Text: Tobias Zimmermann
Wenn Sie den Begriff «Beurteilungskriterien» hören, denken Sie vermutlich zuerst an Prüfungen oder wissenschaftliche Arbeiten. Sie spielen aber auch sonst in der Hochschullehre eine wesentliche Rolle: Auch bei Übungsaufgaben geht es stets um die Frage, wie angemessen und/oder wie korrekt sie im Hinblick auf fachliche Ansprüche bearbeitet werden. Beurteilungskriterien werden in solch niederschwelligen Kontexten zwar nicht immer explizit thematisiert. Sie bilden aber implizit auch dort die Folie, auf deren Hintergrund die Bearbeitung der Aufgabe beurteilt wird.
Beurteilungskriterien als Chance zur Verständigung
Der Umgang mit Beurteilungskriterien wird von Dozierenden oft als notwendiges Übel empfunden. So können verschiedene Schwierigkeiten entstehen: Dozierende kommunizieren keine Beurteilungskriterien für eine anstehende Aufgabe oder Leistungsbeurteilung, oder sie investieren wenig Zeit dafür. Beides kann dazu führen, dass die offiziellen Beurteilungskriterien (sofern kommuniziert) oder die in der Modulbeschreibung aufgeführten Lernziele nur teilweise mit den tatsächlich angelegten (impliziten) Beurteilungskriterien übereinstimmen. Die resultierende Unberechenbarkeit von Dozierendenfeedback und/oder Leistungsbeurteilungen ist für Studierende unbefriedigend. Und für Dozierende mag es so aussehen, als würden die Studierenden zu wenig Lernaufwand betreiben.
Dabei bieten Beurteilungskriterien ein beträchtliches Potenzial für die fachliche Verständigung zwischen Dozierenden und Studierenden. Werden sie gemeinsam besprochen oder gar ausgearbeitet, reduzieren sich oben genannten Risiken. Bevor ich auf diese Chancen näher eingehe, möchte ich noch zwei wichtige Hinweise zur Gestaltung von Beurteilungskriterien geben. Sie helfen, das genannte Potenzial zu nutzen:
- Wichtig ist, dass die Lernziele transparent gemacht werden, die den Beurteilungskriterien zugrunde liegen. Die Lernziele definieren, was die Studierenden am Ende können sollen, die Beurteilungskriterien sind bloss ein Mittel zum Erreichen dieses Ziels. Am besten sind die Lernziele auf dem Dokument mit den Beurteilungskriterien explizit aufgeführt. Im Minimum sollte das Dokument einen Verweis enthalten, wo die Lernziele zu finden sind (z.B. in der Modulbeschreibung).
- Besonders empfehlenswert für das Formulieren von Beurteilungskriterien sind so genannte Beurteilungsraster, auf Englisch rubrics genannt. Unter dem Link finden Sie eine nähere Erläuterung dieses Instruments, das ich auch in meinem bald erscheinenden Buch zum Thema Leistungsbeurteilung (siehe Infobox am Ende) vorstellen werde.
Die folgenden Verfahrensschritte führen dazu, dass die Studierenden die Beurteilungskriterien nicht nur kognitiv besser verstehen. Sie setzen sich auch verstärkt mit ihrem Sinn und Zweck auseinander, was ihre Akzeptanz der Kriterien erhöht und die Internalisierung von fachlichen Ansprüchen fördert.
Option 1: Kriterien gemeinsam besprechen
Bereits festgelegte Beurteilungskriterien mit den Studierenden eingehend zu besprechen, hat gegenüber einem reinen Bekanntgeben der Kriterien diverse Vorteile. Die dafür in der Lehrveranstaltung investierte Präsenzzeit lohnt sich nicht nur mit Blick auf das verbesserte Lernen der Studierenden. Sie führt auch zu einer langfristigen Zeitersparnis für uns Lehrende, indem die grössere Klarheit bezüglich der Beurteilungskriterien zu weniger Rückfragen der Studierenden im weiteren Lernprozess führt. Deshalb sollte für diesen Schritt mindestens eine halbe Stunde investiert werden.
Zur gemeinsamen Besprechung werden die Beurteilungskriterien auf Papier ausgeteilt oder online zur Verfügung gestellt. Die Studierenden erhalten Zeit, um sie durchzulesen. Anschliessend können sie im Plenum Verständnisfragen stellen. Es lohnt sich, ein bis zwei anregende oder gar provokative Fragen bereit zu haben, falls die Studierenden sich anfänglich nicht zu melden getrauen.
Beispiel: Beurteilungskriterien in einer Vorlesung besprechen
Hanna Felder, Professorin für Mikrobiologie, hält jährlich eine anspruchsvolle Grundlagenvorlesung. Deren Leistungsnachweis besteht in einer Posterkonferenz, wobei Poster und Konferenzteilnahme bewertet werden. Sie hat dafür ein Beurteilungsraster mit wesentlichen Anspruchsdimensionen hinsichtlich der fachlichen Kompetenzen und der Posterkonferenz erstellt. Sie teilt es jeweils in der letzten halben Stunde der dritten Vorlesungswoche aus. Die rund hundert Studierenden, die zu diesem Zeitpunkt schon in die Thematik der Vorlesung eingearbeitet sind, besprechen das Beurteilungsraster in Gruppen. Am Ende hält jede Gruppe eine bis zwei offene Fragen zum Raster fest. Diese tragen sie in einer dafür bereitstehenden Online-Umfrage auf der begleitenden Lernplattform ein. Frau Prof. Felder schaut sich die Fragen an, gruppiert sie, und beantwortet sie zu Beginn der folgenden Vorlesungsstunde. Wo nötig, stellt sie den Studierenden Rückfragen, um sich über den Hintergrund der Fragen zu verständigen. Gegen Semesterende können die Studierenden online nochmals Fragen zum Beurteilungsraster stellen, auf welche die Professorin in der letzten Vorlesung vor der Posterkonferenz eingeht.
Besprechen in Gruppen aktiviert die Studierenden
Das Beispiel zeigt eine wirksame Möglichkeit beim Besprechen von Beurteilungskriterien: Sie besteht darin, dass die Studierenden das Kriterienraster zuerst in Gruppen von ca. 4 Studierenden diskutieren. Sie können dabei ihre Fragen notieren, welche die Gruppensprecherinnen im Plenum stellen können (oder wie im Beispiel online, was sich bei grossen Studierendenzahlen lohnt). Viele Fragen können dadurch schon in Peer-Diskussionen geklärt werden, und es beteiligen sich auch Studierende an der Diskussion, die im Plenum zurückhaltend sind.
Die Fragen der Studierenden können verschiedene Aspekte betreffen, und manchmal kommen Unklarheiten des Kriterienrasters zum Vorschein. Diese Verständigung stellt eine wertvolle Lerngelegenheit für beide Seiten dar:
- Studierende können dadurch Lücken oder Missverständnisse bezüglich der zu lernenden fachlichen Begriffe, Konzepte und Verfahrensweisen aufarbeiten. Dozierende können Lücken im Vorwissen der Studierenden erkennen und sich überlegen, wie sie darauf reagieren möchten.
- Dozierende lernen besser zu verstehen, wo für die Studierenden entscheidende Hürden liegen. Dadurch können sie diese in ihrem künftigen Lehrhandeln lernwirksamer adressieren, etwa indem besonders schwierige Begriffe oder Konzepte vertiefter behandelt werden. Unter Umständen können auch Korrekturen in den Formulierungen der Beurteilungskriterien angezeigt sein, damit sich keine Schere zwischen expliziten und impliziten Ansprüchen öffnet.
Option 2: Kriterien anhand von Beispielen anwenden
Als weitere Möglichkeit können wir den Studierenden Beispiele von früheren Bearbeitungen der vorliegenden Aufgabe zur Verfügung stellen und sie auffordern, die Beispiele anhand des Rasters zu beurteilen (Nicol 2010, S. 505f.; Sadler 1989). Diese Option kann gut kombiniert werden mit der oben genannten Diskussion der Beurteilungskriterien in Gruppen – die Gruppen versuchen dann, die Kriterien auf die Beispiele anzuwenden.
Bei den Beispielen früherer Aufgabenbearbeitungen kann es sich um (ggf. anonymisierte) Texte, Programmiercode, Tabellen, künstlerische Artefakte oder auch Aufzeichnungen von Vorträgen oder künstlerischen Aufführungen handeln (zu denen natürlich das Einverständnis der Aufgezeichneten eingeholt werden muss). Durch die Auseinandersetzung mit früheren Leistungen müssen die Studierenden einen Perspektivenwechsel von der Situation der beurteilten zu jener der beurteilenden Person vornehmen. Dies bedingt kognitive Umformungsprozesse, die das Verständnis der Kriterien begünstigen. Es empfiehlt sich für dieses Vorgehen in der Regel, ein gelungenes und ein nicht gelungenes Beispiel zur Verfügung zu stellen. Durch die Kontrastierung der Beispiele können die Studierenden besser herausarbeiten, woran sich das Erreichen von Lernzielen erkennen lässt bzw. welche Merkmale Anzeichen für deren Nichterfüllung sind. Auch bei diesem Vorgehen lohnt es sich, die Erfahrungen der Gruppen beim Anwenden der Kriterien auf die Beispiele sowie ihre offenen Fragen im Plenum zu besprechen.
Eine Alternative besteht darin, dass die Studierenden im Lauf des Semesters zu einer Aufgabe oder zu einem im Entstehen befindlichen Produkt ein Peer-Feedback geben. Im obigen Beispiel könnten sich z.B. Frau Felders Studierende basierend auf dem Beurteilungsraster gegenseitig Feedback zu ihren Postern geben.
Fazit: Lernwirksamkeit von Beurteilungskriterien nutzen, indem sie gemeinsam besprochen und angewendet werden
Indem wir Studierende direkter in den Prozess des Verstehens (Option 1) und Anwendens (Option 2) von Beurteilungskriterien einbeziehen, erhöhen wir ihre wahrgenommene Selbstbestimmung. Sie erleben sich dadurch sozial stärker in das Lehr- und Lernhandeln eingebunden, nehmen ihr Handeln als wirksamer wahr und erfahren mehr Autonomie in ihrem Lernprozess. Dies erhöht gemäss der Selbstbestimmungstheorie die intrinsische Motivation der Studierenden. Dadurch lernen sie stärker tiefenorientiert und somit nachhaltiger. Dieser Effekt kann noch erhöht werden, in dem die Studierenden nicht nur von den Dozierenden bereits festgelegte Kriterien interpretieren und anwenden, sondern die Kriterien ganz oder teilweise selbst entwickeln. Mögliche Vorgehensweisen dazu werden im hilfreichen Buch von Stevens und Levi (2013, S. 87-102) erläutert sowie im bald erscheinenden Buch (siehe Infobox).
INFOBOX
Der Umgang mit Beurteilungskriterien wird näher erläutert in:
Zimmermann, Tobias: Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten. Prüfen, Beurteilen und Rückmelden von Lernleistungen. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. ISBN 978-3-8474-3045-2. (vorgesehenes Erscheinungsdatum: April 2024, Open Access online)
Das Buch gibt anwendungsorientierte Hinweise zur Gestaltung, Beurteilung und Rückmeldung von Prüfungen und vielen weiteren Formaten von Leistungsnachweisen. Zudem thematisiert es lernpsychologische Grundlagen für eine wirkungsvolle und valide Beurteilungspraxis.
Aktuelle Veranstaltungen zum Thema Beurteilung an Hochschulen:
Assessment und Evaluation
13.–14. Juni 2024, PH Zürich
Beyond Exams: Designing Authentic Assessment and Feedback Practices
6.2.–16.5.2024, online/PH Zürich/Pristina
Zum Autor
Tobias Zimmermann ist Leiter des Zentrums für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich und leitet einen CAS-Studiengang in Hochschuldidaktik. Seine Spezialisierungen liegen im Beurteilen und Rückmelden von Lernleistungen, der Weiterbildungsdidaktik sowie der Mediendidaktik.