Beitrag von Ulrike Hanke
Wie würde sich ein Bildungssystem auf Hochschulstufe heute entwickeln, wenn es kein tradiertes gäbe? Angestossen durch das Buch «Disrupt yourself» von Christoph Keese, einen Artikel «Disrupt HR» von Christian Böhler und auch durch viele interessante Persönlichkeiten, denen ich in den sozialen Medien folge, beschäftige ich mich derzeit mit dieser Frage. Auch wenn ich unsicher bin, wage ich es, meine Ideen hierzu mit Ihnen zu teilen. Ein Disclaimer vorab: Meine Überlegungen, die ich hier zur Diskussion stelle, möchte ich nicht als richtig oder unumstösslich verstanden sehen. Sie sind eine Diskussionsgrundlage.
Gewohntes wird nicht über Bord geworfen
Unser derzeitiges Bildungssystem ist gewachsen und trägt offensichtlich starke Züge vergangener Zeiten mit anderen Voraussetzungen. Für viele scheint klar, dass dieses System in diversen Punkten nicht mehr zeitgemäss ist. Aber wie es mit gewachsenen Dingen immer ist: Sie werden selten komplett verworfen, sondern immer nur schrittweise und mit viel Mühe an neue Gegebenheiten angepasst. Denn Menschen fällt es schwer, gewachsene Dinge ganz über Bord zu werfen und sich von ihnen vollständig zu lösen.
Deshalb möchte ich mit meinem Gedankenexperiment auf der «grünen Wiese» beginnen.
Ein Gedankenexperiment
Ich gehe dabei von folgenden Rahmenbedingungen aus:
- Es gibt kein Bildungssystem auf Hochschulstufe.
- Es gibt keine Institutionen wie Hochschulen und Universitäten, die Lehre anbieten, Prüfungen abnehmen und Zertifikate verteilen.
- Folglich sind auch Zugänge zu Positionen und Berufen nicht geregelt.
Auch unter diesen Voraussetzungen müssten junge Menschen Wege und Möglichkeiten finden, ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenleben zu leisten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie müssten also Tätigkeiten nachgehen, bei denen sie Geld verdienen. Wie würden sie Zugang zu diesen Tätigkeiten erhalten?
Ich gehe bei meinem Gedankenexperiment davon aus, dass – wie heute schon –
- Informationen und Informationsquellen überall und für alle leicht zugänglich sind,
- die Welt sich rasch verändert,
- die Halbwertszeit von Wissen sehr kurz ist.
Menschen müssen sich folglich ständig weiterentwickeln, um in komplexen Situationen handlungsfähig zu bleiben.
Um in der dieser Welt einen (Arbeits-)Platz zu finden, müssen junge Menschen zu Expertinnen und Experten in einem Feld werden und müssen diesen Expert*innen-Status nachweisen. Die Aufgaben, vor der die jungen Menschen stehen, sind also folgende:
- Wissen im eigenen Feld erwerben
- Erfahrungen sammeln
- Expert*innen-Status nachweisen
Wie liessen sich diese Aufgaben ohne bestehendes Hochschulsystem leisten?
Aufgabe 1 : Wissen erwerben – wie geht das unter diesen Voraussetzungen?
Auf den ersten Blick scheint es unter diesen Voraussetzungen für junge Menschen leicht, neues Wissen zu bekommen: Das Internet ist voller Informationen. Doch welchen können sie trauen? Wie finden sie die «richtigen» Informationen?
Hier sehe ich einen ersten Bedarf: Die jungen Menschen werden Unterstützung darin suchen, wie sie möglichst schnell und effizient zu den richtigen Informationen kommen.
Und wie finden sie diese Unterstützung?
Vermutlich werden sie sich in der heutigen vernetzten Welt, mit vermeintlichen Expert*innen in ihrem Feld vernetzen, ihnen in den sozialen Medien etc. folgen. Auch Institutionen, die vermeintlich verlässliche Informationen zur Verfügung stellen, werden sie nutzen.
Aufgabe 2: Erfahrungen sammeln – wie geht das unter diesen Voraussetzungen?
Um Erfahrungen zu sammeln, um in einem Feld wirklich kompetent zu werden, müssen junge Menschen Expert*innen über die Schulter schauen, selbst unter Anleitung handeln und Feedback bekommen.
Es wird also einen Bedarf an praktischer Anleitung und individueller Unterstützung in Praxissituationen geben.
Die jungen Menschen müssen sich also Expert*innen suchen, die sie dabei unterstützen, erste Schritte in der Praxis zu gehen.
Aufgabe 3: Expert*innen-Status nachweisen – wie geht das unter diesen Voraussetzungen?
Um ihren eigenen Status als Expertin oder Experte nachzuweisen, werden jungen Menschen in die Öffentlichkeit gehen und eigene Arbeitsproben veröffentlichen, ihr Können darstellen müssen.
Es wird deshalb einen Bedarf an (virtuellen) «Orten» geben, wo junge Menschen sich und ihre Arbeit präsentieren können, wo sie von potenziellen Arbeit- oder Auftraggeber*innen wahrgenommen werden. Damit jedoch potenzielle Arbeit- oder Auftraggeber auch von der Qualität der Arbeitsproben überzeugt werden können, benötigen alle Menschen Unterstützung aus einer Community/einem Expert*innen-Netzwerk, die bzw. das sich selbst Qualitätskriterien setzt, diese veröffentlicht und auf deren Einhaltung achtet.
Vermutlich werden sich also in verschiedenen Feldern Communities und Netzwerke etablieren, die nach aussen glaubhaft vertreten, dass ihre Mitglieder Qualität gewährleisten.
Wo besteht also ein Bedarf?
Aus den obigen Annahmen und Überlegungen ergibt sich ein Bedarf an
- verlässlichen Informationen,
- persönlicher Unterstützung beim Sammeln von Erfahrungen, und
- Communities, die den Status von Expert*innen bescheinigen.
Bildungsinstitutionen der Zukunft
Ausgehend von diesen Überlegungen, nehme ich an, dass Plattformen und Portale entstehen würden, die gegen ein Entgelt, vermutlich über eine Mitgliedschaft, Informationen verschiedener Felder systematisch und verlässlich, sowie ständig aktualisiert zur Verfügung stellen. Dies deckt den Bedarf, dass Informationen jederzeit und überall schnell abrufbar, verlässlich und aktuell sein sollen.
Des Weiteren wird es Unternehmen und Expert*innen geben, die jungen Menschen Einblicke in konkrete Praxisfelder geben und ihnen Personen an die Seite stellen, die sie beim ersten Agieren in der Praxis unterstützen. Stellt sich hier die Frage, die ich derzeit überhaupt nicht beantworten kann, wie dies finanziert wird. Werden gar die Menschen, die diese Unterstützung und diese Einblicke in die Praxis möchten, selbst bezahlen müssen? Oder übernehmen Unternehmen diese Aufgabe, um sich ihren eigenen Nachwuchs zu sichern?
Und als drittens werden sich aus meiner Sicht Communities/Netzwerke etablieren (diese gibt es mehr oder weniger stark institutionalisiert bereits heute), die in ihrer Funktion mittelalterlichen Zünften ähneln und deren Mitglieder sich gegenseitig die Qualität ihrer Arbeit bescheinigen.
Ausblick: Und die Hochschuldidaktik?
Auch die Hochschuldidaktik muss sich anpassen. Gerade in diesem Bereich ist der Bedarf an verlässlichen Informationen gross. Es werden Netzwerke aufgebaut, deren Mitglieder voneinander profitieren und sich gegenseitig ihre Qualität garantieren. Ohne komplett disruptiv zu sein, gibt es bereits Schritte in diese Richtung.
- Ein Blog wie dieser des ZHE der PH Zürich möchte verlässliche Informationen bieten (weitere Hochschuldidaktik-Blogs betreiben z.B. die Universität Kiel, die PH Luzern oder Personen wie Gabi Reinmann oder Martin Lehner).
- Auch die Seite www.hochschuldidaktik-online.de, deren Verantwortliche die Autorin dieses Beitrags ist, hat den Anspruch, gebündelt verlässliche Informationen rund um die Hochschullehre zur Verfügung zu stellen. Dort gibt es auch einen Newsletter und einen Blog.
- Ein weiteres Portal für Hochschuldidaktik betreiben die TU Darmstadt und e-teaching.org.
- Zu erwähnen sind natürlich auch klassische Communities wie z.B. DGHD (Deutsche Gesellschaft für Hochschuldidkaktik) im deutschsprachigen Raum, EARLI SIG 04 (Higher Education im europäischen Raum) oder ICED.
Communities von Menschen mit einem Interesse an der Hochschullehre und Hochschuldidaktik gibt es ebenfalls bereits, z.B:
- Die geschlossene Facebook-Gruppe Hochschuldidaktik
- Das Hochschulforum Digitalisierung, das sowohl verlässliche Informationen zusammenträgt, Events organisiert und Expert*innen vernetzt.
Ein spannendes Beispiel ist der Mitgliederbereich von Connie Malamed, die Unterstützung im Bereich des Lehrens und Lernens (Instructional Design) bietet.
Expertinnen und Experten der Hochschuldidaktik tauschen sich ausserdem über Twitter aus und sind auch über LinkedIn vielfach vernetzt.
Diese Beispiele dienen mir als erste Evidenzen dafür, dass die Entwicklung tatsächlich in diese Richtung gehen könnte. Sehen wir mal, wie schnell. Und nun bin ich gespannt auf Ihre Reaktionen.
*Dieser Beitrag repräsentiert die persönliche Meinung der Autorin.
Zur Autorin
Ulrike Hanke ist Dozentin und Beraterin für Hochschuldidaktik und als Kurs- und Modulleiterin für das ZHE tätig. Weitere Informationen zu Ulrike Hankes Tätigkeit finden Sie hier: www.hanke-teachertraining.de