Gelassen und mutig entscheiden

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Text: Dagmar Engfer

Der Blogbeitrag «Entscheidungsprozesse an Hochschulen: Entscheiden lassen – Entscheide steuern – Entscheide bewirken» thematisierte die Beratungstätigkeit mit lateral Führenden. Diese Führungspersonen stellten u.a. in Landkarten der Macht dar, wie Entscheidungsprozesse funktionieren. Jetzt wenden wir uns der Frage zu, wie Führungspersonen Entscheidungsprozesse erleben. Wir ergründen diese mit Prof. Dr. Christine Böckelmann, Direktorin der Hochschule Luzern – Wirtschaft und Prof. Dr. Matthias Briner, Leiter Zentrum für Ausbildung und Studiengangleiter MSc Angewandte Psychologie, FHNW.

Kein Tag ohne Entscheiden

Führungspersonen an Hochschulen fällen täglich Entscheide auf verschiedenen Ebenen, mit kurz- bis langfristiger Tragweite und auf unterschiedlichen Flughöhen. Die Folgen von Entscheidungen lassen sich, so Böckelmann, oft nur schwer abschätzen, da die Sachlage oft mehrdeutig und die Prognosen entsprechend unsicher sind. Das Risiko von Fehlentscheidungen ist gross und Entscheidungsprozesse können sich hinziehen; Betroffene müssen Unsicherheiten oft lange aushalten.

Entscheidungen sind oft schwierig, jedoch notwendig. (Bildquelle: Adobe Stock)

Sollen Mitarbeitende in Entscheidungsprozesse einbezogen werden? 

Führungspersonen in Expert:innenorganisationen sind oft mit der Erwartung der Mitarbeitenden konfrontiert, ihre Expertise einzubringen. Darin sieht Briner sowohl eine Herausforderung als auch eine attraktive Chance.

Böckelmann regt an, zwischen der Partizipation am Entscheidungsprozess selbst und dem Fällen des Entscheides zu unterscheiden. Diese Differenzierung kann helfen, die Frage des Einbezugs von Mitarbeitenden sinnvoll zu klären.

Entscheide an Hochschulen gestalten sich dann besonders anspruchsvoll, wenn divergierende Erwartungen berücksichtigt werden müssen und verschiedene Organisationseinheiten oder gar die gesamte Organisation betroffen ist, wie etwa bei strategischen oder strukturellen Weiterentwicklungen einer Hochschule.

Böckelmann betont: «Kollektive Entscheidungen sehe ich vor allem in überschaubaren Arbeitsteams und Gremien. Betrifft die Entscheidung eine grössere bzw. komplexe Organisation als Ganzes, kann es bei kollektiver Beschlussfassung zu einer Mehrheitsentscheidung kommen, welche die Anliegen und Bedürfnisse kleinerer Einheiten kaum berücksichtigt und möglicherweise auch den strategischen Zielen der Organisation widerspricht.»

Vom Unterwegs in Partizipation bis zum Mitdenken von Risiko

Briner unterstreicht ebenfalls die Relevanz der Gesamtorganisation. Die Breite der Abstützung ist je nach Grösse der Tragweite einer Entscheidung unterschiedlich. Es bereichere Entscheide, wenn die Perspektivenvielfalt verschiedener Involvierter berücksichtigt werde. Nötig dafür sei, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Gleichzeitig erhöht sich dadurch die Komplexität, Prozesse werden schwerfälliger und es wird anspruchsvoller, die gewünschten gemeinsamen Ziele zu verfolgen. Ein mögliches Vorgehen in solchen Situationen ist, in grösseren Gremien Stimmungsbilder abzuholen, nach Mehrheitsbildern zu suchen, Interessen zu erfragen und daraus eine Auslegeordnung als Entscheidungsgrundlage zu erstellen. Es lohnt sich, die Opportunitätskosten abzuwägen und sich zum Beispiel zu fragen: «Was passiert, wenn…?», «Wie sieht es mit der Balance zwischen Aufwand und Ertrag aus?». Entsprechend gehört zu Entscheiden grösserer Tragweite ein Abwägen von Chancen und Risiken.

Betreffen Entscheidungen die Arbeitssituation Mitarbeitender substanziell, sollte Partizipation am Prozess der Entscheidungsfindung eine Selbstverständlichkeit sein, so Böckelmann. Voraussetzung dafür ist, zu Beginn zu definieren, welche Fragen partizipativ bearbeitet werden und was aufgrund von Vorgaben oder Zielen der Gesamtorganisation nicht verhandelbar ist. Pseudopartizipation frustriert alle Beteiligten.

Entscheiden unter Zeitdruck

Noch ein Blick auf Nicht-Entscheide und Entscheide, die in Eile gefällt werden (müssen).

In Expert:innenorganisationen gehört der wissenschaftliche Diskurs zum Alltag. Das damit verbundene Vorgehen wirkt mitunter in Entscheidungsprozessen jedoch hemmend. So wäre es manchmal besser abzuwarten und noch nicht zu entscheiden, merkt Briner an. Doch geht dies nicht in jedem Fall. Im Nachhinein hätten es wohl alle besser gewusst. Beide Vorgehensweisen – Abwarten oder schnell Entscheiden und allenfalls einen Fehlentscheid in Kauf nehmen – haben ihren Preis. Ein Entscheid ist selten 100% richtig. Er lässt sich nur fällen aus der aktuellen Situation und mit Blick auf die bekannten und antizipierten Bedingungen. Zentral ist darum eine offene Fehlerkultur: allfällige Fehler offenlegen, daraus lernen und weitergehen. Deshalb ist Vertrauen für Briner eine relevante Basis, um tragfähige Entscheide zu fällen.

Zum Umgang mit schnellen Entscheiden meint Böckelmann: «Müssen Entscheidungen von grösserer Reichweite in Eile getroffen werden, dann ist in der Organisationsentwicklung vermutlich etwas schiefgelaufen oder wir haben es mit einer akuten Krisensituation zu tun.
In Krisensituationen müssen Führungspersonen unter Umständen schnell entscheiden können. Je nachdem ist dann eine Partizipation nicht möglich, oder sie muss sich z.B. auf eine kleine Gruppe beschränken, die stellvertretend für verschiedene Gruppen von Fachpersonen als «Sounding-Board» zur Verfügung steht. Liegt keine Krisensituation vor, dann dürfte es sich lohnen, darüber nachzudenken, warum man in eine Situation geraten ist, in der eine Entscheidung von grosser Reichweite eilt. Möglicherweise lassen sich Prozesse so verändern, damit dies – hoffentlich – ein Ausnahmefall bleibt.»

Briner teilt Böckelmanns Ansicht, dass Entscheide in Eile eher direktiver werden. Dennoch sei es zentral, mit jemandem zu reflektieren und einen Schritt zurückzutreten. Wenn ein Entscheid noch nicht reif ist, könne es wichtig sein, Zeit zu gewinnen.

Es hilft zudem, einen Entscheid in sinnvolle, bewältigbare Portionen zu segmentieren und damit eine zeitliche Staffelung herbeizuführen. Eine weitere Strategie ist, den Entscheid in einem grösseren Ganzen zu verorten und vielleicht zu relativieren – dies ermöglicht eine einigermassen zuversichtliche Gelassenheit.

Gelungene Entscheidungsprozesse sind nicht immer logisch 

Abschliessend wenden wir uns der Frage zu, was für Entscheidungsprozesse typisch ist und wie sie gelingen können.  

Böckelmann meint dazu: «Charakteristisch scheint mir, dass Entscheidungsprozesse in der Regel nicht so ‹wohl-sortiert› und in logisch strukturierten Schritten ablaufen, wie man sich das zu Beginn vorgestellt oder geplant hat. Dies liegt unter anderem daran, dass Organisationen von unterschiedlichen Rationalitäten geprägt sind. Je nach Rolle und Funktion, die jemand hat, werden Dinge unterschiedlich gewichtet und bewertet. Man hat je eigene Interessen, Denk- und Sichtweisen sowie entsprechend unterschiedliche Problemwahrnehmungen. Damit wird der Prozess selbst durch verschiedene Perspektiven mitgesteuert.» Auch Briner erlebt sich oftmals in einer Vermittlungsposition. Für ihn ist zudem charakteristisch, dass Entscheide einen «vorbereiteten Acker» benötigen.

Konkrete Tipps für Projektleitende und Studiengangleitende

Welche Haltung und Handlungskompetenzen brauchen Projektleitende und Studiengangleitende, um Entscheidungsprozesse mitzugestalten, vorwärtszubringen oder zielführend zu unterstützen?

  • Prozesse vorausschauend planen mittels einem ausgereiften Projektmanagement.
  • Offenheit und Toleranz für unterschiedliche Positionen; diese wahrnehmen und würdigen, selbst wenn nicht alles berücksichtigt werden kann. Somit auch über den eigenen Schatten springen können und Ideen anderer annehmen.
  • Kommunikatives und diplomatisches Geschick sowie strategische Zusammenhänge verstehen, um mit unterschiedlichsten Stakeholdern zu verhandeln.
  • Ein gutes Mass an Frustrationstoleranz, um Zusatzschlaufen und ungeplante Interventionen von Vorgesetzten «auszuhalten», und sich davon verabschieden, es allen recht machen zu wollen.
  • Geduld, Bescheidenheit und Gelassenheit.
  • Mut, mit bedachtem Risiko etwas wagen.

«Entscheide erfordern auch Mut; Mut, etwas zu tun.», bilanziert Briner: «Begeisterte Gelassenheit – gelassene Begeisterung»

INFOBOX

Der CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen ermöglicht massgeschneidert und laufbahnbezogen rollenspezifische Kompetenzen in Führung, Management und Planung zu entwickeln. Er richtet sich an Verantwortliche in Projekten, Studiengängen und Querschnittsfunktionen in Aus- und Weiterbildung an Fachhochschulen, Universitäten, Pädagogischen Hochschulen, höheren Fachschulen sowie weiteren Bildungsinstitutionen. Die nächste Durchführung startet am 28. März 2023. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!

Zur Autorin

Dagmar Engfer ist Coach, Organisations-beraterin, Teamentwicklerin und Führungs- und Laufbahnberaterin BSO, stellvertretende Leiterin sowie Verantwortliche Beratung und Dozentin am Zentrum Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich. Zudem ist sie Co-Leiterin des Lehrgangs CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen.

Unterstützen im Berufsfindungsprozess – eine besondere Aufgabe

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Text: René Schneebeli

Die erste Berufswahl

Die Aussicht, nach der Schulzeit eigene Wege zu gehen, Selbstständigkeit zu erreichen, eigenes Geld zu verdienen und nur noch zu lernen was einen interessiert, kann für viele Schulabgänger:innen motivierend sein.

Die richtige Anschlusslösung zu finden, ist aber ein Prozess, der manch einem vieles abverlangt. Die eigenen Stärken, Schwächen, Fähigkeiten und Interessen müssen mit den unzähligen Angeboten der Berufs- und Schulwelt abgeglichen werden. Dabei sind Entscheidungen zu fällen, die sich nachhaltig auf die weitere Berufskarriere auswirken. Dieser anspruchsvolle Prozess fällt zudem in eine Zeit, in der die Jugendlichen stark mit sich selbst beschäftigt sind. Darüber hinaus beeinflussen Zufälle, Gelegenheiten und ausserschulische Vorkommnisse diese sensible Phase.

Dass laut der Juvenir-Studie 2.0 der Jacobs Foundation (2013) trotz diesen vielen Unsicherheiten das Zustandekommen der Wunschausbildung der Jugendlichen der Regelfall ist, erstaunt dann doch immer wieder. Insbesondere wenn man bedenkt, dass im Frühjahr des Abschlussjahres erst etwa zwei Drittel der Lehrstellensuchenden eine zugesicherte Lehrstelle haben (gfs.bern, Nahtstellenbarometer März/April 2022).

Ein Berufswahlfahrplan (Quelle: PH Thurgau)

Wenn die Unterstützung durch Eltern und das reguläre Schulangebot nicht ausreicht

Zu verdanken ist das Finden einer Lehrstelle primär der Beteiligung der Eltern, die Werte vermitteln, Interessen wecken, Informationen vermitteln und emotionale Unterstützung bieten. Sie haben den grössten Einfluss aller Involvierten und sind verantwortlich für die Erstausbildung. Unterstützend wirken auch die Lehrpersonen, die im Fach «Berufliche Orientierung» die Jugendlichen ab der 2. Sekundarschule in diesem Findungsprozess systematisch begleiten. Weiter können Peergruppen und die Berufsberatung Einfluss nehmen.

Wo Eltern über nicht genügend Ressourcen für die Unterstützung verfügen oder wo das reguläre Angebot der Schulen für Jugendliche mit schwierigen Voraussetzungen oder aussergewöhnlichen Berufswünschen nicht genügt, fällt spezialisierten Fachpersonen eine besondere Aufgabe zu. Sie begleiten die Jugendlichen individuell bei der Entwicklung und Umsetzung von Lebens- und Laufbahnperspektiven.

Für diese Berufsrolle hat sich seit längerem die Bezeichnung «Berufswahl-Coach» etabliert. Im schulischen Umfeld sind es besonders die Fach- oder Lehrpersonen der Sekundarstufen I und II oder aus Brückenangeboten sowie aus der Schulsozialarbeit, die diese Funktion einnehmen. Ausserschulisch sind es Fachpersonen aus der Sozialarbeit, Job-Coaches, Mentor:innen oder Case-Manager:innen die hier aktiv sind. Sie alle unterstützen Jugendliche im Berufsfindungsprozess im jeweiligen Kontext.

Professionalisierung der Berufsrollen

Im Zug der Professionalisierung dieser Berufsrolle haben sich spezialisierte Weiterbildungen bewährt, welche mittlerweile von einzelnen Kantonen für die Übernahme dieser Funktion voraussetzt werden.

Neben der FHNW bietet die PHZH zusammen mit der PHTG einen CAS Lehrgang zum Berufswahl-Coach an. In weniger als einem Jahr werden wissenschaftlich fundiert, aber auch stark an der Praxis ausgerichtet, die wesentlichen Inhalte vermittelt. Neben dem Coaching-Handwerk, das einen zentralen Stellenwert in der Weiterbildung einnimmt, geht es um die vertieften psychologischen Hintergründe des Berufswahlprozesses bei Jugendlichen und um verwertbares Wissen zum Schweizer Bildungssystem und Arbeitsmarkt. In den teilweise organisierten Praktika lernen die Studierenden die regionalen Betriebe und Berufsberatungsstellen kennen und erhalten Einblicke in wichtige Schnittstellen wie Sozialversicherungen, Bildungsämtern und anderen Anlaufstellen.

Wer sich als Lehrperson im Rahmen der Schule und des Unterrichts noch weiter spezialisieren will, kann, aufbauend auf dem CAS Berufswahl-Coach, den Lehrgang CAS Fachlehrer:in Berufswahlunterricht absolvieren. Im Fokus stehen die Inklusion und insbesondere die Fachdidaktik. Absolvent:innen sind verantwortlich dafür, innerhalb der eigenen Schule den Berufswahlunterricht zu koordinieren und zu übernehmen. Zu ihren Kernaufgaben gehören das Entwickeln und Umsetzen von Berufswahlkonzepten, die Qualitätssicherung, das Beraten der Schulleitung und des Schulteams wie auch die Weiterbildung von Lehrpersonen.

Die Ausbildung ist von der EDK zertifiziert und entspricht dem Profil für die Zusatzausbildung «Fachlehrerin/Fachlehrer Berufswahlunterricht» vom 25. Oktober 2007. Absolventinnen und Absolventen dürfen den Zusatz «EDK anerkannt» im Titel ausweisen.

INFOBOX

Der CAS «Berufswahl-Coach», eine Kooperation der PH Thurgau und der PH Zürich, startet im Oktober 2023. Am 17. Januar 2023 und am 6. März 2023 finden dazu Online-Informationsveranstaltungen statt. Hier können Sie sich anmelden.

Zum Autor

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René Schneebeli arbeitet im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung an der PH Zürich. Er ist Dozent und Co-Studiengangsleiter des CAS Berufswahl-Coach der PHZH.

Life Writing – Schreiben als Leben?

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Beitrag von Daniel Ammann

«Wer ist berechtigt, seine Erinnerungen zu schreiben?», fragte Mitte des 19. Jahrhunderts der im Exil lebende Philosoph und Autor Alexander Herzen. Seine Antwort hat nach wie vor Gültigkeit: Jede und jeder. Schliesslich sei niemand verpflichtet, sie zu lesen. Es genüge, «einfach ein Mensch zu sein, der etwas zu erzählen hat».

Alle können ihre Erinnerungen aufschreiben. (Quelle: Adobe Stock)

Zwischen Fakten und Fiktion

Die Wirklichkeit ist ein unförmiger Brei. Auf unsere Wahrnehmung ist kaum Verlass. Auf die Erinnerung schon gar nicht. Also stülpen wir der Realität Geschichten über, die wir irgendwann für die Wirklichkeit halten. Wir verknüpfen Episoden und Fragmente und verwandeln das Chaos mit narrativen Mitteln in ein zusammenhängendes Sinngebilde. Wenn wir die Welt schon nicht begreifen, bietet sich vielleicht die Möglichkeit, im Kleinen zu beginnen und schreibend dem eigenen Leben auf die Spur zu kommen. Hier setzt das Life Writing an.

Life Writing hat viele Facetten. Egodokumente und Selbstzeugnisse gibt es als Tagebucheinträge, Bekenntnisse, Reiseberichte, Briefe oder Memoiren schon lange. In den letzten Jahrzehnten hat das autobiografische Schreiben jedoch mit einer neuen Spielart den Markt erobert. Die Rede ist von Autofiktion, einer Mischung aus Autobiografie und Erfindung. Gegenstand und Erzählanlass dieser Geschichten sind Vorkommnisse und Erinnerungen aus dem Lebensumfeld der Autorin oder des Autors, die im Text selber als Romanfigur und Erzählinstanz vorkommen.

Autofiktion ist eine neue Spielart des autobiografischen Schreibens. (Quelle: Adobe Stock)

Annie Ernaux, die kürzlich mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, gilt als Meisterin dieses schillernden Genres und wird gelegentlich als Begründerin der Autofiktion gehandelt. Bereits die dänische Autorin Tove Ditlevsen (1917–1976) hat in ihrer (wiederentdeckten) Kopenhagen-Trilogie und dem Roman Gesichter die Grenzen zwischen Autobiografie und Fiktion ausgelotet. Max Frischs Erzählung Montauk liefert ebenfalls ein frühes Beispiel: «Ich möchte nichts erfinden», heisst es dort, «ich möchte wissen, was ich wahrnehme und denke, wenn ich nicht an mögliche Leser denke.»

Autofiktion ist im besten Fall mehr als Selfie-Literatur oder eitle Selbstbespiegelung. Die Autor:innen gehen über die faktische Rekonstruktion von Vergangenheit hinaus und betreiben eine Art von «Autoethnografie». Sie arbeiten mit zeitlichen Perspektivenwechseln und richten den forschenden Blick auf soziale wie kulturelle Kontexte. Schreiben stellt dabei den Versuch dar, Lebensereignisse und persönliche Erfahrungen nicht nur getreu wiederzugeben, sondern in der Rückschau zu analysieren und prägende Muster offenzulegen. In der Form des Romans nutzen die Schreibenden den Spielraum der Fiktion, um kreativ und mit erzählerischer Eindringlichkeit mehr «Wirklichkeit» oder Wahrhaftigkeit zu schaffen.

Geschichte(n) erzählen

Fiktionale Darstellungen bedienen sich raffinierter Tricks, um einen Realitätseffekt zu erzeugen. Mit diesen Verfahren arbeitet auch die Geschichtsschreibung. Der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White hat in diesem Zusammenhang schon auf die «Fiktion des Faktischen» hingewiesen und nachgewiesen, dass historisches Erzählen immer durch Formen der Plotstrukturierung und der Argumentation gestaltet wird. In gleicher Weise spielen in der Nachrichtenberichterstattung heute Storytelling und Narrative eine bedeutende Rolle.

«Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt.»

So formuliert es der Schriftsteller Christoph Ransmayr im Vorwort zu Atlas eines ängstlichen Mannes.

Das Leben als Roman

Wenn früher das eigene Leben für eine Geschichte Modell stand, sprach man einfach von autobiografischen Bezügen – gelegentlich von einem Schlüsselroman, falls sich das fiktionale Personal trotz Tarnnamen als fadenscheiniger Abklatsch der privaten Realität erwies oder gar mit pikanten Details aus dem Alltag der Autor:innen aufwartete.

Beim Schreiben gehe es darum, so Stephen King, eine Geschichte so unbeschädigt wie möglich aus dem Boden zu heben. (Quelle: Adobe Stock)

Der Protagonist in Ian McEwans aktuellem Roman Lektionen zeigt sich überrascht und enttäuscht, dass er in den biografisch gefärbten Romanen seiner Ex-Frau überhaupt nicht vorkommt. Als er sich Jahrzehnte später in ihrem neusten Buch dann doch endlich als Figur erkennt, ist er wiederum schockiert, dass sie ihn als Tyrannen und gewalttätigen Ehemann dargestellt. Die Verfasserin reagiert auf seinen Vorwurf mit grösstem Erstaunen: «Das ist ein Roman. Keine Autobiografie.» Ob nun als Autobiografie oder Fiktion – authentisches Schreiben nimmt wenig Rücksicht auf Empfindlichkeiten. Es stellt sich alten Verletzungen und spürt «Schmerzkerne» auf. «Der Hintergrund und Antrieb jeden literarischen Schreibens», hat Urs Widmer in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen betont, «ist ein Leid, ein blinder Kern, in dem es sich – vom Schreibenden begrifflich nicht zu fassen – hochkonzentriert und zur Explosion bereit verbirgt.» Ein ähnliches Bild beschwört Erfolgsautor Stephen King in Das Leben und das Schreiben herauf, wenn er von Fundstücken oder Fossilien spricht. Beim Schreiben gehe es darum, eine Geschichte so unbeschädigt wie möglich aus dem Boden zu heben. «Manchmal legt man ein kleines Fossil frei: eine Muschel. Manchmal ist es riesengross, ein Tyrannosaurus Rex mit gigantischen Knochen und grinsendem Schädel.»

Life Writing als Entdeckungsreise

Wenn junge Autor:innen heute vermehrt den unspektakulären Alltag als Rohstoff für ihre Geschichten nutzen, illustriert dies, dass wir alle ein Produkt unserer Lebensumstände sind und beim Erzählen aus dem Persönlichen schöpfen. Das Vertraute wie etwas Fremdes zu betrachten und literarisch zu ergründen, mag auch all jenen Mut machen, die weit davon entfernt sind, ihre Memoiren zu publizieren und Privates in die Öffentlichkeit zu tragen. Denn Life Writing gehört allen. Um herauszufinden, ob der Zeitpunkt passt, fängt man besser früher als später damit an.

Wohin geht die literarische Reise? (Quelle: Adobe Stock)

Man muss nicht Erfinder, Nobelpreisträgerin, Olympiasieger, Künstlerin oder Staatsoberhaupt sein. Dieser einzigartige Prozess der Sinnfindung und Gestaltung steht allen offen. Wer flüchtige Einfälle im Tagebuch festhält, Vergangenes dokumentiert, Erlebnisse und Empfindungen zu einer persönlichen Geschichte formt, schafft einen Raum für Reflexion und Entwicklung. Lifelong Writing bedeutet Lifelong Learning.

Allen sprichwörtlichen Behauptungen zum Trotz: Das Leben erzählt keine Geschichten. Der Mensch – homo narrans – ist das erzählende Wesen. «Wir alle sind Fiktion», so Doris Dörrie in Leben, schreiben, atmen: Eine Einladung zum Schreiben, «aber das glauben wir nicht, weil wir uns mitten in ihr befinden wie in einem Fortsetzungsroman.»

INFOBOX

Unter dem Motto «Dem eigenen Schreiben auf der Spur» bieten Prof. Dr. Daniel Ammann, Erik Altorfer und Dr. Martina Meienberg zwei Module zum literarischen Schreiben an, die separat oder kombiniert gebucht werden können.
Das erste Modul «Biografisches Schreiben – das Leben erzählen» bietet Anfänger:innen wie Fortgeschrittenen Gelegenheit, sich im Schreiben mit Erlebnissen, Erinnerungen und persönlichen Lebenserfahrungen zu beschäftigen, um daraus eigene Prosatexte und Geschichten entstehen zu lassen.
Das zweite Modul «Literarisches Schreiben – Wege zum eigenen Schreibprojekt» widmet sich dem fiktionalen Schreiben und vermittelt Methoden des realistischen und fantastischen Erzählens.
In beiden Modulen erhalten Sie in Präsenzveranstaltungen und individuellen Coachings Anregungen und Impulse zum literarischen Schreiben und lernen Techniken der kreativen Textarbeit kennen.
Beide Module sind für den CAS Beraten im Bildungsbereich anrechenbar und sind mit je 1 ECTS dotiert.
Das erste Modul startet am 26. April 2023. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!

Zum Autor

Daniel Ammann ist Dozent für Medienbildung, Mitarbeiter des Schreibzentrums der PH Zürich sowie freier Literaturkritiker (SRF-Bestenliste, NZZ, Buch & Maus) und Autor. Seine Schwerpunkte sind literarisches und wissenschaftliches Schreiben, Filmbildung und narrative Kinder- und Jugendmedien. 

Handlungskompetenzorientierung – Perspektiven für die Höheren Fachschulen

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Text von Reto Wegmüller

Die Positionierung der Höheren Fachschulen ist in der Bildungslandschaft und insbesondere im internationalen Kontext seit geraumer Zeit unscharf. Dies führte in den vergangenen Jahren zu einem Verlust an Renommee und an Attraktivität gegenüber den Fachhochschulen. Verschiedene Akteure versuchen, dem im Rahmen der Initiative «Berufsbildung 2030» entgegenzuwirken. Zudem setzte in den vergangenen Jahren eine vermehrt wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Höheren Fachschulen ein. In diesem Zusammenhang ist auch die neuste Publikation der Pädagogischen Hochschule Zürich zu verstehen, in der unterschiedliche Akteure aus der Praxis und der Wissenschaft Beiträge zu den Herausforderungen und Perspektiven der Höheren Fachschulen beisteuern.

Aktiv positionieren als Bildungsanbieter:in

Das Kaufmännische Bildungszentrum Zug (KBZ) verfügt seit rund 30 Jahren über die Höhere Fachschule für Wirtschaft Zug (HFW Zug), an der die beiden Diplomstudiengänge «Dipl. Betriebswirtschafter/-in HF» und «Dipl. Wirtschaftsinformatiker/-in HF» angeboten werden. Die Verantwortlichen der HFW Zug hoffen darauf, dass der Bund die Weichenstellung für eine optimale Positionierung rechtzeitig vornimmt. Als Bildungsanbieter:in darf man sich aber nicht auf diese passive Rolle beschränken. Es gilt, die aktuellen Arbeitsmarktanforderungen und die Bedürfnisse der Studierenden in den Studiengängen optimal unter Berücksichtigung der geltenden Rahmenlehrpläne abzubilden. In beiden Diplomstudiengängen wurden die Rahmenlehrpläne vor kurzer Zeit überarbeitet. Eine verstärkte Arbeitsmarktorientierung ist dabei ersichtlich, insbesondere im Bereich Wirtschaftsinformatik. Bei diesem Rahmenlehrplan wurde der Wechsel von den traditionellen Fächern hin zu den Handlungskompetenzbereichen vorgenommen und somit eine stärkere Ausrichtung am beruflichen Umfeld sichergestellt. In Abgrenzung zu den Fachhochschulen legt die HFW Zug einen verstärkten Schwerpunkt auf die Praxisorientierung. Zusammen mit dem theoretischen Fachwissen sollen die Studierenden dadurch handlungskompetent und somit begehrte Fachkräfte für den Arbeitsmarkt des Wirtschaftsraums Zug werden. Dazu werden authentische Lernbezüge in den verschiedenen fachlichen und überfachlichen Kompetenzbereichen während der drei Studienjahre hergestellt, was wiederum eine bessere Zukunftsfähigkeit sicherstellen soll. Das Lernen ist dabei ein Wechselspiel zwischen Instruktion und Konstruktion in einem partnerschaftlichen Verhältnis der verschiedenen Akteure. Die selbstregulierten Aktivitäten der Studierenden werden durch anleitende und orientierende Hilfestellungen seitens der Dozierenden ergänzt. Wahlmöglichkeiten im 3. Studienjahr ermöglichen dabei eine individuelle Profilbildung. Um realitätsnahe Lernbezüge herzustellen, selbstreguliertes Lernen zu fördern, die Zusammenarbeit zu unterstützen und die Betreuung durch die Dozierenden zu erweitern, wurde am Weiterbildungszentrum des KBZ ab dem Jahr 2018 schrittweise eine Blended Learning-Strategie umgesetzt. Auch an der HFW Zug kommt das Konzept von 80 % Präsenzunterricht und 20 % asynchroner Onlinebetreuung seit 2019 zur Anwendung. Dabei soll eine optimale Verzahnung von asynchronen und synchronen Lehrsequenzen sichergestellt werden.

KV-Reform: Unterrichten in interdisziplinären Kompetenzbereichen

In den Jahren 2023 bis 2026 steht mit der Reform Kaufleute 2023 ein umfangreicher Veränderungsprozess für die drei Lernorte der beruflichen Grundbildung an. Die Ausrichtung auf die zukünftigen Arbeitsmarktanforderungen führt zu einer Ausbildung entlang der Handlungskompetenzen der angehenden Berufsleute. Für die Berufsfachschulen bedeutet dieser Paradigmenwechsel, dass künftig nicht mehr in den traditionellen Schulfächern, sondern in interdisziplinären Kompetenzbereichen unterrichtet wird.

Die ausgebildeten Kaufleute stellen die grösste Gruppe der künftigen Studierenden für den Diplomstudiengang «Dipl. Betriebswirtschafter/-in HF» dar. Es gilt deshalb, die Chancen dieser Berufsbildungsreform zu erkennen und die HF-Studiengänge rechtzeitig auf die neuen Absolventinnen und Absolventen der reformierten kaufmännischen Grundbildung auszurichten. Dabei gilt es beispielsweise zu berücksichtigen, dass diese erweiterte Kompetenzen in den Bereichen der 4K (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und Kritisches Denken) und der digitalen Medien mitbringen werden. In der neuen Grundausbildung werden künftigen HF-Studierenden von Lehrpersonen betreut, die eine didaktische Aufbereitung der beruflichen Handlungssituationen mittels disziplinären und interdisziplinären Wissens vornehmen und die aktuellen betrieblichen Lern- und Arbeitssituationen kennen. Diesen Ball gilt es in der Höheren Fachschule für Wirtschaft aufzunehmen und gezielt auf Dozierende aus der Praxis zu setzen, die in der Lage sind, handlungskompetenz- und marktorientierten Unterricht interdisziplinär und gemeinsam mit Praxispartnern zu gestalten.

Bach, Haberzeth & Osbahr. 2022. Höhere Fachschulen in der Schweiz: Herausforderungen und Perspektiven. (Quelle: hep Verlag)

Dem Fachkräftemangel in der Schweiz entgegenwirken

Die eingangs erwähnte Publikation, herausgegeben von Bach, Haberzeth und Osbahr, erlaubt eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Höheren Fachschulen in der Schweiz als wichtigem Segment des Schweizer Bildungssystems. Es liegt nun an den Verantwortlichen in den Bildungsinstitutionen der unterschiedlichen Berufsfelder, sich den Herausforderungen zu stellen und die unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen. So soll durch eine individuelle Persönlichkeitsbildung kombiniert mit einer konsequenten Handlungskompetenzorientierung dem Fachkräftemangel in der Schweiz begegnet werden.

INFOBOX

Neuerscheinung

Der 12. Band der Reihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung heisst «Höhere Fachschulen in der Schweiz. Herausforderungen und Perspektiven.» und zeigt die Vielfalt der Höheren Fachschulen in der Schweiz und ihr Potenzial im Bildungsdiskurs.

Gerne stellen wir Ihnen die neue Publikation an der Buchvernissage am 23. November 2022, 17.30-19.15 Uhr, am Campus der PH Zürich vor. Anmelden

Reform Detailhandel und KV
Informationen und Angebote der PH Zürich zur Reform Detailhandel und KV finden Sie hier.

Zum Autor

Reto Wegmüller ist Rektor des Kaufmännischen Bildungszentrums Zug; davor war er Leiter des Weiterbildungszentrums und Verantwortlicher für Schul- und Qualitätsentwicklung.

Entscheidungsprozesse an Hochschulen: Entscheiden lassen – Entscheide steuern – Entscheide bewirken 

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Beitrag von Dagmar Engfer

Als Beraterin begleite ich Einzelpersonen und Gruppen, wenn sie Studiengänge koordinieren oder Projekte leiten. Dabei erlebe ich ihr hohes Bedürfnis, die komplexen Systeme von Hochschulen zu verstehen, um sich wirksam darin zu bewegen. In den Gesprächen zeigen sich Machttopografien, Entscheidungswege, Vernetzungen sowie die eigene Verortung und erlebte Verstrickungen, die im (Gruppen-)Coaching in Bildern skizziert werden. 

Abbildung 1

Solche Landkarten der Macht illustrieren, wie Entscheidungsprozesse funktionieren und verdeutlichen Grenzen der Mitgestaltung (Abb.1). Jedoch erkennen wir darin auch mögliche Freiräume, offene Türen, nutzbare Lücken und durchlässige Grenzen. Personen in lateralen Führungsfunktionen bewegen sich zwischen Personen und System. Ihre Frage ist, wie sie sich darin bewegen können.  

Als laterale Führungskraft ist zentral, sich professionell und organisational im Arbeitssystem Hochschule zu verorten. Dies erlaubt, Entscheidungsprozesse nicht nur nachzuvollziehen, sondern aktiv mitzugestalten. Es geht darum, die persönliche Funktion als Akteur:in zu erkennen, zu verstehen und eigene Wirksamkeit zu erleben.  

Beispiele von Landkarten der Macht 

Vorliegender Beitrag fokussiert das Handeln einzelner Personen, die eine Entscheidungsfunktion neben der hierarchischen Linie innehaben.

  • Wie kann mit gesetzten Regeln umgegangen werden?
  • Wie weit sind Rahmen (un)verrückbar? 
  • Wo gibt es Spielräume? 
  • Wie verhandelbar sind Grenzen? 
  • Wie kann Mensch sich in einer lateralen Führungsfunktion bewegen? 
  • Wie werden Stakeholder wirksam genutzt?

Sich bewegen in Entscheidungsprozessen

Die obenstehende Abbildung 1 und die untenstehende Abbildung 2 verdeutlichen, dass Studiengangs- oder Projektleiter:innen als Basis für wirksame (Entscheidungs-)Bewegungen die Funktionsweise der eigenen Organisation kennen müssen, wo sie sich darin sehen und in welche Richtungen sie sich bewegen.  

Betrachten wir die Bilder etwas genauer: Vielfältige Bewegungen zeigen sich in beiden Skizzen vorwiegend lateral. Nach oben hin erscheinen sie punktuell und zielgerichtet. Zart angedeutet sind diejenigen Bewegungen, die einen gesetzten Rahmen durchbrechen resp. Lücken im Rahmen nutzen.  

Abbildung 1 zeigt dreidimensional einen klaren Rahmen, der aus einer dicken und kompakten Grenze nach oben besteht. Offenbar scheint eine Bewegung dahin kaum möglich. Dennoch weist dieses Dach kleine Lücken auf und es lässt sich ein schmaler Durchgang in der Mitte erkennen, eine Bewegung sogar durch die Decke hindurch. Dies deutet darauf hin, dass durchaus Spielraum zu bewusst ausgewählten zentralen Stakeholdern genutzt wird. 

Auch beim zweiten Bild (Abb. 2) erkennen wir Bewegungen, die über den Rahmen der Organisation zu politisch wichtigen Partner:innen hinausgehen. Interessant in diesem Bild ist, dass mehrere externe Stakeholder als Vernetzungspartner:innen genutzt werden.

Abbildung 2.
Vernetzungen in alle Richtungen sind zentral für Koordinierende eines Graduiertenprogramms.

Wie sehen solche Bewegungen für die Koordinatorin eines Graduiertenprogramms aus? Die Vernetzungen in alle Richtungen sind zentral, um das Programm zu gestalten. Dennoch ist es nur eingeschränkt möglich, mit den Führungsebenen zusammenzuarbeiten. Die Koordinatorin erlebt intransparente und unklare Personal- und Budgetentscheide als herausfordernd. Sie wird kaum in solche Entscheidungsprozesse einbezogen, obwohl diese für ihre Arbeit ausnehmend relevant sind. Die Koordinatorin nimmt dies als Einschränkung ihres Handlungsspielraums und mangelnde Wertschätzung wahr. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, vernetzt sich die Koordinatorin mit Partner:innen ausserhalb des eigenen Arbeitssystems und ausserhalb der Organisation. Dabei holt sie sich Unterstützung für strategische Vorgehensweisen und erlangt so weitere Bewegungsmöglichkeiten. 

Die Koordinatorin wirkt in ihrer Funktion proaktiv. Einerseits kennt sie die «Spielregeln», die Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse. Andererseits bleibt sie, selbst bei schmerzlich erlebten Grenzsetzungen, aktiv und bewegt sich auf alternativen Wegen, um auf Entscheide einzuwirken. Sie steigt in Verhandlungsprozesse ein, nutzt ihren Spielraum und bringt beharrlich ihre Interessen ein. Bildlich gesprochen fliegt sie manchmal unerwartet durchs Kamin hinein, anstatt die Treppe ins Haus zu nehmen. Das mag irritieren, doch führt zuweilen zum Erfolg. Sie benennt diesen Weg selbst als risikoreich und fliegt ihn nur, weil sie sich von der direkten Vorgesetzten aufgrund des guten Vertrauensverhältnisses getragen fühlt. 

Ein zweites Beispiel zeigt weitere Bewegungsmöglichkeiten. Ein Studiengangsleiter überprüft mit seinem Dozierendenteam einen Studiengang, um eine aufbauende Passung desselben zu erreichen. Kernfragen hierbei sind: Wie lässt sich im Team die Qualität sichern und entwickeln? Wie werden Entscheidungen mit dem Team gemeinsam gefällt? Wie viel Partizipation ist erwünscht? Was entscheidet die Studiengangsleitung selbst?  

Der Studiengangsleiter erhält die Zustimmung von seinem Vorgesetzten für das geplante Projekt. Er entwickelt einen Vorgehensplan, den er dem Team vorstellt. Dabei realisiert er, dass eine tragfähige Lösung nur möglich ist, wenn er das Team von Anfang an in den Prozess mit einbezieht und den Prozess moderiert. Dabei kommt ihm das Drei-Schritte-Modell von Ch. Böckelmann (2022) zugute.

Quelle: Ch. Böckelmann 2022 (Aus: Unterlagen des Moduls «Entscheidungsprozesse planen, zielführend verhandeln und gestalten» im CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen)

Kurz bevor er diesen Prozess neu lanciert, wird ihm die Linienführung für das Team übertragen. Dies verändert seine Perspektive. Mit dem Ziel einer tragfähigen Lösung verlangsamt er den Prozess und geht iterativ unter Einbezug der Expertise der Dozierenden vor. Zentral bleibt die Frage, was und wann er in seiner Leitungsfunktion entscheidet, um den Prozess zielgerichtet und doch fliessend mäandrierend zu gestalten.

Die Aufgabe der Leitung besteht mehr darin, die Problem-, Ziel- und Strategieklärung zu moderieren und Klarheit in die Abläufe zu bringen.

Prozess beschleunigende und erleichternde Entscheide sollen von mir gefällt werden.

Das Team soll die Möglichkeit haben, mir zu ihrer Partizipation an Entscheidungsfindungsprozessen Rückmeldung zu geben.

(Samuel Hug, Bereichsleiter Pflege HF, ZAG, Projekt im Rahmen des CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen)

Anstehen, woanders einsteigen, abkürzen oder zu Fuss? 

Entscheidungen werden meist in verschiedenen Alternativen angedacht: Stehe ich, wie am Skilift, in der Schlange an oder gehe ich zu Fuss in Richtung Bergstation oder suche ich eine Mitfahrgelegenheit zur Mittelstation, um dort zuzusteigen?  

Zentral ist, wie sich Funktionstäger:innen zu Entscheidungsprozessen stellen.  
Ist genug Energie vorhanden, um Spielräume auszuloten, gar zu erkämpfen?  
Betrachte ich gesetzte Regeln als unverrückbar oder steige ich in eine Verhandlung ein?  
Suche ich Bewegungen mit verschiedenen Stakeholdern und bilde Allianzen? 

Allen gemeinsam ist eine Bewegung weg vom «lediglich machen oder ausführen» hin zu einem strategischen Vorgehen. Dabei werden Grenzen ausgelotet, Spielräume eröffnet und genutzt. Als Beraterin erlebe ich Menschen in solchen Funktionen als äusserst kreativ und proaktiv in ihren Arbeitsfeldern.

INFOBOX

Der CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen ermöglicht massgeschneidert und laufbahnbezogen die Entwicklung rollenspezifischer Kompetenzen in den Bereichen Führung, Management und Planung. Er richtet sich an Verantwortliche in Projekten, Studiengängen und Querschnittsfunktionen in Aus- und Weiterbildung an Fachhochschulen, Universitäten, Pädagogischen Hochschulen, höheren Fachschulen und weiteren Bildungsinstitutionen. Die nächste Durchführung startet am 28. März 2023. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!

Zur Autorin

Dagmar Engfer ist Coach, Organisations-beraterin, Teamentwicklerin und Führungs- und Laufbahnberaterin BSO, stellvertretende Leiterin sowie Verantwortliche Beratung und Dozentin am Zentrum Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich. Zudem ist sie Co-Leiterin des Lehrgangs CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen.

(Un-)Ordnung muss sein: Zwischen Flexibilität und Systematik in der Weiterbildung

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Beitrag von Markus Weil

Weiterbildung soll flexibel sein, angepasst an individuelle Bedürfnisse, zeitlich frei gestaltbar, modularisiert. Das alles sind legitime Ansprüche. Wenn sich gleichzeitig der Ruf nach Anrechenbarkeit und Zertifikaten hinzugesellt, stehen Bildungsinstitutionen vor einigen Herausforderungen. Nach innen bringt Weiterbildung eine gewisse Unordnung in die Tertiärstufe des Bildungssystems. Nach aussen bedarf es verständlicher Worte, die gleichzeitig hohe Flexibilität und eine gewisse Systematik deutlich machen.

«Ordnung ist das halbe Leben»

Schön ordentlich: Die eigene Bildungsbiografie lässt sich im schweizerischen Bildungssystem einordnen. Wo sind Sie entlanggegangen?

Quelle: SBFI 2019

Was bringt der Blick auf diese ordentliche Darstellung des Bildungssystems? Es wird unterschieden zwischen Primar-, Sekundar- und Tertiärstufe und Weiterbildung, die manchmal auch als Quartärstufe bezeichnet wird (z.B. im Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrats, 1970). Vertikal gibt es verschiedene Typen von Bildungsinstitutionen und -abschlüssen beruflicher und allgemeiner Natur. Diese Strukturierungsleistung dient der rechtlichen und administrativen Verortung, der Orientierung für den persönlichen Bildungsweg, der Vergleichbarkeit, Zugangsberechtigung bis hin zu Finanzierungsbedingungen. Die eindeutigen Fälle sind – wenn auch im historischen Wandel – meist gut verortet und systematisiert. Flexibilität im schweizerischen Bildungssystem lässt sich im Wechsel zwischen den verschiedenen horizontalen und vertikalen Einordnungen aufzeigen. In der Darstellung ist dies mit «üblicher Weg» und «möglicher Weg» gekennzeichnet. Aber Ordnung ist eben nur das halbe Leben.

«Jede Ordnung ist der erste Schritt auf dem Weg in neuerliches Chaos»

Spannend wird es bei Fragestellungen, die nicht so einfach zu beantworten sind. Wenn wir den Fokus auf das beidseitig eingezeichnete Band «Weiterbildung» in der Darstellung richten, stellen sich bereits auf den ersten Blick Fragen nach «üblichen und möglichen Wegen». Nehmen wir uns exemplarisch den Quadranten vor, der mit «Hochschulen» und «Tertiärstufe» gekennzeichnet ist. Seit der Bologna-Reform um die Jahrtausendwende wurde das europäische Hochschulsystem in Bachelor, Master und PhD/Doktorat gegliedert – in einigen Fällen zusätzlich mit Diplomen oder Abschlüssen zur Berufsbefähigung. Aber: Fachhochschulen, Pädagogische Hochschulen und Universitäten in der Schweiz bieten nicht nur diese Tertiärbildung an, sondern treten im vierfachen Leistungsauftrag (Studium, Forschung, Dienstleistung und Weiterbildung) immer auch als Weiterbildungsanbietende auf. Parallelen lassen sich in der höheren Berufsbildung oder bei Berufsfachschulen aufzeigen, die ebenfalls Weiterbildungsfunktionen wahrnehmen. Es zeichnen sich gewisse Herausforderungen ab, im Bildungssystem mehrere Funktionen abzudecken und gleichzeitig als Hochschule wahrgenommen zu werden: Die Hochschule als Weiterbildungsanbieterin.

Quelle: Adobe Stock

«Unordnung ist eine Uhr ohne Zeiger»

Haben Sie schon einmal von CAS, DAS und MAS gehört?  In Weiterbildungsprogrammen hat sich an Hochschulen diese Systematisierung von Certificate, Diploma und Master of Advanced Studies etabliert. Ausserhalb der Schweiz lösen diese Begriffe meist fragende Blicke aus. Es handelt sich nicht um ein bologna-konformes europäisches System, sondern um eine Ordnungsleistung für Weiterbildung an schweizerischen Hochschulen. CAS, DAS und MAS können nicht von anderen Bildungsstufen angeboten werden. Sie unterliegen schweizweiten Konventionen, ohne jedoch zum formalen Bildungssystem zu zählen. Sie sind und bleiben Weiterbildung. Nicht nur die Systematik lehnt sich an Bachelor, Master, PhD/Doktorat an, auch wird Workload in ECTS-(Weiterbildung-)Punkte (Europäisches System zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen) umgewandelt, welche allerdings nicht automatisch als ECTS-(Studiums)-Punkte für die Studienangebote anrechenbar sind. An Hochschulen wird in den Weiterbildungsprogrammen oftmals auf das gleiche Personal sowie auf ähnliche methodisch-didaktische und curriculare Konzepte zurückgegriffen wie in den Studiengängen, so zum Beispiel für das Verfassen von Abschlussarbeiten. Unterschiedlich zum Hochschulstudium sind Finanzierungsmechanismen, Adressat:innen und die gesamte Angebotspalette, in der CAS, DAS und MAS nur einen Bruchteil ausmachen und im Kontext von  internen Weiterbildungen, Beratungen, Tagungen, Kursen, Workshops und vielem mehr zu denken sind.

«Wer Ordnung hält, ist zu faul zum Suchen»

Es folgen vier Vorschläge, wie das systematische und institutionelle Verhältnis von Hochschulbildung und Weiterbildung gedacht werden könnte.

Quelle: Gonon/Weil 2021. Dieses Schema kam in der Publikation von Gonon/Weil 2021 zum Einsatz, wo eine internationale Verortung der schweizerischen CAS-DAS-MAS-Besonderheit vorgenommen wurde.
  1. Separat: Hochschulen fokussieren auf Bachelor-, Master- und PhD-Programme. Diese Programme sind nicht für die Weiterbildung geöffnet. Weiterbildungsprogramme werden ausserhalb von Hochschulen angeboten und angerechnet.
  2. Institutionell integriert, systematisch separat: Eine Bildungsinstitution bietet neben Hochschulausbildung auch Hochschulweiterbildung an. Beide Systeme operieren separat, Infrastruktur und Personal werden gemeinsam genutzt.
  3. Institutionell separat, systematisch integriert: Weiterbildung und Hochschulbildung können gegenseitig angerechnet werden, werden aber von unterschiedlichen Anbietenden ausgebracht.
  4. Integriert: Hochschulausbildung und Hochschuldweiterbildung sind Teil desselben Rahmens. Die Angebote sind offen für Studierende und Weiterbildungsteilnehmende.

Diese Überlegungen haben praktische Konsequenzen:

  • Wo muss der Workload absolviert werden, der zu einem ECTS-Punkt führt?
  • Wird diese Leistung für weitere Angebote angerechnet?
  • Wer bezahlt die Bildungsleistung?

Die Antwort auf diese Fragen kann je nach Modell ganz unterschiedlich ausfallen. Insofern schadet ein wenig Systemkunde auch mit Blick auf ein einzelnes Angebot nicht.

(Un-)«Ordnung muss sein»

Weiterbildung, die an Hochschulen stattfindet, hat das Potenzial, die Hochschule zu irritieren. Sie kann im besten Fall Hochschulen noch mehr für die Gesellschaft öffnen, indem sie Angebote für die breite Allgemeinheit zugänglich macht – mit und ohne Abschluss. Im Gegensatz zu akkreditierten und hoch reglementierten Studienprogrammen kann Weiterbildung Angebote in kompakten Formaten schnell umsetzen und eine unordentliche Dynamik zu einem späteren Zeitpunkt bei Bedarf systematisieren. Das eigene Ordnungssystem in der Schweiz mit CAS, DAS und MAS schafft dafür die notwendige Verbindlichkeit.

Wünschenswert wäre, dass zukünftige schematische Darstellungen des Bildungssystems mehr Durchlässigkeit definieren. Wo sind die Pfeile «übliche und mögliche Wege» von den Hochschulen zur Weiterbildung und umgekehrt? Im erweiterten Sinne setzen sich bereits ebenso viele Beteiligte mit Fragen zu Validierungsmöglichkeiten und Kompetenzanerkennung auseinander, wie zu curricularen Überlegungen zum Verhältnis von Praktika, Exkursionen und Selbststudium.  Ordnungsleistungen im Bildungssystem sind dabei sehr wichtig, damit wir uns auf Abschlüsse und Wege auch verlassen können. Neben der Systematisierung besteht der Anspruch nach möglichst hoher Flexibilität im Bildungssystem. Fragen zur Unordnung sind erwünscht, teils irritierend, teils innovativ. Was meinen Sie zu den vier vorgeschlagenen Modellen im Verhältnis zu Hochschul- und Weiterbildung? Muss (Un-)Ordnung sein?

INFOBOX

Publikationen zum Thema

Philipp Gonon, Markus Weil. Continuing Higher Education Between Academic and Professional Skills.

Katrin Kraus, Markus Weil. Der Leistungsbereich Weiterbildung im institutionellen Kontext: zum reflexiven Potenzial der Pandemiesituation für das organisationale Lernen von Pädagogischen Hochschulen.

Markus Weil, Balthasar Eugster. Thinking outside the box. De-structuring continuing and higher education.

Zum Autor

Markus Weil leitet die Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Seine Schwerpunkte sind Schnittstellen zwischen Berufsbildung, Weiterbildung und Hochschullehre.

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Der folgende Beitrag, ursprünglich veröffentlicht am 14. September 2021, wurde 2021 von allen im selben Jahr publizierten Beiträgen des Lifelong Learning Blogs am meisten aufgerufen. Gerne präsentieren wir Ihnen daher den «Best of 2021» hier noch einmal:

Lernen bleibt nicht lernen

Beitrag von Dominic Hassler und Monique Honegger

Die Digitalisierung und Automatisierung prägen unser Zusammenleben, unsere Arbeitswelt sowie unsere Schulwelt. Dies verändert auch, wo und wie Lehrende auf den Lernprozess einwirken. Dies zeigen drei Beispiele und die Analyse von Lerndimensionen. Ein Katalog hilft Lehrenden zu entscheiden, ob und wie sie digitales Lernen veranstalten können.

Eine Studentin (23) teilt ihr Dokument, in dem sie ihre Seminararbeit verfasst, via Social Media. Alle mit dem Link können die entstehende Arbeit lesen und kommentieren, aber nicht bearbeiten. Was heute mitunter als Betrugsversuch verstanden wird, mag in einigen Jahren vermutlich als Good Practice gelten. Dieses Beispiel illustriert, wie die Digitalisierung unser Arbeiten und Lernen verändert.

Aber wie gehen wir Lehrpersonen und Dozierenden konkret im Unterricht mit Digitalisierung und Digitalität um? Manche Bildungsexpert:innen argumentieren, dass Lernen Lernen bleibt. Parallel dazu lassen sich neue Formen von Lehren und Lernen beobachten: Die sind anders als vor 20 Jahren, aber nicht unbedingt digital.

Drei Beispiele

Beispiel 1 – Dokumentieren

Eine Lernende (18) hält einige Arbeitsschritte mit Ihrem Smartphone auf Video fest (im Beispiel wie ein Teig bearbeitet wird), anstatt sie mit Stift und Papier zu notieren. Zu klären ist: Wo wird dieses Video abgespeichert? Wie kann es später in der eigenen Datenablage wieder gefunden werden?

Bildquelle: Adobe Stock

Beispiel 2 – Text verfassen

Eine Studentin (23) teilt ihr Dokument, via Cloud in den sozialen Medien.

Beispiel 3 – Problem lösen

Ein Lernender (20 Jahre) zieht in eine WG und will in seinem Zimmer eine Lampe montieren. Er hat dies noch nie getan. Höchstwahrscheinlich wird er nun

  • ein Video auf Youtube suchen,
  • via seine Lieblingssuchmaschine recherchieren,
  • seine Eltern oder Bekannten bitten, ihm bei der Montage zu helfen, oder
  • sich im Baumarkt beraten lassen.

Der Lernende leiht kein Buch aus der Bibliothek aus. Dies ist ihm zu umständlich, ein Buch ist möglicherweise veraltet oder bildet andere Kabel ab. Bewährte Methoden des Lehrens und Lernens bleiben (andere um Rat fragen). Aber die möglichen Lernwege haben sich erweitert.

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Bildquelle: Dominic Hassler

Digitalisierung und Digitalität beeinflussen das Lehren auf drei Dimensionen

Die Kultur von Bildung und Lernen verändert sich (Dimension A)

Träges Faktenwissen nimmt an Bedeutung ab, die Relevanz von anderen Kompetenzen nimmt zu; seien dies 21st Century Skills wie 4K (Kreativität, Kritisches Denken, Kommunikation und Kooperation) oder der Umgang mit Unsicherheit, agil und flexibel auf neue Situationen zu reagieren.

Wir finden 4K auch in der Ausbildung von Berufsfachschullehrpersonen der PHZH, die im Studienmodell 4K stattfindet oder an der aktuellen Reform der kaufmännischen Grundbildung

Bildquelle: WEF

Die fachlichen und überfachlichen Kompetenzen verändern sich (Dimension B)

Auf fachlicher Ebene müssen etwa Zeichner lernen, mit einem CAD Programm umzugehen, Mediamatikerinnen lernen InDesign und Photoshop und Kaufleute vertiefen sich in Büroapplikationen wie Excel, Word und Outlook.

Auf überfachlicher Ebene sind die zentralen Kompetenzen beispielsweise – abhängig von Kontext und Branche – Inhalte zu präsentieren, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten, sich empathisch in Mitmenschen einzufühlen.

Es werden neue (digitale) Werkzeuge eingesetzt (Dimension C)

Werkzeuge sind oftmals neue Technologien, Tools oder Formate (Bring Your Own Device Geräte (Laptops), ePortfolios, Cloud, QR Codes, kleine Tools wie Padlet und grosse Tools wie Moodle). Nicht definieren lässt sich, was als «neu» gelten soll, und was schon zum alten Eisen gehört. Beisplelsweise Video ist kein neues Medium. Aber mit Sicherheit lassen sich 2021 mit der aktuellen Video-Technik manche Inhalte und Kompetenzen effektiver vermitteln als vor 30 Jahren.

Die neue Lernkultur erfahren Lehrpersonen wiederkehrend etwa alle 10 Jahre, wenn z.B. eine neue Bildungsreform das Prüfungswesen ändert. Fachliche- und überfachlichen Kompetenzen betreffen Lehrende bei der Planung des nächsten Semesters. Konkret lassen sich überfachlichen Kompetenzen stärker fokussieren, indem eine schriftliche Prüfung durch einen projektartigen Auftrag ersetzt oder ergänzt wird. In diesem Projektauftrag wird (evtl. kooperativ) ein Lernprodukt erstellt, das die erlernten fachlichen Kompetenzen sichtbar macht. Das (digitale) Werkzeug wählen Lehrende erst bei der Planung der nächsten Lektion zusammen mit der Methode. Hierbei gilt es zu klären: Eröffne ich Lernenden einen Inhalt als PDF, Video, Papier oder OneNote-Notiz? Nutze ich ein Classroom-Response-System wie Menti-Meter oder Kahoot? Sammle ich Resultate einer Gruppenaktivität auf einer physischen oder einer digitalen Pinnwand? Wie machen Lernende Notizen?

Orientierung – ein Katalog

  • Guter Unterricht ist oft technisch unspektakulär (d.h. es ist irrelevant ob digital oder analog gearbeitet oder gelernt wird).
  • Technische Probleme sind zwar mühsam, gleichzeitig sind sie authentische, praxisnahe Lerngelegenheiten.
  • Ein Mehrwert ergibt sich aus den didaktischen Überlegungen hinter dem Lernsetting und nicht aus einem Tool oder einer Methode. (vgl. Kerres 2018a oder Kerres 2018b).
  • Durch Digitalität lassen sich gewisse Aufgaben effizienter erledigen: Feedback von Lernenden digital einholen (automatische Auswertung spart 60’)
  • Unterricht vom Ende her planen ist effektiv.
  • Lehrende müssen nicht sämtliche Möglichkeiten des Digitalen nutzen.
  • Die blinden Flecken Lernender sehen Lehrende «besser» als adaptive Lernsysteme ohne persönliches Lehrerfeedback.

Bestehende Lehr- und Lernformen werden nicht überflüssig, sie werden durch Digitalisierung und Digitalität neu vernetzt (vgl. Krommer). Obschon Lernen nicht ganz Lernen bleibt, bleibt die Aufgabe von Lehrenden dieselbe: das Gestalten des Unterrichts und der Lernerlebnisse.

INFOBOX

Der CAS Unterricht gestalten mit digitalen Medien richtet sich an Lehrpersonen der Sekundarstufe II. Sie haben Erfahrungen mit digitalen Lehr- und Lernformen gesammelt und gestalten den digitalen Wandel in Ihrem Unterricht und an ihrer Institution mit? Dann sind Sie hier richtig.

Der CAS fokussiert Lernen, Lehren und Arbeiten in einer von digitaler Technik geprägten Gesellschaft. Als Teilnehmende gestalten und diskutieren Sie didaktisch erfolgreiche, digital gestützte, aber auch analoge Unterrichtssequenzen.

Zum Autorenteam

Monique Honegger ist Senior Teacher und ZFH-Professorin an der PH Zürich. Beratend, forschend, weiterbildend und bildend.

Dominic Hassler ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der PH Zürich und leitet den Themenbereich «Digitales Lernen» im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung.

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Der folgende Beitrag, ursprünglich veröffentlicht am 21. April 2020, wurde 2020 von allen im selben Jahr publizierten Beiträgen des Lifelong Learning Blogs am meisten aufgerufen. Gerne präsentieren wir Ihnen daher den «Best of 2020» hier noch einmal:

A good turn: das Konzept Flipped Classroom

Beitrag von Maik Philipp

Wäre es nicht schön, könnte man die Lernzeit in der (hoch)schulischen Bildung höchst (inter)aktiv nutzen? Das kann gelingen, wenn Lernende vorbereitet in die Veranstaltung kommen. Das setzt wiederum voraus, dass Lehrende ihnen zuvor (digital) eine Wissensgrundlage zur Verfügung stellen. Der «Flipped Classroom» scheint das zu ermöglichen. Zeit, dieses Konzept auf den empirischen Prüfstand zu stellen.

Flipped Classroom
Wer den Hörsaal betritt, hat sich bereits mit dem Stoff auseinandergesetzt
– so jedenfalls sieht es das Konzept des Flipped Classroom vor.

Was ist der «Flipped Classroom»?

Das Konzept des Flipped Classroom als Form des Blended Learnings erfährt momentan ein starkes Interesse in Praxis und Forschung. Wie der Name es schon andeutet, dreht das Konzept das Lernen gleichsam um, was sich in einer aktuellen und breit angelegten Definition niederschlägt: Beim Flipped Classroom

  • werden die meisten Lehraktivitäten zur Informationsübertragung aus der lokalen Lernumgebung entfernt,
  • wird die dadurch zeitlich entlastete Unterrichtszeit in der Präsenzphase für aktive und soziale Lernaktivitäten genutzt und
  • werden die Lernenden dazu verpflichtet, vor bzw. nach den örtlich durchgeführten Lektionen spezifische Aktivitäten zu absolvieren (z. B. voraufgezeichnete Vorlesungen oder andere Videos anzusehen), um so den vollen Nutzen aus dem Flipped-Classroom-Konzept zu ziehen.

Das wirkt überzeugend, weil die Lernenden eine aktivere Rolle einnehmen können und die wertvolle Zeit des Lehrens und Lernens von der Vermittlung von Fakten zunächst entlastet zu sein scheint. Ausserdem werden motivationale Grundbedürfnisse mutmasslich befriedigt und günstigere Rahmenbedingungen in puncto kognitiver Belastung geschaffen. Zudem besteht prinzipiell die Möglichkeit einer besser auf die Lernenden zugeschnittenen Darbietung der Inhalte durch Adaptionen und Differenzierung.

Das sagen aktuelle Metaanalysen aus

Ein so hoffnungsfroh stimmendes Konzept wirft natürlich die Frage auf, ob es seinen Mehrwert empirisch entfaltet. Dieser Frage gehen inzwischen diverse Studien weltweit nach. Diese wurden inzwischen auch metaanalytisch für das Lernen in Hochschulen ausgewertet, z. B. von Lo et al. (2017), Chen et al. (2018), Cheng et al. (2019), Låg & Sæle (2019), van Alten et al (2019) und Strelan et al. (2020). Die empirische Essenz dieser Metaanalysen – im Sinne statistisch signifikanter Effekte mitsamt Effektstärkenangaben (ES) – wird im Folgenden anhand verschiedener Leitfragen dargestellt.

a) Hat das Konzept Flipped Classroom einen leistungssteigernden Effekt bei kognitiven Massen?

Ja. Hier sind sich die Metaanalysen einig, wenn auch nicht unbedingt in der Höhe der Effekte, die sich teils um das Doppelte unterscheidet (ES = 0.19 (Cheng et al., 2019), ES = 0.30 (Lo et al., 2017), ES = 0.35 (Låg & Sæle, 2019), ES = 0.36 (van Alten et al., 2019), ES = 0.48 (bezogen nur auf Studierende; Strelan et al., 2020)). Die Befunde verweisen darauf, dass sich der Flipped Classroom in Testleistungen im Vergleich zu traditionellen Formen der hochschulischen Wissensvermittlung in Tests, Noten und Prüfungen auszahlt.

b) Profitieren Lernende aus bestimmten Leistungsdomänen stärker als andere?

Ja. Die Metaanalysen haben je nach zugrundeliegender Datenbasis und nach Kodierschema die Primärstudien etwas anders kodiert. Allgemein scheinen aber Lernende in Geistes- und Sozialwissenschaften besonders vom Flipped Classroom zu profitieren (Cheng et al., 2019; Låg & Sæle, 2019; van Alten et al., 2019; Strelan et al., 2020). Andere Fächergruppen zeigten allerdings auch Leitungszuwächse, diese waren im Vergleich freilich nicht ganz so stark.

Flipped Classroom
Flipped Classroom scheint sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften besonders zu bewähren.

c) Verbessert der Flipped Classroom die Motivation?

Das ist derzeit eher unklar. Eine von zwei Metaanalysen (van Alten et al., 2019) hat auf breiterer empirischer Basis geprüft, ob Personen in Flipped Classrooms zufriedener mit dieser Lernumgebung waren als Kontrollgruppenmitglieder in traditionellen Lernumgebungen. Hier gab es einen nicht-signifikanten Nulleffekt (ES = 0.05). Eine andere (Låg & Sæle, 2019) fand nur einen geringen positiven Effekt (ES = 0.16), bei dem jedoch anzunehmen ist, dass es hier eine Überschätzung aufgrund eines Publikationsbias gibt.

d) Welche Merkmale des Flipped Classrooms sind empirisch lernförderlich?

Hier haben insbesondere grosse Metaanalysen geprüft, ob es einzelne Merkmale in den einzelnen Primärstudien gab, die sich auf breiterer Basis positiv oder negativ niederschlugen. Dies wurde für Leistungsdaten in mehreren Metaanalysen tatsächlich beobachtet, allerdings nicht für viele Merkmale:

  • Formative Lernerfolgskontrollen sind hilfreich: In gleich zwei Metaanalysen erwies es sich als günstig, wenn Quiz-Bestandteile vorhanden waren, also die Studierenden zu den Inhalten der ausgelagerten Lernaktivitäten Fragen beantworteten (ES = 0.19 (van Alten et al., 2019) bzw. 0.57 (Lo et al., 2017)).
  • Die Zeit mit Lernen in Face-to-Face-Situationen sollte nicht zulasten der Flipped-Classroom-Anteile gekürzt werden. Es hat sich als lernunwirksamer erwiesen, wenn die Lernzeit mit ausgelagertem Flipped Classroom länger war als jene mit Anwesenheit in der Hochschule (ES = -0.26; van Alten et al., 2019). Dies spricht für einen ausgeglichenen Einsatz von beiden Bestandteilen des Blended Learnings.
  • Es ist lernwirksamer, das Konzept Flipped Classroom als einen hochschuldidaktischen Bestandteil unter mehreren einzusetzen. Dies ergibt sich daraus, dass sich in einer der Metaanalysen, einer der grössten bislang durchgeführten (Strelan et al., 2020), dann höhere Effekte einstellten, wenn nur ein Teil der Inhalte bzw. des Kurses über Flipped Classroom realisiert wurde (ES = 0.77 ggü. ES = 0.42 bei vollständiger Behandlung von Inhalten im Flipped-Classroom-Format).

Fazit: Auf dem Weg zum bedacht eingesetzten Flipped Classroom

Das Konzept Flipped Classroom scheint im Lichte vieler Studien ein hochschuldidaktisch sinnvolles Werkzeug zu sein, um kognitive Leistungen zu steigern. Allerdings scheint es hierbei günstiger zu sein, nicht alleinig darauf zu vertrauen, sondern ausgewählte Inhalte – und diese nicht zulasten von Face-to-Face-Lernsituationen innerhalb der Präsenzphase – zu vermitteln. Auch die niederschwellige formative Erfassung des Lernerfolgs zu den ausgelagerten Lernsituationen als Bestandteil der Face-to-Face-Settings scheint ein Merkmal des günstigen Nutzens dieser Form des Blended Learnings zu sein.

Natürlich ist diese Form des Lehrens kein Selbstgänger, sondern didaktisch und logistisch anspruchsvoll. Es ist daher besonders verdienstvoll, dass in einer sehr lesenswerten Metaanalyse von Lo et al. (2017, S. 62–66) zehn Prinzipien zum Einsatz des Flipped Classrooms nicht nur aus den empirischen Erträgen, sondern auch aus den Umsetzungsschwierigkeiten extrahiert wurden. Diese Prinzipien beziehen sich auf den grundsätzlichen Übergang (Prinzipien 1 und 2), die Gestaltung der Nicht-Präsenzphase (Prinzipien 3 bis 5) und schliesslich die Präsenzphase selbst (Prinzipien 6 bis 10).

  1. Schaffen Sie einen günstigen Übergang zum Flipped Classroom für die Lernenden. Diese sind nicht mit dem Konzept vertraut und benötigen eine Einführung.
  2. Schaffen Sie einen günstigen Übergang zum Flipped Classroom für die Lehrenden. Die Einarbeitung und Umstellung von Lehrenden auf dieses Konzept brauchen Zeit und Ressourcen.
  3. Erwägen Sie die Einführung von Einführungsmaterialien und die Bereitstellung von Online-Unterstützung in Videovorträgen. Nicht alles verstehen Lernende sofort, weshalb eine flankierende Hilfestellung durch Chats Verständnisschwierigkeiten unmittelbar beseitigen kann. Ausserdem kann es sich lohnen, komplexere Inhalte nicht in Videos, sondern in der Face-to-Face-Situation zu behandeln.
  4. Ermöglichen Sie effektives Multimedia-Lernen mithilfe von der Lehrperson erstellter Kurzvideos. Die Videos sollten nicht zu lang sein und den lernförderlichen Gestaltungsprinzipien des multimedialen Lernens folgen.
  5. Verwenden Sie Online-Übungen mit computerbasiertem Feedback, um die Vorbereitung der Lernenden zu motivieren. Um die Aneignung des Lernstoffs vorgängig zu unterstützen, empfiehlt sich der Einsatz von Feedbackmechanismen bereits in der Phase der ausgelagerten Vermittlung von Inhalten. Auch die Verwendung solcher Lernerfolgskontrollen für die finalen Noten kann erfolgen.
  6. Adaptieren Sie die Lektionsinhalte in der Präsenzphase in Bezug auf die Lernleistungen der Lernenden ausserhalb der Präsenzphase. Die Fehlanwendungen und Fragen der Lernenden, die ausserhalb der Präsenzphase erkennbar waren (z. B. im Chat oder bei Feedbackmechanismen), bieten die Möglichkeit der Konfektionierung.
  7. Aktivieren Sie die Lehrenden mithilfe einer strukturierten formativen Bewertung, z. B. eines Quiz‘ zu Beginn der Präsenzphase. Dies ermöglicht die Vorwissensnutzung, was generell als lernförderlich gilt.
  8. Fordern Sie die Lernenden auf, verschiedene Aufgaben und reale Probleme zu lösen. In solchen Anwendungen des Wissens können Motivation und Interaktion gefördert werden, zudem können sich auch kognitive Konflikte und metakognitive Prüfungen des eigenen Verständnisses ergeben.
  9. Erfüllen Sie die Bedürfnisse der Lernenden durch Feedback und differenziertere Inhalte und Vermittlungsformen. Die eingesparte Zeit durch die Auslagerung ermöglicht eine intensivere Interaktion und passgenauere Erläuterung.
  10. Fördern Sie kooperatives Lernen durch Lernaktivitäten in kleinen Gruppen. Nicht nur auf die lehrende Person kommt es an, auch die Gruppe der Lernenden kann in geeigneten Formen kooperativ lernen.
INFOBOX

Lesetipp: Die Handreichung «Lehre gestalten an der PH Zürich» liefert Anregungen und Ideen, wie Mischformen von Online- und Präsenzlehre sowie von synchronen und asynchronen Lehr-Lern-Formaten gestaltet werden können. In dieses Kontinuum wird auch der Ansatz des Flipped Classroom eingeordnet.

Zum Autor

Maik Philipp ist Professor für Deutschdidaktik an der PH Zürich. Seine Schwerpunkte sind Lese- und Schreibförderung mit Fokus auf Evidenzbasierung. Neuere Publikationen: «Multiple Dokumente verstehen» (2019), «Lesekompetenz bei multiplen Texten» (2018), «Lesestrategien» (2015) und «Grundlagen der effektiven Schreibdidaktik» (2018).

Weiter bilden!

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Autor:innen: Dagmar Bach, Gabriel Flepp, Kay Hefti, Monique Honegger, Barla Projer, Alex Rickert, Yvonne Sutter, Tobias Zimmermann

Zur Verabschiedung von Geri Thomann, dem langjährigen Leiter der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich, haben Mitarbeitende eine Reihe von Texten verfasst. Diese  – seinem innovationsfreudigen Wesen und Wirken entsprechend teils experimentellen – Texte sind online erhältlich und werden unten näher vorgestellt. 

Ende Juni 2022 geht Geri Thomann in Pension. Er hat die Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung  an der PH Zürich seit 2009 massgeblich aufgebaut, das Schreibzentrum in die Abteilung integriert und weiterentwickelt, die Integration der Weiterbildung für Berufsfachschulen eng begleitet und den Ausbau im Bereich der Höheren Berufsbildung angestossen – so auch diesen Blog, zu dem er selbst regelmässig als Autor beigetragen hat.

Herzlichen Dank! 

Die Mitarbeitenden der Abteilung danken Geri Thomann ganz herzlich für seinen grossen Einsatz, seine profunden Fachkenntnisse und seine menschlichen Qualitäten – es war toll, mit ihm zu arbeiten! Für den bevorstehenden Unruhestand wünschen wir Geri nur das Allerbeste und viele genussvolle Momente.

Festpublikation «Fliegen – balancieren – segeln – tuckern: Ein Dank an Geri Thomann»

Im Zentrum der online erhältlichen Festpublikation stehen Fragen und Themen, die Geri Thomann wichtig sind:

Dagmar Engfer visualisiert Blended Coaching meteorologisch gerahmt, 
«Strategie oder Mimikry?» fragt Barbara Getto bezüglich mediendidaktischer Innovation in der Hochschulentwicklung, 
Franziska Zellweger und Erik Haberzeth denken Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung aneinander,  Wolkenmetaphern in Bezug auf Dozierende beleuchtet Simone Heller-Andrist, dass «sie sich doch dreht» beschreibt Monique Honegger, das Schreibzentrum PH Zürich präsentiert unter der Redaktion von Alex Rickert einen bunten Hund als Textstrauss, Kathrin Rutz ergründet Lern- und Tunnelerfahrungen (Liminalität) in der Beratung, inwiefern Farbe bekennen trotz «Changing the perspektive» für Führungspersonen nötig ist, diskutiert Willie Weidinger und Tobias Zimmermann präsentiert einen Ausschnitt aus dem Jahresbericht 2040 als «research-based fiction».

Screenshot der Webseite www.2022-gerithomann.com

Die Reform im Detailhandel und KV – ein Werkstattbericht

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Text: René Schneebeli

Die Umsetzung der Reform im Detailhandel und im KV läuft auf Hochtouren. Bis zum Sommer 2022 bzw. 2023 werden alle Lehrpersonen im Kanton Zürich ihre Weiterbildungen abgeschlossen und ihren Unterricht auf die neuen Vorgaben abgestimmt haben. Ein Unterfangen mit vielen Beteiligten, Veränderungen, Fragen und Unsicherheiten.

Quelle: vbv 2021

Die Reform ist tiefgreifend. Soll sie erfolgreich sein, muss ihre Umsetzung in einen mehrjährigen Schulentwicklungsprozess eingebunden sein. Die PHZH und andere Hochschulen haben den Auftrag erhalten, im Rahmen dieses Prozesses den viereinhalbtägigen Präsenzteil der Lehrerweiterbildung zu übernehmen. Dabei geht es um die Entwicklung und Umsetzung eines kompetenzorientierten Unterrichts und um die Gestaltung von kompetenzorientierten Prüfungen. Im Fokus steht die konkrete Anwendung im Unterricht.

Heterogenität, Kritik und Erfahrung

Als wir im letzten Herbst mit der Umsetzung begannen, stellten wir fest, dass die Schulen und die etwa 650 Lehrpersonen bezüglich der Reform sehr unterschiedlich unterwegs waren. Schnell wurde klar, dass die vorgesehenen Standardangebote, die wir zusammen mit den anderen Hochschulen aufgrund des nationalem Grobkonzept entwickelten, der Situation nicht gerecht wurden. Die inhaltliche, organisationale und zeitliche Heterogenität war insbesondere bei den KV Schulen einfach zu gross. Also mussten wir die Angebote auf die jeweiligen Verhältnisse der Schulen abstimmen. So wurden Lernende oder Schulleitungen in die Lernsettings eingebunden oder schuleigene Lehrpersonen als Kursleitende engagiert. Zum Teil wurden die Weiterbildungen mit schulspezifischen Halbtagen ergänzt oder es wurden andere inhaltliche Schwerpunkte gesetzt. Zwar hatte dies für uns einen deutlich grösseren Aufwand pro Weiterbildung zur Folge, die Angebote wurden dadurch jedoch anschlussfähiger.

Gleichwohl begegneten wir als Repräsentanten der Reform auch immer wieder grundsätzlichen Vorbehalten und punktueller Skepsis. Das war in der Anfangszeit zu einem Teil den Unklarheiten geschuldet, die sich aus dem nationalen Projekt selbst ergaben und die unseren Kursleitenden den notwendigen Wissensvorsprung erschwerten. Grund für Kritik gab auch das mangelnde Zusammenspiel aller Beteiligter. Wo an Schulen hinsichtlich der schulischen Umsetzungsprojekte Unklarheiten oder Ungereimtheiten zwischen Leitung, Projektverantwortlichen und Lehrpersonen bestanden, richtete sich die Kritik der Lehrpersonen oftmals stellvertretend an das Reformprojekt, die Kurse oder die Kursleitenden. 

Unterdessen sind wir weiter. Wir haben vielfältige Erfahrungen gesammelt und die Prozesse und Inhalte sind so ausgereift, dass wir flexibler auf die Nachfrage reagieren können. Dies wird für die kommenden Kursumsetzungen und insbesondere für die Anbieter der schulischen Grundbildung (SOG Schulen) relevant sein, die einen guten Teil der Weiterbildung selbst finanzieren und bei denen die Weiterbildung der Lehrpersonen noch bevorsteht. Gleiches gilt für die Wirtschaftsmittelschulen, die ebenfalls von diesen Erfahrungen profitieren können.

Situationslogik, Interdisziplinarität und Teamarbeit

Ganz im Sinne des handlungskomptenzorientierten Lernens erarbeiten sich die Lehrpersonen das notwendige theoretische Wissen selbstorganisiert. Der Präsenzunterricht konzentriert sich auf die Umsetzung, Diskussion sowie Erläuterung und Vertiefung einzelner Themen. Gleichzeitig ist immer wieder auch Klärungsarbeit zu leisten bezüglich der Vielzahl von Grundlagendokumenten und Konzepten.

Oft machen die Lehrpersonen die Feststellung, dass nicht alles, was die Reform bringt, wirklich neu ist. Vieles wird schon so gelebt und im Rahmen der Weiterbildung nur neu verortet. Die grösste Neuerung ist der Wechsel von der Fach- in die Situationslogik und die Zentrierung der Sichtweise auf die Lernenden. Damit verbunden ist eine Fokusverschiebung weg von Leistungszielen, Lehrmitteln und Lerninhalten hin zu Arbeitssituationen und typischen Tätigkeiten.

Situationsorientierung statt Leistungszielorientierung, HSLU/EHB/PHSG/PHZH

Dabei muss eine Verbindung hergestellt werden zwischen dem durch die Lernmedien vermittelten Grundlagenwissen und Handlungsabläufen, die in sogenannten «Handlungsbausteinen» bereitgestellt werden oder wie sie die Lernenden aus ihrer Praxis berichten. Erst die Kombination von Wissen und Handeln erzeugt die situationsbedingte Handlungskompetenz (Krapp & Weidenmann 2006), auf die die Reform abzielt. Dieser Perspektivenwechsel und die Notwendigkeit, sich mit der Berufspraxis der Lernenden intensiver auseinanderzusetzen, wird von vielen als eigentlicher Kulturwandel erlebt, der Haltungsfragen berührt und deshalb Schulen und Lehrpersonen noch einige Zeit beschäftigen wird.

Über den nächstjährigen Schulstart hinaus dürfte es auch dauern, bis sich die interdisziplinären Lehrerteams etabliert haben. Das gemeinsame Entwickeln interdisziplinärer Lernarrangements verlangt den Blick über den Tellerrand hinaus. Es muss eine gemeinsame Sprache und ein Konsens zu den Qualitäts- und Bewertungskriterien gefunden werden. Manche Schulen gehen bei diesem Schritt noch weiter und suchen schulübergreifende Lösungen.

Nicht zuletzt ist es für alle anspruchsvoll, durch den Schritt von der disziplinären Fachdidaktik zur interdisziplinären Kompetenzorientierung sich selbst und den Lernenden einen Überblick über die Lerninhalte zu verschaffen.

Grossprojekte, Unsicherheiten und Umsetzungshilfen

Es liegt in der Natur komplexer Grossprojekte, dass mit ihrer Umsetzung begonnen wird, bevor alle Details geklärt werden können. Mit dieser Herausforderung waren alle Involvierten und somit auch wir in den vergangenen Monaten konfrontiert. Je mehr nun auf allen Ebenen Schritt für Schritt Unsicherheiten ausgeräumt, Prozesse geklärt, Zuständigkeiten definiert und Inhalte erstellt werden, umso mehr nimmt die Bereitschaft zu, als Lehrperson die Reform mitzutragen. Nach wie vor tauchen immer wieder Bedürfnisse nach Umsetzungshilfen auf, auf die das Projekt noch keine genügenden Antworten bietet: Wie begleite ich die Portfolioarbeit der Lernenden, wenn die Erteilung von Zugriffsberechtigungen dafür bei den Lernenden liegt? Wie bewerte ich Portfolioarbeit? Wie sieht in diesem Zusammenhang die Rolle des Lerncoachs aus? Wie komme ich als IKA-Lehrperson zu dem Wissen, das ich im Handlungskompetenzbereich E vermitteln soll? Fehlt mir da noch Fachwissen? Etc.

Schulentwicklungsprozess und ergänzende Angebote

Die Reform ist weder mit der Lehrerweiterbildung noch mit dem Schulstart 2022 bzw. 2023 abgeschlossen. Es ist absehbar, dass eine so fundamentale Reform einen mehrjährig geführten Schulentwicklungsprozess benötigt, der die Zusammenarbeit aller Akteure erfordert. Die PHZH hat das Privileg, bei allen betroffenen Schulen Einblick zu erhalten, die Bedürfnisse zu erfassen und zeitnahe, ergänzende Angebote zu machen, die es den Schulen ermöglicht, in ihrem Entwicklungsprozess weiterzukommen.

Konkret werden wir aufgrund unserer vielen Gespräche Angebote im Bereich des KV-Handlungskompetenzbereiches E, zur Portfoliobegleitung sowie eventuell zum Wahlpflichtbereich der zweiten Fremdsprache im KV offerieren.

INFOBOX

Das ergänzende Angebot der PH Zürich wird ab dem Herbstsemester verfügbar sein. Eine Infoveranstaltung dazu, in der wir unsere Angebote näher vorstellen, findet online am 20. Juni 2022 um 19.30 Uhr statt.

Allen, die sich unabhängig von der Reform für das Thema Handlungskompetenzorientierung interessieren, können wir folgendes Angebot empfehlen: Handlungskompetenzorientierung auf den Punkt gebracht, 4. November 2022, 13.30–17 Uhr, PH Zürich.

Zum Autor

Rene_Schneebeli_sw

René Schneebeli arbeitet im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung an der PH Zürich. Er ist Dozent und Leiter des Projekts Reform Detailhandel und KV.

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