Das Curriculum zum Leben erwecken

 

Tobias Johannes Jenert

Beitrag von Tobias Jenert, Assistenzprofessor für Pädagogische Hochschulentwicklung am Institut für Wirtschaftspädagogik an der Universität St. Gallen.

 


Ich erinnere mich daran, wie wir im Team um 2010 herum aktuelle Curriculumkonzepte zusammentrugen. Wir waren damals beeindruckt von der Vielfalt der Modelle, fanden sogar einzelne «Curriculum-Rosen». Heute gehört die Entwicklung von Studienprogrammen zum Kerngeschäft vieler hochschuldidaktischer Einrichtungen und Studiengangsleitungen, von «blühenden Landschaften» sind wir in diesem Bereich allerdings weit entfernt.

Stiefkind Curriculum

Manchmal hat man sogar das Gefühl, dass Hochschulen ihre Curricula immer noch als Stiefkind behandeln: Die Lehr-/Lernforschung befasst sich für gewöhnlich mit der Mikroebene von Unterricht und Studium, nicht der Ebene von Studienprogrammen. Sie erforscht Eigenschaften von Lehrenden und Lernenden und beschäftigt sich mit didaktischen Methoden in einzelnen, zeitlich überschaubaren Veranstaltungen. Die Hochschuldidaktik hat Curricula zwar in den letzten zehn, fünfzehn Jahren (wieder-)entdeckt; sie lebendig zu gestalten scheint allerdings schwer zu fallen.

Einzelne Blume: Curriculumentwicklung zum Blühen bringen?
Wie bringen wir die Curriculumentwicklung zum Blühen?

Ein «lebendiges» Curriculum entsteht, wenn Lehrende und Studierende eine gemeinsame Vorstellung von einem gelingenden Studium entwickeln und umzusetzen versuchen. Dazu gehört die Verständigung über erstrebenswerte Ziele, spannende Inhalte oder lohnenswerte Lehr- und Lernaktivitäten. Lebendig meint auch, dass sich Curricula nicht in der Vorgabe abstrakter Programmziele, Studienpläne, Modulbeschreibungen und ECTS-Listen erschöpfen.

Mein Eindruck von Studienprogramm-Designs an vielen Hochschulen ist allerdings ernüchternd: Sie erscheinen entweder verschult und überstrukturiert oder zerstückelt und inkohärent. Wobei es an fehlenden Konzepten und Erfahrungen zur Gestaltung von Programmen eigentlich nicht liegen kann. Davon gibt es nach über 15 Jahren Bologna-Umsetzung wahrlich genug. Warum aber ist es so schwierig, Curricula zu einer lebendigen Studien- und Lehrkultur werden zu lassen?

Wissenschaftler-Ethos als Herausforderung und Chance

Eine erste Ursache sehe ich in der Struktur von Hochschulen im Allgemeinen und dem professionellen Selbstverständnis von Hochschullehrenden im Besonderen. Wer an der Hochschule arbeitet, der tut dies vor allem wegen seiner oder ihrer Leidenschaft für eine wissenschaftliche Disziplin. Dieses Ethos des Wissenschaftlers bzw. der Wissenschaftlerin ist an Universitäten vielleicht stärker ausgeprägt als an anderen Hochschultypen; ich meine aber, dass das Grundprinzip für alle Hochschullehrenden gilt. Ob sich die disziplinäre Orientierung nun auf eine Tätigkeit in der Wissenschaft oder auf eine professionelle Praxis ausrichtet – sie verträgt sich nicht immer gut mit der Gestaltungslogik von Studienprogrammen, die modular und kompetenzorientiert sein sollen.

Die Lehrenden sind gefordert, den Horizont des eigenen Spezialgebiets ein Stück weit hinter sich zu lassen, sich mit Vertreter*innen anderer Fächer zu koordinieren. Dies kann schnell ans Eingemachte gehen: Schliesslich würde eine Wirtschaftswissenschaftlerin ihrem Kollegen aus der Psychologie ja auch nicht sagen, wie er einen Forschungsbeitrag zu verfassen hat. Warum aber soll dies in der Lehre der Fall sein?

Die Begeisterung für das eigene Fach kann man also als Chance für die Gestaltung lebendiger Curricula verstehen. Gleichzeitig ist es eine Herausforderung, dass curriculare Strukturen und Vorgaben nicht als Einschränkung der akademischen Freiheit und Kreativität wahrgenommen werden.

Gestaltungsfreiheiten lassen!

Eine zweite Ursache sehe ich in einer gewissen Dogmatik, mit der gerade die Hochschuldidaktik an die Gestaltung von Entwicklungs- und Umsetzungsprojekten in der Lehre herangeht:

  • Kompetenzen sind die einzige Form, in der Ziele formuliert werden sollen! Warum?
  • Alle Elemente eines Curriculums müssen der Idee des «Constructive Alignment» folgen! Könnte es nicht Elemente geben, die bewusst funktionslos, also «misaligned» sind?
  • Bei der Festlegung von Studienzielen sollten immer auch Arbeitgeber berücksichtigt werden! Und wenn wir ein rein akademisch ausgerichtetes Curriculum entwickeln wollen?

Werden Gestaltungsmerkmale als mehr oder weniger alternativlose Blaupausen verkauft, nimmt man den zentralen Akteuren in Studienprogrammen – den Lehrenden (und zu einem gewissen Mass auch den Studierenden) – viel von ihrer Gestaltungsmacht und damit vielleicht auch den Gestaltungswillen.

Curriculum gemeinsam entwickeln
Eine lebendige Vorstellung der Studiengestaltung wird von Lehrenden und Studierenden gemeinsam erarbeitet.

Fazit: Eine Sache der Lehrenden und Lernenden

Eine lebendige Curriculumentwicklung verlangt von Lehrenden einerseits also einiges an Einfühlungsvermögen und Kompromissbereitschaft. Dessen sollten sich diejenigen, die für die Curriculumgestaltung verantwortlich sind, bewusst sein. Andererseits bieten Akademiker*innen ein einzigartiges Potenzial, Studienprogramme zum «Blühen» zu bringen: Sie brennen für ihre Disziplin. Ihre eigene Expertise weiterzugeben, ist ihnen sehr oft eine Herzensangelegenheit. Curriculumentwicklung sollte dieses Potenzial aufgreifen und als oberstes Ziel haben, die Gestaltung von Studienangeboten zu einer Sache der Lehrenden zu machen.

Und was bedeutet dies alles für Studierende? Es verlangt von ihnen ein hohes Mass an Engagement und Motivation auch jenseits von Prüfungsvorbereitungen. Innovative Curriculumentwicklung darf sich auch deshalb nicht nur auf die unmittelbar lernbezogenen Aspekte des Studiums beschränken. Es müssen auch «ideelle» Anforderungen festgelegt und kommuniziert werden. Dazu gehören u.a. Vorstellungen zum sozialen Zusammenhalt, zur gemeinsamen Lern- und Arbeitskultur im Studium oder zur Verbindlichkeit gegenüber Lehrenden und der Hochschule.

Möchten Sie noch konkreter darüber nachdenken, wie Curriculum­entwicklung gelingen kann? Das ZHE bietet am 29./30.6.2017 in Kooperation mit der Universität St. Gallen einen Kurs zur Curriculumentwicklung mit Tobias Jenert an. 

Lesetipp: 
Jenert, Tobias (2012). Studienprogramme als didaktische Gestaltungs- und Untersuchungseinheit: Theoretische Grundlegung und empirische Analyse. Dissertation, St. Gallen.

Redaktion: ZBU

E-Didaktik: Der Weg zum wirkungsvollen E-Learning

 

Verena Muheim

Beitrag von Verena Muheim, Fachspezialistin Medien und Informatik am Medien- und Didaktikzentrum MDZ und Lehrbeauftragte Pädagogik und Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Thurgau.


Katharina Burkhardtund von Katharina Burkhardt, Fachspezialistin Medien und Informatik am Medien- und Didaktikzentrum MDZ sowie Beauftragte für Marketing + Kommunikation an der Pädagogischen Hochschule Thurgau.


An Hochschulen geht ohne Lernplattformen nichts mehr. Aber führt ihr Einsatz automatisch zum Erfolg? So erzählte uns kürzlich ein Kollege – Dozent an einer Pädagogischen Hochschule, er betreibe ebenfalls viel E-Learning.
Zum Beispiel stelle er seine Materialien nur noch online zur Verfügung und spare so den Kopieraufwand. Hin und wieder stelle er auch Lehrfilme auf die Plattform. Bisher habe er sich diese jeweils gemeinsam mit den Studierenden in der Veranstaltung angesehen. Nun müssten die Studierende diese vorgängig anschauen, so habe er in der Präsenzvorlesung mehr Zeit für die Fragen der Studierenden. Allerdings sei es etwas frustrierend: Die Studierenden würden regelmässig über angeblichen Mehraufwand klagen. Sein Verhältnis zum E-Learning bezeichnet unser Kollege deshalb als zwiespältig.

Digitale Medien = E-Learning?

Aber Moment: Findet tatsächlich E-Learning statt, wenn Studierende zur Verfügung gestellte PDFs herunterladen und einige Videos anschauen? Oder provokativer gefragt: Inwiefern verbinden wir das Wort «E-Learning» überhaupt mit studentischem Lernen? Wo geht es wirklich um Lernen, wo bloss um digitale Aufbereitung von Materialien?

PLE
Alle Lernenden haben ihre persönliche Lernumgebung – analog und digtal

Digitale Medien begleiten Dozierende und Studierende im Hochschulalltag. Auf allen erdenklichen Devices wird in der Hochschule recherchiert, werden Inhalte erarbeitet und geteilt. Dabei werden nicht nur Software und Apps verwendet, die von der Hochschule angeboten werden. Die Studierenden verwenden auch weitere digitale Helfer, um ihren Studienalltag zu organisieren. Diese reichen von Wikipedia über Übersetzungsdiensten bis zu Social Media. Die Studierenden bewegen sich damit in ihrem je eigenen Personal Learning Environment (siehe dazu den Beitrag von Philippe Wampfler in diesem Blog).

Es gibt eine grosse Bandbreite an Tools und Szenarien, die als E-Learning bezeichnet werden. Häufig wird damit die Ergänzung oder Entlastung von Präsenzlehre angestrebt, z.B. indem

  • mehr Zeit für den aktiven Austausch in der Präsenzveranstaltung geschaffen wird,
  • selbstständige Arbeitsphasen von zu Hause aus begleitet werden
  • mobile Geräte sinnvoll in die Lehrveranstaltung integriert werden können.

E-Learning und E-Didaktik

Was an alledem ist nun E-Learning? Die Professorin auf Video anschauen? Statt stundenlang vor einem leeren Blatt zu sitzen, rasch eine Whatsapp-Gruppe um Rat fragen?
Und wie können Lehrende sich bei der Vielzahl zur Verfügung stehender Tools in diesem Bereich fit machen?

Vielleicht hilft es, wenn wir andere Fragen stellen: Erlernen Kinder das Fairplay besser beim Fussballspielen oder beim Hockey? Oder erlernen sie faires Verhalten am ehesten, wenn sie zuhause einen Film über Fairplay anschauen und dann darüber sprechen?
Können Sie sich nicht entscheiden? Wir auch nicht. Denn: Das Medium ist nicht der Inhalt, sondern nur ein Werkzeug im Dienste des Lernens (in Umkehrung des berühmten Diktums von Marshall McLuhan). E-Tools bewirken also per se noch kein Lernen. Die Frage ist vielmehr, wie sie didaktisch eingesetzt werden.

E-Learning - leere Hörsäle?
Leert E-Learning die Hörsäle?

Im Vordergrund steht somit die didaktische Frage, was guten (Hochschul-)Unterricht ausmacht. Denn es sind konkrete Lehr-Lern-Settings, die das Lernen der Studierenden unterstützen oder behindern. Das Ziel soll die Methode bestimmen – nicht andersrum. Auch beim Einsatz von E-Learning-Elementen. Deshalb ermöglicht erst eine E-Didaktik gezieltes E-Learning.

Zwei Denkmodelle für die Praxis

Zwei Denkmodelle, die wir im CAS Hochschuldidaktik des ZHE vertiefen konnten, sind bei der Betrachtung von E-Learning und E-Didaktik hilfreich. Beide helfen zu verstehen, dass es bei E-Learning um den bewussten Einsatz digital gestützter Methoden des Lehrens und Lernens geht. Die Planung von E-Learning-Szenarien erfordert also dieselben didaktischen Überlegungen wie die Konzeption „analoger“ Szenarien:

  • Der «shift from teaching to learning» hat sich in den letzten zwanzig Jahren als Leitmotto der Hochschuldidaktik etabliert. Hochschullehre setzt damit den Fokus nicht mehr einseitig auf die passive Stoffvermittlung. Nun werden die Lernenden sowie ihre Lernwege in den Vordergrund gerückt. Dieser veränderte Blickwinkel auf Lehren und Lernen ist bei der Konzeption von analogen und digitalen Lehr-Lernszenarien gleichermassen gewinnbringend.
  • «Constructive Alignment»: Dieses Modell besagt, dass in wirkungsvollem Unterricht drei zentrale Aspekte aufeinander abgestimmt sein müssen. Die Lernziele sind im Voraus definiert, die Unterrichtsmethodik ist auf das Erreichen der Lernziele ausgerichtet und die Leistungsnachweise prüfen, ob die Lernenden sie tatsächlich erreicht haben. Auch beim Einsatz von E-Learning-Szenarien sind diese massgeblichen Elemente zu arrangieren und in ein stimmiges Verhältnis zu bringen.
Constructive Alignment
Das Constructive Alignment ist auch beim Lernen mit elektronischen Medien zentral

E-Learning bezeichnet also nach unserem Verständnis ein digital gestaltetes Lehr-Lern-Szenario. Dieses können Lernende mal mehr, mal weniger eigenständig durchlaufen.

Umgang mit der digitalen Vielfalt: Mediendidaktisches Tranining

Der Einsatz von digitalen Medien ist für viele Lehrende nicht selbstverständlich. Herausfordernd sind die enorme Schnelllebigkeit und grosse Fülle an Technologien. Diese können zu Verunsicherungen führen. Lehrende sind auch in dieser Hinsicht gezwungen, Vielfalt zu meistern (vgl. den jüngst erschienen Beitrag zum Thema von Kerstin Mayrberger).

Aus diesen Gründen bieten die HTWG Konstanz und die PHTG im Raum Kreuzlingen-Konstanz seit einigen Jahren eine mediendidaktische Weiterbildung an. Das Mediendidaktische Training (MDT) greift den Umgang mit digitalen Möglichkeiten des Lehrens und Lernens auf und wird in Kooperation beider Hochschulen durchgeführt. Dieses Training spricht in erster Linie in der Hochschullehre tätige Personen an, ist aber grundsätzlich für alle Interessierten offen.  Im Herbst 2016 wird das MDT in überarbeiteter Form angeboten.

Das neue MDT zielt darauf, die didaktische Verknüpfung von Inhalt, Auftrag, Tätigkeit und zur Verfügung stehender Technik zu diskutieren, zu erarbeiten und zu erfahren. Die oben erwähnten Denkmodelle des «Constructive Alignment» und des «shift from teaching to learning» spielen dabei eine zentrale Rolle.

Verena Muheim besucht den CAS Hochschuldidaktik «Winterstart» 2016 am ZHE. Sie und Katharina Burkhardt arbeiten am Medien- und Didaktikzentrum MDZ der PHTG. Die beiden Autorinnen haben kürzlich das Mediendidaktische Training (MDT) der PHTG und der HTWG Konstanz überarbeitet.
 
Lesetipp:
- John Biggs (2013): Constructive Alignment in University Teaching.
- Kerstin Mayrberger: Lehren mit digitalen Medien – divers und lernendenorientiert.

Das ZHE bietet einen Kurs «E-Didaktik» an, in Kooperation mit dem Digital Learning Center der PH Zürich. Dieser richtet sich primär an Lehrende an Hochschulen sowie der Erwachsenenbildung, ist aber auch für Lehrpersonen der Sekundarstufe II interessant. Siehe auch die Rubrik «Caspars Toolbox» in diesem Blog.
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