Programme sind nicht für die Weiterbildung geöffnet. Weiterbildungsprogramme werden ausserhalb von Hochschulen angeboten und angerechnet.
  2. Institutionell integriert, systematisch separat: Eine Bildungsinstitution bietet neben Hochschulausbildung auch Hochschulweiterbildung an. Beide Systeme operieren separat, Infrastruktur und Personal werden gemeinsam genutzt.
  3. Institutionell separat, systematisch integriert: Weiterbildung und Hochschulbildung können gegenseitig angerechnet werden, werden aber von unterschiedlichen Anbietenden ausgebracht.
  4. Integriert: Hochschulausbildung und Hochschuldweiterbildung sind Teil desselben Rahmens. Die Angebote sind offen für Studierende und Weiterbildungsteilnehmende.

Diese Überlegungen haben praktische Konsequenzen:

  • Wo muss der Workload absolviert werden, der zu einem ECTS-Punkt führt?
  • Wird diese Leistung für weitere Angebote angerechnet?
  • Wer bezahlt die Bildungsleistung?

Die Antwort auf diese Fragen kann je nach Modell ganz unterschiedlich ausfallen. Insofern schadet ein wenig Systemkunde auch mit Blick auf ein einzelnes Angebot nicht.

(Un-)«Ordnung muss sein»

Weiterbildung, die an Hochschulen stattfindet, hat das Potenzial, die Hochschule zu irritieren. Sie kann im besten Fall Hochschulen noch mehr für die Gesellschaft öffnen, indem sie Angebote für die breite Allgemeinheit zugänglich macht – mit und ohne Abschluss. Im Gegensatz zu akkreditierten und hoch reglementierten Studienprogrammen kann Weiterbildung Angebote in kompakten Formaten schnell umsetzen und eine unordentliche Dynamik zu einem späteren Zeitpunkt bei Bedarf systematisieren. Das eigene Ordnungssystem in der Schweiz mit CAS, DAS und MAS schafft dafür die notwendige Verbindlichkeit.

Wünschenswert wäre, dass zukünftige schematische Darstellungen des Bildungssystems mehr Durchlässigkeit definieren. Wo sind die Pfeile «übliche und mögliche Wege» von den Hochschulen zur Weiterbildung und umgekehrt? Im erweiterten Sinne setzen sich bereits ebenso viele Beteiligte mit Fragen zu Validierungsmöglichkeiten und Kompetenzanerkennung auseinander, wie zu curricularen Überlegungen zum Verhältnis von Praktika, Exkursionen und Selbststudium.  Ordnungsleistungen im Bildungssystem sind dabei sehr wichtig, damit wir uns auf Abschlüsse und Wege auch verlassen können. Neben der Systematisierung besteht der Anspruch nach möglichst hoher Flexibilität im Bildungssystem. Fragen zur Unordnung sind erwünscht, teils irritierend, teils innovativ. Was meinen Sie zu den vier vorgeschlagenen Modellen im Verhältnis zu Hochschul- und Weiterbildung? Muss (Un-)Ordnung sein?

INFOBOX

Publikationen zum Thema

Philipp Gonon, Markus Weil. Continuing Higher Education Between Academic and Professional Skills.

Katrin Kraus, Markus Weil. Der Leistungsbereich Weiterbildung im institutionellen Kontext: zum reflexiven Potenzial der Pandemiesituation für das organisationale Lernen von Pädagogischen Hochschulen.

Markus Weil, Balthasar Eugster. Thinking outside the box. De-structuring continuing and higher education.

Zum Autor

Markus Weil leitet die Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Seine Schwerpunkte sind Schnittstellen zwischen Berufsbildung, Weiterbildung und Hochschullehre.

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