Beitrag von Ulrike Hanke, Dozentin und Beraterin für Hochschuldidaktik; Kurs- und Modulleiterin am ZHE.
Dienstag-Morgen, 10:15 Uhr, Vorlesung an der Pädagogischen Hochschule:
Szenario 1: Die Vorlesung beginnt. Mehr oder weniger interessiert sitzen die Studierenden in den Reihen und hören zu, während die Dozentin begrüsst. Sie informiert zuerst die Studierenden anhand einer Übersicht über den Ablauf der nächsten eineinhalb Stunden. Anschliessend startet sie die Vorlesung systematisch. Sie spricht klar und deutlich und geht fachlich logisch vor.
Anfangs lauschen die Studierenden einigermassen gespannt. Mit fortschreitender Stunde kritzeln sie jedoch vermehrt auf ihren Blöcken rum, holen das Smartphone heraus, öffnen E-Mail-Programme auf den Laptops oder beschäftigen sich sonst irgendwie. Der Funke scheint nicht übergesprungen zu sein.
Szenario 2: Die Vorlesung beginnt. Mehr oder weniger interessiert sitzen die Studierenden in den Reihen und hören zu, während die Dozentin begrüsst. Sie blendet zuerst ein Bild ein und erzählt dabei eine Geschichte aus den Anfängen ihrer Berufstätigkeit. Sie schildert den Studierenden recht genau, was in dieser Situation vorgefallen ist, wie sie sich dabei gefühlt hat, wie die Situation schliesslich gelöst wurde. Dann teilt die Dozentin den Studierenden mit, dass sie heute hier sei, um sie zu befähigen, ähnliche Situationen anders anzugehen und zu meistern. Die Studierenden tuscheln kurz. Aber als die Dozentin die erste Folie zum Thema einblendet, verstummen sie und lauschen konzentriert den Ausführungen der Dozentin. Auch nach 10 min scheinen die meisten noch interessiert.
Was hat Dozentin 2 besser gemacht als Dozentin 1?
Was macht den Unterschied?
Grundsätzlich kann man als Dozentin oder Dozent davon ausgehen, dass sich Studierende für ihr Studienfach interessieren: In den beiden Beispielen wenden sich zunächst fast alle Studierenden den Dozentinnen zu und folgen gespannt. Während Dozentin 1 dann jedoch einen fachlich systematischen Einstieg wählt, erzählt Dozentin 2 eine emotional ansprechende Geschichte und zeigt anhand des Beispiels auf, was sie in der Vorlesung lernen werden. Keine der beiden lässt die Studierenden wirklich sichtbar aktiv werden. Dennoch scheinen diese im zweiten Szenario deutlich aktiver und interessierter. Sie tuscheln, sie hören zu; ablenkende Tätigkeiten kommen weniger vor. Offensichtlich ist es der Dozentin gelungen, die Studierenden mehr zu packen und ihr grundlegendes Interesse aufrecht zu erhalten.
Wie hat sie das gemacht?
Die emotionale Geschichte hat die Aufmerksamkeit der Studierenden geweckt und verstärkt. Die Geschichte versetzt die Zuhörer in einen Ungleichgewichtszustand: Sie stellen sich vor, in dieser Situation zu stecken, spüren, wie sich das anfühlen könnte. Dadurch wird Dopamin ausgeschüttet (siehe dazu Jäncke, 2014), was dafür verantwortlich ist, dass das menschliche Gehirn aktiviert wird. Die Tendenz zur Äquilibration, also die Neigung Gleichgewicht herstellen zu wollen, setzt quasi automatisch einen Verarbeitungsprozess in Gang. Die Studierenden haben den Wunsch, die Situation aufzulösen und beginnen darüber nachzudenken, wie man hätte agieren, wie die Situation hätte vermieden werden können usw. Dass die Studierenden mental aktiv werden und nachdenken, zeigt sich darin, dass sie zu tuscheln beginnen – sie möchten sich austauschen.
Die Dozentin 2 zeigt anschliessend auf, was die Studierenden in der Lehrveranstaltung lernen können. Sie nennt ihnen dabei ein Ziel, das in einem direkten Zusammenhang mit ihrer Geschichte steht. Die Vorlesung wird den Studierenden ihre aufgeworfenen Fragen beantworten und somit helfen wieder einen Gleichgewichtszustand herzustellen. Für die Lernenden erscheint es dadurch relevant. Das wiederum macht es den Studierenden leichter, das Ziel als ihr eigenes zu akzeptieren – es «lohnt» sich, aufmerksam zu sein.
Durch diese beiden Schachzüge – mit einer Geschichte Emotionen ansprechen und ein relevantes Ziel aufzeigen – gelingt es der zweiten Dozentin, die Aufmerksamkeit der Studierenden (noch mehr) zu gewinnen und das Interesse am Thema zu verstärken. Hätte die Dozentin dem Redebedürfnis der Studierenden zudem nachgegeben und sie ermuntert über die Situation, Ursachen und Handlungsmöglichkeiten auszutauschen, wäre die Wirkung der Geschichte noch stärker aufgetreten. Die Studierenden hätten die Gelegenheit gehabt, das Ungleichgewicht und die damit verbundenen Emotionen noch besser wahrzunehmen – zwei Minuten mit Murmelgruppen hätten dafür schon gereicht.
Drei Prinzipien zum Einstieg
Die zwei Szenarien zeigen, dass der Einstieg in Lehrveranstaltungen durchaus entscheidend ist. Das zweite Beispiel veranschaulicht dabei drei Punkte, die den Grundstein für eine gelingende Lehrveranstaltung legen (siehe das unten stehende Video).
- Ungleichgewicht auslösen: Ein Ungleichgewichtszustand erzeugt Aufmerksamkeit, weil wir umgehend versuchen, wieder Gleichgewicht herzustellen (dazu z.B. Hanke & Winandy 2014). Diese Bewegung kann man durch bewusste «Provokationen» zu Beginn von Lehrveranstaltungen auslösen, etwa durch (auch emotional) anregende Fragen, Thesen, Fälle und Probleme.
- Vorwissen aktiveren: Ein kurzer Austausch, die Möglichkeit Gedanken mitzuteilen, aktiviert das Vorwissen der Studierenden gleich beim Einstieg. Neben Murmelgruppen sind dazu viele andere Methoden wie zum Beispiel Brainstorming denkbar.
- Relevante und attraktive Ziele formulieren: Die Aussicht darauf, dass die folgende Lehrveranstaltungssitzung Antworten oder Lösungen für die aufgeworfenen Fragen bringt, d.h. den Ungleichgewichtszustand aufzulösen hilft, weckt Interesse und Engagement. Was in der Veranstaltung zu lernen ist, sollte in die Sprache der Studierenden gebracht und mit Fragen oder mit einem praktischen Bezug zu einer Situation oder einem Problem verknüpft werden. Das ist in der Regel gewinnbringender als Ziele aus dem Modulbeschrieb zu nennen (dazu z.B. Arn 2016).
Wenn Sie Einstiege in Ihre Lehrveranstaltungen auf diese Art gestalten, werden Sie die Aufmerksamkeit Ihrer Studierenden wecken und ihr Interesse stärken. Das wird schliesslich auch Ihnen mehr Spass machen.
Ulrike Hanke ist als freie Dozentin am ZHE tätig, z.B. in «Gestalten von Lehr-Lernarrangements». Dieses Modul wird sowohl im Rahmen des Kursprogramms Hochschuldidaktik vertieft als auch im Rahmen des CAS Hochschuldidaktik angeboten. Zudem bietet sie aktuell einen Kurs zum Thema Mündlich prüfen an. Konkrete Ideen und Methoden, wie diese drei Schritte umgesetzt werden können, gibt es im kostenlosen Video-Kurs «Aktivierende Methoden für Einstiege in Lehrveranstaltungen».
Redaktion: ZBU
Was denken Sie über einen Einstieg mit einem kurzen Film?
Da unsere Autorin derzeit verhindert ist, antworte ich von Seiten der Redaktion: Ich denke, dass ein Einstieg mit einem kurzen Film eine vergleichbare Wirkung haben kann wie der persönliche Einstieg der Dozentin aus Szenario 2. Wenn der Film geschickt gewählt ist, erfüllt er auch die ersten beiden der am Ende des Beitrags genannten Kriterien: 1) Ungleichgewicht auslösen und 2) Vorwissen aktivieren. Wichtig scheint mir, dass der Film einen klaren Bezug entweder zur Lebenswelt der Studierenden hat oder zu Situationen, denen sie im angestrebten Beruf bald begegnen könnten.