Monique Honegger ist Gründerin und Leiterin des Schreibzentrums der PH Zürich und arbeitet u.a. als Beraterin und Dozentin mit Dozierenden und Studierenden.
An Hochschulen reflektieren alle. Lernende und Dozierende, in Aus- und Weiterbildung. Je nach Studienrichtung ausgeprägter, aber alle. Lernen in anspruchsvollerem Sinn braucht Reflexion. Das Image des Reflektierens ist aber mittelgut bis schlecht. Seien es Lerntagebücher, Lernportfolios, reflektierende Berichte, Diskussionen mit Reflexion: Studierende erleben Reflexionen wiederkehrend als Alibiübung. Warum? Was kann getan werden?
Wie Reflektieren geht und was es soll
Reflektieren bedeutet, über eigenes Lernen, Gelerntes und Nichtgelerntes nachzudenken und zu -fühlen. Unreflektiert zu sein oder die Weigerung zu reflektieren, verstösst in Berufswelt und Weiterbildung gegen Normen: Der bildungsfrohe und bildungsbewusste Mensch reflektiert und muss dies zeigen, es wird bewertet. Reflektieren bedeutet für viele Lernende vor allem zu zeigen, dass sie reflektieren. Dass es auch um einen inneren Prozess geht, wird mitunter in der Hektik des Alltags vergessen.
Deshalb ist zu betonen, dass es zwei verschiedene Formen von Reflexion gibt:
- Reflektieren als Tätigkeit (innerer Dialog): Wir denken und fühlen über eigenes Tun und (Nicht-)Lernen nach, damit wir es optimieren oder ändern können.
- Reflektieren als Kompetenznachweis (präsentierendes Reflektieren): Wir zeigen anderen Personen, dass wir reflektieren können sowie professionell handeln und lernen.
Ammann & Wyss (in Honegger, Ammann und Hermann 2015) unterscheiden drei Schritte der Reflexion:
- Ich denke über Vergangenes nach,
- fokussiere ein, zwei Aspekte, die ich analysiere, und
- plane, wie ich die Erkenntnisse umsetze.
Dieser Dreischritt funktioniert, wenn sich Lernende dafür entscheiden. Verweigern sich Lernende jedoch, beginnt der Reflexionsprozess mit Punkt 0: Ich verweigere mich. Auch das ein Denk- und Lernschritt: Festzustellen, dass ich etwas im Moment nicht lernen will oder kann.
Je älter die Lernenden, desto wichtiger
Je älter wir Lernenden sind, desto nötiger ist Reflexion. Erwachsene müssen reflektieren können, weil sie bisweilen erstarrter und unflexibler in bewussten und unbewussten Denkstrukturen kleben als heranwachsende Lernende (siehe den Artikel von Schüssler 2008: Reflexives Lernen in der Erwachsenenbildung). Innere Um- und Neuordnungen sowie offene Fragen, die auch unbeantwortet bleiben dürfen, verhindern, dass wir unreflektiert unseren Beruf ausüben. Wir vermeiden so auch, in der Arbeit in ärgerlichen Formen wiederkehrend denselben «Fehlern» zu begegnen.
Im Scheitern und aus Fehlern lernen
Reflexion bedeutet demnach, nicht nur auf das hinzuweisen, was man gelernt hat, sondern auch über Scheitern und Fehler nachzudenken. «Darf ich das meinem Dozenten zeigen?» So fragen Studierende nicht zu unrecht die Berater im Schreibzentrum. Denn manche Dozierende wollen keine Scheiterreflexion, sondern das Gelingen nachlesen. Ein Scheitern ihrer Studierenden ertragen sie schlecht, weil sie sich für deren Lernerfolg verantwortlich fühlen (siehe auch den Blogbeitrag von Geri Thomann zum Scheitern im Bildungsbereich).
Also reflektieren – aber wie?
- Mit frischen Köpfen und Herzen – eher morgens oder zu Beginn einer Stunde/Lektion
- die Mittel- oder Anfangsreflexion (anstelle der Abschlussreflexion) anregen
- Reflexionsform wählen lassen: Das bewirkt mehr Selbststeuerung, so wird Reflexion Grundlage für expansives Lernen.
- Auch mal nicht schriftlich: Es gibt Lernende, die Schreiben und Lesen mit Misserfolgserlebnissen verbinden (siehe den Artikel von Bremer 2010). Ihnen helfen Hinweise, dass sie Reflexion auch anders betreiben können: etwa beim Duschen, Joggen, Kochen, Fahrradfahren. Reflektieren ohne Schreiben erleichtert manchen, den inneren Dialog zu hören, weil so für Schreibungewohnte die kognitive Herausforderung wegfällt, alles in einen Text zu packen.
- Reflexion bedeutet auch fühlen, nicht nur denken. Lernende üben, den inneren Dialog mit sich selber zu hören und zu führen.
- Präsentierendes Reflektieren als Beleg für Reflexionskompetenz ist sinnvoll und unvermeidbar: Im Berufsalltag muss ich als Mitarbeiterin meine Reflexionskompetenz auf Kommando zeigen können, etwa bei Fehlern und deren «Behandlung». Dennoch:
- Reflexionsaufträge nicht stets mit Kompetenznachweis, Leistungsnachweisen und Kontrolle verbinden. Das erleichtert, innere vielleicht beschämende Prozesse in Gang zu setzen.
Monique Honegger ist am ZHE u.a. als Kursleiterin tätig: Arbeiten von Studierenden begleiten und beurteilen startet zum nächsten Mal anfangs 2018. Literaturhinweise: - M. Honegger, D. Ammann,& T. Hermann (2015). Schreiben und Reflektieren. Denkspuren zwischen Lernweg und Leerlauf (= Band 5 unserer Reihe «Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung»). - M. Honegger (2015): Schamerleben beim schreibenden Reflektieren. In M. Honegger, Schreiben und Scham.
Redaktion: TZM
Ich habe vier Semester lang Studierende des Masterstudiengangs Palliative Care an der Uni Bremen dabei unterstützt, in individuellen Blogs über ihr (berufsbegleitendes) Studium, ihre Arbeit und sich selbst zu reflektieren. Die gemachten Erfahrungen gehen in eine sehr ähnliche Richtung.
Was mir zusätzlich noch wichtig scheint: die Suche nach den Inhalten, den Gegenständen über die reflektiert wird, bereits als Teil Reflektions-Prozesses zu sehen und dabei offen zu sein für das, was für die Studierenden selbst wirklich im jeweiligen Kontext Relevanz besitzt.
Ja. Das Thema des Gegenstandes der Reflexion ist zentral. Möglicherweise wäre es hilfreich, Studierenden gegenüber explizit zu betonen , dass auch Scheiter-Erfahrungen und Fragen NACH Relevanz und Zweifel an Relevanz zentrale Gegenstände von Reflexion sein dürfen. Oftmals herrscht bei der “Wahl des Reflexionsgegenstandes” unausgesprochene Einigkeit darin (unter Dozierenden sowie Studierenden), dass derartige Zugänge in präsentierenden Reflexionen nicht erwünscht sind. Dies wiederum hemmt den Reflexionsprozess.
Ich glaube, dass die Suche nach einem geeigneten Gegenstand dazugehört – wo immer das möglich ist. Und ich glaube, dass es oft hilfreich ist, ein Vokabular anzubieten oder gemeinsam zu enwickeln, das die Prozesshaftigkeit, die Offenheit der Entwicklung zum Ausdruck bringt. “Scheitern” ist ein sprachlicher “Brocken” für viele, die vielleicht eher für die Vorstellung zu gewinnen sind, dass Staunen oder Stolpern, Ratlosigkeit oder Irritation notwendig sind für Lernprozesse oder Kompetenzgewinn …
Please make reflexion great again!
Danke für den Beitrag!
Dazu ein Witz, der die Ambivalenz des institutionalisierten Reflektierens zum Ausdruck bringt: “Warum werden PH-Studierende im Dunkeln nicht überfahren? – Sie reflektieren!”
David Buckingham (Medienpädagoge, UK) sprach vom “circle of action and reflexion”. Er propagiert sich abwechselnde Phasen von Handlungsorietierung und Reflexionsorientierung. Oft ist Reflexion einfacher, wenn sie sich auf konkrete Handlungen oder konkrete Produkte bezieht. Es wird auch zwischen “reflexion on action” und “reflexion in action” unterschieden.
Kann man auch im visuellen Modus refektieren? Über Fotografieren oder Malen?
Die mediale Wahl oder die Wahl der Ausdrucksform (konkret, sprachlich, abstrakt, bleibend, vergänglich) ist sicherlich zentral. Und visuelle Umsetzungen bieten sich dafür an. Jedoch geschieht wirkungsvolle Reflexion oftmals genau dann, wenn keine Spuren entstehen, die für Dozierende einsehbar sind. Auch solche Formen dürfen für die Berufspraxis während eines Studiums empfohlen werden (etwa Reflektieren beim Kochen oder eben Joggen).
Ich reflektiere anscheinend im Schlaf. Ab und zu kommen mir am Morgen Lösungen in den Sinn, obwohl ich tief und fest geschlafen habe. Toll wäre es, wenn man lernen könnte, wie man gezielt im Schlaf reflektiert. Das würde dann sicher im nächsten Lehrplan unter überfachlich zu erwerbende Kompetenz aufgeführt.
Im Volksmund spricht man davon, ein Buch “unter das Kopfkissen zu legen” – mit der Idee, im Schlaf zu lernen. Das Vorgehen wurde inzwischen durch die Hirnforschung bestätigt: Am besten wird neu erworbenes Wissen konsolidiert, also “gespeichert” und für spätere Nutzung verfügbar gemacht, wenn nach dem Lernen eine Form von Ruhephase folgt. Schlaf ist z.B. sehr effektiv, aber auch Entspannungsübungen oder Bewegung können viel bringen. Allerdings scheint mir das eher auf den Aspekt des Problemlösens fokussiert. In der Lernpsychologie wird z.B. von einer Inkubationsphase gesprochen, in der das Problem bzw. Lösungsansätze unbewusst durchgespielt werden, bevor dann am Ende bewusst eine geeignete Lösung gefunden wird. Das kann gut auch im Schlaf erfolgen. Reflektieren würde für mich aber bedeuten, bewusst über seine Vorgehensweise nachzudenken, also zu überlegen: Wie habe ich das gemacht? Wie habe ich mich dabei gefühlt? Was ist mir wie gut gelungen und weshalb?