Führen von Expertinnen und Experten – eine komplexe Aufgabe

Beitrag von Geri Thomann

Führungsaufgaben in Expertinnen- und Expertenorganisationen gelten allgemein als anspruchsvolle Tätigkeit. Mintzberg (1979) bezeichnet die Bedingungen und Funktionsweisen von Expertinnen- und Expertenorganisationen in ihrer schöpferischen Aufgabe als «Profi-Bürokratie». In Abgrenzung zur «Maschinen-Bürokratie» ist die «Profi-Bürokratie» gekennzeichnet durch die grosse Anzahl an Mitarbeitenden, die fachlich hoch qualifiziert sind und eine erhebliche Kontrolle über die eigene Arbeit haben.

In der Summe werden dabei jedoch häufig ambivalente und teilweise paradoxe organisationale Bedingungen für Expertenorganisationen sichtbar (Thomann & Zellweger, 2016, S. 49).

  • Expertinnen- und Expertenorganisationen zeichnen sich durch Mitarbeitende aus, die hoch qualifizierte Spezialistinnen und Spezialisten sind und in ihrem Fachbereich möglichst autonom arbeiten wollen und können. Sie verfügen folglich über eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit und ein nicht zu unterschätzendes Beharrungsvermögen. Nur mit überzeugenden Argumenten lassen sie sich in eine bestimmte Richtung bewegen. Widerstand gegen Entscheidungen von aussen ist Programm, flache Hierarchien und Konzepte des Intrapreneurships führen zu Konkurrenz, zu Machtkämpfen und zu Deregulierung – und dadurch wieder zu übergeordnetem Regulierungsbedarf.
  • Expertinnen- und Expertenorganisationen kennzeichnet, dass Expertinnen und Experten sich eher ihrer jeweiligen Berufsgruppe gegenüber verpflichtet sehen als der organisatorischen Einheit, oder der Gesamtorganisation zu der sie gehören. Karriere und Laufbahnen werden mehrheitlich in der Logik der Profession und damit weniger abhängig von der Organisation definiert. Dies schafft eine Ambivalenz zwischen inhaltlicher Profilierung in der Fachcommunity und dem organisationalen Commitment. Eine Paradoxie besteht darin, dass gerade die Reputation der einzelnen Expert:innen zentral ist für die Reputation der Gesamtorganisation (Laske et al. 2006, S. 207).
  • Inhaltliche Fachexpertise verfügt zudem traditionsgemäss über einen höheren Status als Führungs- (oder Management-)Expertise, sie repräsentiert sozusagen das «Kapital der Organisation». Führungsentscheidungen werden bei Expert:innen deshalb ambivalent bis skeptisch wahrgenommen; es ist zudem eine grundsätzliche Hierarchieaversion zu konstatieren.
  • Partizipation an Entscheidungen gehört zur organisationalen Kultur in Expertinnen- und Expertenorganisationen – gleichzeitig ist nicht selten latent eine subtile fachliche Konkurrenz allgegenwärtig.
  • In Expertinnen- und Expertenorganisationen stehen inhaltlich orientierte Aufgaben in Spannung zu Verwaltung und Management. Beide Kulturen benötigen unterschiedliche (Führungs-)Konzepte. Eine solche Spannung ist nicht einfach auflösbar, kann aber durchaus produktiv genutzt werden.
  • Zudem lassen die Anforderungen an eine zunehmende Spezialisierung auf Seiten der Expert:innen oft Organisationsstrukturen entstehen, welche nach fachlichen Profilen aufgebaut sind. Dies führt wiederum zu einem wachsenden Integrationsbedarf auf der Ebene Gesamtorganisation. Die notwendige Verknüpfung von hoch autonomen Einheiten ist anspruchsvoll.
  • Einerseits sollen sich gerade staatliche Expertinnen- und Expertenorganisationen zunehmend kostenbewusst oder sogar unternehmerisch verhalten. Andererseits kann das Spannungsfeld zwischen den Steuerungsebenen (staatliche Geldgeber, strategische Führung und operative Führung) eine Paradoxie erzeugen: Die Forderung nach unternehmerischem Handeln wird andauernd durch bürokratische Vorgaben unterlaufen.

Führungshandeln als «Covert Leadership»

Für die Leitung von Expertinnen- und Expertenorganisationen benötigen Führungspersonen nach Mintzberg (1998, S. 140-147) spezifische Fähigkeiten, welche unter dem Begriff «Covert Leadership» zusammenfasst werden. Mit Covert Leadership ist ein Verständnis von Führung gemeint, welches im konkreten Prozess der Zusammenarbeit auf der Basis von Vertrauen, Beziehungsorientierung und Respekt «aus dem Hintergrund» Einfluss nimmt.

In den letzten Jahren zeigt sich in Expertinnen- und Expertenorganisationen – gerade an Hochschulen – ein neues Führungsverständnis, welches auf dem Covert Leadership Gedanken aufbaut. Als Beispiel sei hier die laterale Führung genannt (Thomann & Zellweger 2016 oder Zellweger & Thomann 2018). Dieses Modell beruht auf flacheren und flexibleren Strukturen und der Zunahme von «Hybrid Professionals» (Kels & Kaudela-Baum 2019, S. 21), welche ihre Expertise «quer», transdisziplinär und projektbezogen aufbauen. Mit anderen Worten: Lateral Führende verfügen über keine formalen Weisungsbefugnisse, über keine disziplinarischen oder andere direkten Sanktionsmöglichkeiten. Die Geführten sind nicht zwingend aus derselben Organisationseinheit und bewegen sich oft auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen.

Führung und Expertise – ein Spannungsfeld

Das Spannungsfeld zwischen Führung und Expertise kann nicht aufgelöst werden, es kann lediglich ein für die Institution und seine Ziele förderlicher Umgang gefunden werden. Für die Führungspersonen – aber auch für die Expert:innen – können sich dabei unter anderem folgende Fragen stellen:

  • Inwiefern müssen Führungskräfte zu ihrer Legitimation über einen so genannten Berufsfeldbezug verfügen? Wie führt man Expert:innen ohne eigene Expertise im selben Fachbereich?
  • Wie wird Führungsexpertise im Vergleich zu inhaltlicher Expertise oder fachlicher Erfahrung gewichtet und bewertet, wie ist der Status von Führung in Expertenorganisationen? Wieviel inhaltliche Erfahrung oder aktuelles Fachwissen brauchen Führungskräfte, um führen zu können?
  • Inwieweit können Führungskompetenzen Fachkompetenzen ersetzt oder kompensiert werden? Wie steht es mit der Führungskompetenz als Expertise?
  • Inwieweit stimmt die Hypothese der (latenten) Konkurrenz zwischen Führungspersonen und Expert:innen? Was bedeutet das für das Führungshandeln?
  • Wie ist die Sicht der Geführten «im Sandwich» zwischen Fachexpertise und Management? Handelt es sich dabei eher um ein Spanungsfeld?
  • Wie lässt sich autonomes Handeln von Expert:innen steuern? Wie reagieren Expert:innen darauf?
  • Wie reagieren Expertinnen- und Expertenorganisationen und ihre Führungskräfte auf Krisen, wie bewältigen sie diese?
Die drei Gastgebenden des diesjährigen Kaminfeuergesprächs «Führungskräfte als Schlüsselpersonen für organisationale Resilienz» auf Schloss Au: Geri Thomann, Wiltrud Weidinger und Sylvia Kaap-Fröhlich.

Mit solchen Fragen beschäftigen sich Expert:innen aus Bildung und Gesundheit seit 2017 an den so genannten Kaminfeuergesprächen für Führungskräfte auf Schloss Au – veranstaltet von der PH Zürich in Zusammenarbeit mit dem Careum Bildungsmanagement.

INFOBOX

Die fünfte Durchführung des Kaminfeuergesprächs der PH Zürich mit dem Titel «Führungskräfte als Schlüsselpersonen für organisationale Resilienz» findet am 9. Dezember 2021 von 15.30-20.30 Uhr auf Schloss Au in Wädenswil statt.

Integriert findet dabei die Vernissage des Band 11 der Buchreihe Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung, «Zwischen Expertise und Führung», statt.

Zum Autor

Geri Thomann ist Leiter der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Als Inhaber einer ZFH-Professur forscht und publiziert er regelmässig über Aspekte der Hochschulentwicklung und Führungsfragen.

Asynchrone und synchrone Lehre – ein unzertrennliches Duo in der digitalen Lehre?

Beitrag von Bianca Morath und Ulrike Hanke

Auch wenn aktuell Lockerungen für die Lehre an Hochschulen beschlossen wurden, geht die digitale Lehre weiter und was der Herbst bringt, wissen wir nicht sicher. Was aber sicher ist: Wie auch immer das Herbstsemester starten wird, es wird keines wie das Herbstsemester 2019 oder das Frühlingssemester 2020. Studierende wie Dozierende haben jetzt fast drei Semester andere Erfahrungen gemacht, die Vor- und Nachteile der Online-Lehre kennengelernt und dadurch auch die Vor- und Nachteile der klassischen Präsenzlehre reflektiert. Ein Zurück wird es also nicht geben. Aber wie könnte denn eine gute Lehrveranstaltung nach Corona aussehen?

Grundsätzlich stehen uns asynchrone und synchrone Lehrformate zur Verfügung. Bei den asynchronen Lehrphasen handelt es sich um Phasen des Selbststudiums, die meist über die Learningmanagement-Systeme (LMS) / Lernplattformen (z.B. ILIAS, Moodle, OLAT etc.) der Hochschulen umgesetzt werden. Die synchronen Lehrphasen sind die Phasen der Lehre, während derer sich Lehrende und Studierende gleichzeitig an einem virtuellen oder physischen Ort zusammenfinden.

Welche Lehrform ist die bessere oder wie kombinieren wir sie geschickt? Lassen wir dazu zunächst eine Studentin zu Wort kommen.

Der Blick einer Studentin auf die digitale Lehre

Bianca Morath studiert im Bachelor Bildungswissenschaft an der Universität Freiburg im Breisgau mittlerweile im sechsten Semester:

„Seit drei Semestern studiere ich nun im Home-Office. In diesen drei Semestern habe ich sehr viele spannende und lehrreiche, aber auch einige recht monotone Lehrveranstaltungen besucht. Viele Dozierende übertrugen ihr Lehrkonzept aus der Präsenzlehre 1:1 in die digitale Lehre. Lehrveranstaltungen mit diesem Konzept verliefen ausschliesslich über die synchrone Phase, also über ein Videokonferenztool. Die Lehrveranstaltung bestand aus eineinhalb Stunden Input von der Lehrperson. Die Folge war, dass wir Studierenden völlig überflutet wurden mit einer Welle an neuen Informationen. Nach diesen eineinhalb Stunden fühlte ich mich meist schlapp. Und so erging es nicht nur mir, sondern auch meinen Kommilitonen und Kommilitoninnen. Unsere Motivation schwand von Woche zu Woche, da wir wussten, dass uns die gleichen monotonen eineinhalb Stunden am Computer erwarten würden. Kaum Interaktion, lediglich Input: Das war das Konzept einiger Dozierender. Da wir wussten, dass wir kaum in die Lehrveranstaltung miteingebunden werden, wurde der virtuelle Raum meist zu einer dunklen Wand, d.h. wir haben unserer Kameras ausgeschaltet oder gar nicht erst eingeschaltet und uns parallel zur Veranstaltung sogar teilweise anderweitig beschäftigt. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, von dieser Art Lehrveranstaltung habe ich am wenigsten mitgenommen. Meist war ich einfach froh, wenn die eineinhalb Stunden Input vorbei waren.

Aber es gab nicht nur monotone Lehrveranstaltungen in den letzten drei Semestern. Einige Lehrkonzepte waren wirklich kreativ und spannend gestaltet. Das Konzept dieser Lehrveranstaltungen bestand meist aus einer Kombination aus asynchronen und synchronen Lehrphasen.

Die asynchronen Phasen waren verschieden aufbereitet. Meist haben die Dozierenden uns kurze Lehrvideos hochgeladen, aber auch Texte, Skripte, Podcasts und andere Aufgaben wurden uns auf dem hochschulinternen Learningmanagement-System (LMS) zur Verfügung gestellt. So hatten wir die Möglichkeit, die Aufgaben zeitlich flexibel zu bearbeiten.

Durch verbindliche Abgaben haben unsere Dozierenden sichergestellt, dass wir vorbereitet in die synchronen Lehrphasen kamen. Kleinere Aufgaben zu den präsentierten Inhalten ermöglichten uns eine tiefere Auseinandersetzung mit den Lehrinhalten. Durch Quizfragen, kurze Essays oder andere Aufgabenarten wurde unser Lernen in der asynchronen Phase gefördert. Ein weiterer Vorteil war, dass wir beliebig oft die Lehrvideos anschauen konnten, da sie auf dem LMS frei verfügbar waren.

Da ein Teil des Lehrinhaltes in die asynchrone Phase verlagert wurde, konnten unsere Dozierenden in der synchronen Phase dann den vorbereiteten Inhalt und mögliche Fragen mit uns besprechen und vertiefenden Input geben. Dadurch wurden die synchronen Treffen automatisch interaktiver – aus meiner Sicht der Schlüssel, damit die Lernenden aufmerksam und motiviert bleiben.

Aus diesem Grund ist eine Kombination aus synchronen und asynchronen Lehrphasen die ideale Lehrform. Auch nach Corona erhoffe ich mir, dass wir nicht vollständig in die reine Präsenzlehre mit 90 min. Vortrag zurückkehren, sondern die Interaktivität auch in der Präsenzlehre mehr in den Vordergrund gestellt wird.

Warum die Kombination das Beste ist

Warum schätzt Bianca Morath die Kombination aus synchronen und asynchronen Phasen so positiv ein?

Ein kurzer Blick auf die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1993 u.a.) kann dies verdeutlichen: Die Theorie beschreibt, welche drei menschlichen Bedürfnisse befriedigt sein müssen, damit Menschen motiviert sind: das Bedürfnis nach Autonomie, nach Kompetenzerleben und nach sozialer Eingebundenheit (siehe Abb. 1). Diese drei Bedürfnisse werden in Lehrveranstaltungen vor allem dann gut befriedigt, wenn asynchrone und synchrone Lehrphasen kombiniert werden.

Asynchrone Lehrphasen gewähren den Studierenden Autonomie; sie können frei entscheiden, wann sie welche Aufgabe bearbeiten und welches Video oder welchen Text sie wie intensiv bearbeiten. So viel Autonomie ist weder in der virtuellen Präsenzlehre noch in der Präsenzlehre möglich. Durch das selbstständige Bearbeiten von Aufgaben in der asynchronen Phase können sich Studierende ausserdem als kompetent erleben. Werden die Aufgabenlösungen dann in der synchronen Phase besprochen, so dass die Studierenden ein Feedback erhalten, so wird dieses verstärkt.

Gleichzeitig erfüllen die synchronen Lehrphasen das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit, welches in asynchronen Lehrphasen schwerer zu befriedigen ist.

Selbstbestimmungstheorie nach Deci & Ryan, 1993

Fazit

Es zeigt sich also: Mit einer Kombination aus synchronen und asynchronen Lehrphasen holen wir als Dozierende das Beste aus beiden Welten. So lange wir rein online lehren müssen, nutzen wir Videokonferenztools für die synchronen Lehrphasen. Wenn wir wieder in Präsenz unterrichten dürfen, halten wir sie in Präsenz ab. Die asynchronen Phasen sollten wir aber definitiv in die Präsenzwelt übernehmen.

INFOBOX

Das Best-Practice aus dem Distanzmodus fliesst in den CAS Hochschuldidaktik ein, der zwei Mal jährlich startet.

Zu den Autorinnen

Ulrike Hanke ist Dozentin und Beraterin für Hochschuldidaktik und als Studiengangsleiterin im CAS Hochschuldidaktik Sommerstart für das ZHE tätig. Weitere Informationen zu Ulrike Hankes Tätigkeit finden Sie hier: www.hanke-teachertraining.de

 

Bianca Morath studiert Bildungswissenschaft an der Universität Freiburg im Breisgau und ist seit fast zwei Jahren studentische Mitarbeiterin im Bereich Hochschuldidaktik bei Ulrike Hanke – Hanke-Teachertraining.

Vom Hellraumprojektor zum Streaming im Unterricht

Beitrag von Arlette Haase

Digitalisierung, Digitalität, digitale Transformation – Schlagwörter, die uns seit Jahren begleiten, manche mehr, manche weniger, aber sie betreffen praktisch jeden. Die zunehmende Digitalisierung ist auch im Bildungsbereich, besonders seit Beginn der Pandemie, sehr stark spürbar. Während ich zu Beginn meiner Laufbahn als Lehrperson (und ich zähle mich zur jüngeren Generation) nur einen Hellraumprojektor und einen Fernseher mit Videorekorder zur Verfügung hatte, sassen am Ende meiner Tätigkeit als Berufsschullehrerin und zu Beginn meiner Funktion als Dozentin an der PHZH die Lernenden mit dem eigenen Notebook im Unterricht, WLAN überall im Schulhaus war selbstverständlich und Filme wurden gestreamt. Die Lehrbücher waren nur noch digital verfügbar, die Arbeitsblätter auf Moodle abgelegt, die Dateien der Lernenden wurden auf Onedrive gespeichert. Während die meisten Lehrpersonen noch für einen Unterricht ohne digitale Medien ausgebildet wurden, findet sich heute praktisch kein Klassenzimmer mehr ohne Smartphones und Notebooks. Jugendliche verfügen meistens über mehrere digitale Geräte, so dass sich durch die Veränderung hin zu einem «one to many» zusätzliche Chancen und Herausforderungen für Lehrpersonen und den Unterricht ergeben.

Eine weit verbreitete Annahme besteht darin, dass Unterricht mit digitalen Medien vor allem darin besteht, dass statt auf Papier nun im Word geschrieben wird und bewährte Unterrichtsmethoden durch digitale Tools ersetzt werden. Arbeitsblätter werden den Lernenden digital zur Verfügung gestellt, die diese dann in ihrem virtuellen Ordner speichern. Doch solche Szenarien greifen zu kurz und schöpfen die Möglichkeiten bei weitem nicht aus. Es geht nicht darum, eine vielfach bewährte Methode im Unterricht einfach durch ein digitales Tool zu ersetzen, statt der Wandtafel nehmen wir jetzt halt die digitale Pinnwand oder ein Arbeitsblatt stellen wir nun als pdf anstatt als ausgedruckte Kopie zur Verfügung. Vielmehr geht es darum herauszufinden, welche neuen Möglichkeiten sich durch die digitalen Medien für unseren Unterricht ergeben. Wie lassen sich Lernziele mit digitalen Medien effizienter, aber vor allem auch effektiver erreichen? Wie können wir beispielsweise die unendliche Informationsflut und -vielfalt des Internets kritisch und gewinnbringend nutzen? Welche Rolle spielen Social Media beim Lernen und wie können soziale Netzwerke genutzt werden, um ein persönliches Lernnetzwerk zu bilden? Wie gestalten wir die Zusammenarbeit im digitalen Raum? Wie können Gamification-Elemente spielerisch in unseren Unterricht einfliessen? Wie verändern sich unsere Unterrichtsziele und unsere Rolle als Lehrperson, wenn Lernende ihre Informationen auch aus dem Internet holen können? Und welche Kompetenzen benötigen unsere Lernenden und wir als Lehrpersonen, damit uns dies gelingt?

Der neue CAS Lehren und Lernen digital der PH Zürich für Lehrpersonen der Sekundarstufe II möchte hier eine Brücke schlagen und aufzeigen, welche neuen Möglichkeiten digitale Medien im Unterricht bieten können. Die Bandbreite der Themen reicht dabei von E-Didaktik für den Präsenzunterricht wie auch für Blended-Learning-Szenarien über digitales Prüfen bis hin zu Wikipedia und Social Media sowie Games / Gamification im Unterricht. Aber auch Themen wie digitale Kompetenzen und Kultur der Digitalität finden im neuen CAS Platz. Die Teilnehmenden, sowohl Berufsschul – als auch Gymnasiallehrpersonen, stellen sich aus einem breiten Modulangebot ein Weiterbildungsprogramm zusammen, das auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Das bereits bestehende Modul «Pädagogischer ICT-Support light für Berufsfachschulen» (PICTS light BFS) wird in den neuen CAS integriert und richtet sich insbesondere an Lehrpersonen, die eine Themenführerschaft an ihrer Schule übernehmen möchten. Weitere Informationen zum neuen CAS Lehren und Lernen digital sowie das Anmeldeformular werden im Frühling 2021 auf der Homepage des Zentrums für Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich aufgeschaltet.

INFOBOX

Der Lehrgang «CAS Lehren und Lernen digital» startet im August 2021. Jedes Modul kann auch einzeln gebucht werden. Am 22. April 2021 findet ein Informationsanlass dazu statt.

Zur Autorin

Arlette Haase ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Themenbereich «Digitales Lernen» des Zentrums Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich.

Kann in dem Sprachen-Mischmasch noch was gelernt werden? Sprachen, Vielfalten und chancengerechte Sprachförderung

Beitrag von Tamara De Vito und Monique Honegger

Wie zeigt sich Vielfalt von Sprachen im Lernalltag? Wie lässt sich der Umgang mit Mehrsprachigkeiten im Berufs- und Schulalltag ändern? In diesem Beitrag reflektieren die Autorinnen mit Fragen an Lehrende und Lernende, wie sich der Blick auf Mehrsprachigkeiten im Berufs- und Schulalltag ändern lässt.

Menschen sprechen, denken und lernen in vielen Stimmen

Ist Ihnen schon aufgefallen, dass in Englisch gesprochenen Filmen die Stimmen der Schauspielerinnen und Schauspieler oftmals tiefer klingen als in den auf Deutsch synchronisierten Varianten? Sogar wenn die synchronisierte Stimme dieselbe ist wie etwa in «Inglorious Bastards», d.h. wenn ein und dieselbe Person spricht, Christoph Walz.

So verblüfft auch, wie zwei- und mehrsprachig aufgewachsene Menschen von der einen Sprache in die andere wechseln: Nicht nur verändert sich die Stimmlage, ebenso Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke, Vokabular, Ironie, Humor sowie Mimik und Gestik oder Körpernähe zum Gegenüber variieren mitunter stark. Was wechselt, hängt ab davon, welche Sprache gerade gesprochen wird. Auch lässt sich dieser «Wechsel» an den Inhalten beobachten: Während einige Themenbereiche in der einen Sprache eine zentrale Rolle spielen, tun sie es in der anderen aber kaum. Gewisse Gemüsesorten kennt eine Studentin nur von zuhause auf Kurdisch, nur auf Spanisch weiss sie, was an Begräbnissen gesagt werden muss. Auf Deutsch wüsste die Studentin dafür einiges über die Bronzezeit zu berichten, denn dies hat sie hier in der Schule gelernt.

Bilden und Lernen in vielen Sprachen

Sprechen wir in Schulen und Hochschulen von Fremdsprachigen oder Anderssprachigen, oder politisch korrekter, von Zwei- bzw. Mehrsprachigen, bezeichnen wir damit Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig (genug) sind. Es sind also Menschen, denen die deutsche Sprache «fremd» ist, bzw. eine «andere» als die deutsche Sprache zuerst oder gleichzeitig gelernt haben. Es ist komplex und unklar: Für die Zuordnung eines Gegenübers als mehrsprachig sind ausschlaggebend: das Ganze eines Menschen, inklusive sozio-ökonomische Hintergrund und Höhe des Salärs und die Sprachwirkung eines Menschen (vgl. Honegger, De Vito & Bach 2020). Müssen wir mit Mehrsprachigkeiten leben, den eigenen und derjenigen der anderen? Kann man lebenslänglich «fremdsprachig» bleiben? Ist ein C1-Nivau ein Ticket in die Liga der Deutscherstsprachlichen?

Der sprachliche Ausdruck wirkt also. Als Brücke und als Barriere. Die sprachliche Teilhabe entscheidet auch darüber, wie wir an einer Gesellschaft oder Gruppe teilnehmen. Der Auftrag der Bildung ist, diese Teilhabe für alle zu ermöglichen und zu fördern. (Enkulturation, Sturm 2020) Sprache ist hierbei zentral. Mitunter werden Sprachen auch als Schlüssel zu einer Gesellschaft bezeichnet. Wenn es nun viele Sprachen sind, die mitschwingen, wird es komplex.

Sprachen verwenden, Sprechen und Schreiben bedeutet, neben der bildungssprachlichen Performance (bei uns weitgehend in Hochdeutsch) aber auch die eigene Identität, die eigene Kultur, den eigenen Erfahrungsschatz zu zeigen – das ist immer ein individuelles Konglomerat von vielen Sprachen und Sprachformen – sowie in formellen Kontexten vom Gegenüber erkannt und dafür geschätzt zu werden. Diese Wechselwirkung formt wiederum die eigene mehrsprachige Identität. (NFP 56 «Sprachenvielfalt und Sprachenkompetenz in der Schweiz», (Allemann, et al. 2010, S. 7-16).

Drei Bremsen in den Köpfen der Lehrenden beim Jonglieren von Mehrsprachigkeiten

Wie integrieren wir Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eine für sie anderssprachige Welt, damit erfolgreiche schulische und berufliche Entwicklung möglich ist?

Im Bewusstsein der Lehrenden wirken drei Bremsen (vgl. Honegger, De Vito & Bach 2020)

Bremse 1: «Die Lokalsprache (Hochdeutsch/Deutsch) ist am wichtigsten.» Muss ein Mensch in Hochdeutsch gut performen können, um Bildungserfolg zu haben? Oder sitzen wir als Lehrende und Politiker einer nationalistisch verhafteten alten Idee auf? Warum sprechen wir von Deutsch als Zweitsprache und nicht von Sprachenvielfalt? Haben die Inhalte der schulischen Institutionen einen realen Bezug zur Berufs- und jeweiligen Lebenswelt?

Bremse 2: «Die Deutsche Sprache zerfällt, weil sie niemand mehr kann.» «Zuerst lernt man richtig Deutsch – und dann alles andere.» Diese simple Reihenfolge gibt es allerdings kaum (noch). Kulturen und Sprachen wandeln sich unentwegt. Empirische Untersuchungen zeigen etwas anderes: Ob es in vielen Sprachen oder in nur einer ist, wir werden hinsichtlich unserer sprachlichen Ausdruckskraft nicht schlechter, lediglich anders.

Bremse 3: «Sprachen zu können, ist eine Sache der Begabung.» «Es gibt Menschen, die schaffen es gut mit den Sprachen und andere schaffen es nicht. Das ist in den Genen.» Forschungsergebnisse zeigen, dass sich der subjektive Glaube an Sprachbegabung leider an den Schulen hält. Indem wir an Sprachbegabung glauben, zementieren wir die Wirkung des sozialen Hintergrunds. (Honegger, De Vito & Bach 2020). Die in der Bildungswelt stark vertretene «Mittelschicht» teilt untereinander vielfach ähnliche Vorstellungen, Ansichten und Werte. Diese werden in der Schule verlangt und bewertet.

Lebenswelten wirken mehr als Sprachbegabungen

Zwar kennt auch eine in der Deutschschweiz aufgewachsene junge Lernende oder Studentin nicht sämtliche Erfahrungshorizonte der «Deutschschweizer Kultur». Wenn sich Schulen darauf beziehen und den Unterricht darauf aufbauen, versteht eine solche Lernende bald, um welche Kulturen es sich handelt und kann entsprechend handeln. Bringen jedoch Lernende oder Studierende andere Erfahrungen mit sich unterscheidenden sozialen Regeln mit, entsteht ein Gap. Sie verstehen die neuen Kulturen nicht auf Anhieb, ihre eigenen Welten werden nicht erkannt und nützen kaum etwas. So schwingt beispielsweise in Aufnahmeprüfungen und Abschlussprüfungen der versteckte Bildungskanon mit, der stark auf diese kulturellen Kerne referiert. Er beeinflusst etwa Überlegungen von Lehrenden und Dozierenden zu Sprachförderung, zu Prüfungssettings sowie -fragen, die Beurteilung von Menschen, die Deutsch nicht von Anfang an oder nicht gut genug gelernt haben, weil sie in anderen Welten lebten oder gemischten Welten leben.

Die oben erwähnten drei Bremsen wirken auch heute noch, obschon vor mehr als zehn Jahren diverse Massnahmen, Strategien für den Sprachenunterricht in der obligatorischen Schule sowie Grundlagenblätter verabschiedet worden sind. Deren Inhalt und Ziel war die Kompetenzen der Muttersprachigen zu festigen. Ebenso wurden Massnahmen beschlossen zur Sprachförderung für ausländische und fremdsprachige Lernende sowie zum Fremdsprachenlernen. Hauptziele dieser nunmehr nicht mehr jungen Bestrebungen waren und sind:

  • das Sprachenlernen insgesamt verbessern (auch der ersten Sprache);
  • das Potenzial des frühen Sprachenlernens besser nutzen;
  • die Mehrsprachigkeit des Landes respektieren;
  • im europäischen Kontext konkurrenzfähig bleiben.

Auf der Sekundarstufe II werden vorab in der Berufsbildung Stützkurse angeboten, in denen Jugendliche ihre Sprach-, Lese- und Schreibkompetenzen verbessern können. Oft bleiben diese Angebote jedoch praktisch wirkungslos, da sie beispielsweise nicht mit dem Regelunterricht koordiniert werden. Auf Hochschulebene gibt es mittlerweile zahlreiche Sprachenzentren und Stellen, die diese Aufgabe übernehmen. (Grossenbacher & Vögeli-Mantovani, 2009)

Mit Blick auf die Praxis bleibt zu blianzieren, dass diese Strategien noch nicht wirkungsvoll umgesetzt worden sind.

Mit Fragen und Tipps zur Gerechtigkeit?

Durch andere Fragen kommen wir im Lernalltag in einen anderen Dialog. Die Kommunikation von Defiziten ist nicht lernförderlich. Folgende Fragen an Lernende und Studierende helfen und lösen Reflexion aus.

  • Können Sie sich vorstellen, dass Sie mehrere Erstsprachen haben?
  • Was können Sie in welcher Sprache gut ausdrücken?
  • Wie und worüber können Sie in welcher Sprache gut kommunizieren? (SMS/Telefon/formeller Brief/Kochrezepte/Wetter/Politik/Familie)
  • Was können Sie in der jeweiligen Sprache am besten?
  • Ihr «Mischmasch» in den Sprachen hilft Ihnen extrem. Um Sprachen weiter zu lernen und optimal zu kommunizieren müssen Sie nicht unbedingt perfektes Deutsch können. Wissen Sie das?

Didaktische Tipps

  • kulturelle Lebenswelten und Erfahrungswelten (in Beruf und Zuhause) der Lernenden und Studierenden wertschätzen, anderen Welten er- und anerkennen und thematisch im Unterricht integrieren
  • Mit Lernenden und Studierenden in Verbindung mit Ihrem Fach wiederkehrend Werte und Erfahrungen thematisieren
  • Werte-Irritationen (häufig Lachen oder Schweigen) oder «Regel-Irritationen» aufnehmen
  • Für Lernende und Studierende explizit benennen, welche Werte an Ihrer Hochschule/Schule gelten
  • Individuen eng begleiten, in ihrer Andersartigkeit. Sprachförderung und -lernen geschieht vorab über Beziehung, konkrete Kommunikation und «Stoff»

Bildungspolitische Tipps

  • Eingangs- und Ausgangstüren (Prüfungen) checken.
  • Mehrsprachigkeiten und der Umgang sind keine kleine vorübergehende «Krise». Es braucht eine Gesamtstrategie, welche die Zeit nach der obligatorischen Schulzeit miteinbezieht – also die Sekundarstufe II und die Hochschulen.
  • Professionalisierung der Lernsettings für Lehrende im Rahmen von Mehrsprachigkeiten, und zwar in allen Fächern.
  • Coaching, Mentoring als Weiterbildung- und Ausbildungsformen für Lehrende planen und finanzieren

Ungebremste effektive Sprachförderung von allen für alle?

Unabhängig vom Fach hilft es, wenn wir Lehrende – anstatt über mangelnde Sprachkompetenzen der Lernenden zu klagen – uns selbst fragen: Welches Verständnis von Kultur, Bildung, Sprache haben wir selbst? Ändert es sich?

«Eine unangenehme Erinnerung an meine Schulzeit ist, dass ich das Gefühlt hatte, in meiner Mehrsprachigkeit zu «schwimmen», von allem ein bisschen zu kennen, aber keine Sprache vertieft zu beherrschen»

Viele Sprachen in einem Menschen sind keine Bremsen, sie sind ein Schwimmring. Wir wissen es einfach noch nicht oder nicht immer.

INFOBOX 1

Der Lehrgang «CAS Sprachförderung in der Berufsbildung» richtet sich an Lehrpersonen verschiedener Fachrichtungen. Schwerpunkte sind u.a. szenariobasierter (DaZ)-Unterricht und bilingualer Fachunterricht (bili). Zentraler Inhalt ist, auf die sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten der Lernenden einzugehen.
INFOBOX 2

Eben erschienen ist dieser Band zu Mehrsprachigkeiten:
«Mit Vielfalt jonglieren – auf Sekundarstufe II und an Hochschulen»

Er zeigt und diskutiert mehrsprachige Praxen und Themen, Umgang mit Mehrsprachigkeiten.

Zu den Autorinnen

Tamara De Vito leitet den Themenbereich «Sprachen» im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich, sowie den CAS Sprachförderung in der Berufsbildung. Sie hat langjährige Unterrichtserfahrung an der Sekundarstufe II.

Monique Honegger ist Senior Teacher und ZFH-Professorin an der PH Zürich. Beratend, forschend, weiterbildend und bildend.


Wissen und Erfahrung verknüpfen – ein Ansatz zur Entwicklung erwachsenenpädagogischer Kompetenz

Beitrag von Erik Haberzeth und Gabriel Flepp

Die Teilnahme an Weiterbildung nimmt in der Bevölkerung seit Jahrzehnten zu, wie die amtliche Bildungsstatistik zeigt (vgl. BFS 2018). Die steigenden Teilnahmezahlen haben dazu geführt, dass die Weiterbildung als zentraler Teil des Bildungswesens und damit auch als Tätigkeits- und Berufsfeld stark expandiert ist. Die Zahl von Personen, die im Hauptberuf oder nebenberuflich in diesem Feld tätig sind, ist erheblich. Entsprechend ist auch der Professionalisierungsbedarf gross, denn für die Qualität der Programme und Angebote in der Weiterbildung ist die erwachsenenpädagogische Kompetenz des Personals entscheidend.

Drei Pfade der Professionalisierung

Prinzipiell lassen sich drei Pfade der Kompetenzentwicklung und damit Professionalisierung für eine Tätigkeit in der Weiterbildung unterscheiden:

  • ein berufspraktischer,
  • ein akademischer und
  • ein dritter Pfad, der die ersten beiden Ansätze zu verknüpfen versucht.

In der Schweiz ist der berufspraktische Professionalisierungspfad vor allem über das Ausbildungssystem für Ausbildende (AdA-Baukasten) stark ausgebaut. Das Motto lautet: «aus der Praxis für die Praxis» (vgl. AdA-Flyer). Das AdA-System ist ohne Zweifel sehr erfolgreich und andere Länder beneiden uns um dieses ausgebaute, anerkannte und vielfach genutzte Qualifizierungssystem.

Dagegen spielt die akademische Professionalisierung über grundständige Studienangebote, also solchen die zu einem ersten Hochschul-Abschluss führen, eine marginale Rolle. Dies im Unterschied etwa zu unseren Nachbarländern Deutschland und Österreich. Die Studiengänge bilden prinzipiell für eine Tätigkeit in der Weiterbildung als Erstberuf aus. Auch sie können sich durch eine Praxisnähe auszeichnen, gleichwohl steht die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen zu Bildung und Erwachsenenbildung im Mittelpunkt.

Gewissermassen zwischen diesen beiden Pfaden entwickelt sich zunehmend ein dritter, der die Stärken der anderen beiden Pfade zu verbinden versucht. Er lässt sich als wissenschaftlich-handlungsfeldorientierter Pfad bezeichnen. Im Gegensatz zu den grundständigen Studiengängen ist das Angebot deutlich spezialisierter und fokussiert auf einen konkreten Handlungsbereich, etwa Lehre/Unterricht oder Planung. Im Unterschied zu den berufspraktischen Angeboten nimmt allerdings die Auseinandersetzung mit aktuellem wissenschaftlichen Wissen zur Weiterbildung und zum Lernen Erwachsener einen deutlich höheren Stellenwert ein. Den Angeboten geht es vor allem um eine Verknüpfung von berufspraktischem Erfahrungswissen und wissenschaftlichem Wissen (vgl. Haberzeth 2018). Aber ist eine solche Verknüpfung in einer Person überhaupt sinnvoll? Ist es nicht besser, Kompetenzbereiche zu trennen?

Kompetentes Handeln in der modernen Weiterbildung

Die Behauptung des AdA-Systems, es handle sich um den «Königsweg» (vgl. AdA-Flyer) der Kompetenzentwicklung, ist sehr problematisch. Kompetentes Handeln angesichts komplexer und sich dynamisch entwickelnder beruflicher Aufgaben und Herausforderungen – nicht nur im Bildungsbereich, sondern auch in anderen Branchen – zeigt sich gerade darin, über unterschiedliche Formen des Wissens zu verfügen (vgl. Umbach u.a. 2020). Notwendig ist ein systematisches Wissen, das wissenschaftlich begründet ist, und ebenso ein Erfahrungswissen, welches durch sinnliche und praktische Erfahrung in konkreten Handlungszusammenhängen erworben wird. Systematisches Wissen und berufliche Erfahrungen müssen sich verbinden, um die komplexen Herausforderungen in Handlungssituationen der Weiterbildung dauerhaft erfolgreich bewältigen und auch aktiv Innovationen anstossen zu können (vgl. Gieseke 2018). Für eine entsprechende Kompetenzentwicklung können gerade hochschulische Angebote des dritten Professionalisierungspfads eine Möglichkeit bieten.

Umsetzung im «CAS Erwachsenenbildung»

Auf der Grundlage dieser Überlegungen hat die Pädagogischen Hochschule Zürich einen neuen CAS-Lehrgang in Erwachsenenbildung entwickelt. Konkret setzen wir den skizzierten Anspruch der Kompetenzentwicklung vor allem folgendermassen um:

Schematische Darstellung des CAS Erwachsenenbildung

In einem ersten Modul geht es um das Herzstück der Weiterbildung, nämlich das Lernen Erwachsener. Alle Aktivitäten in der Weiterbildung sind letztlich darauf gerichtet, das Lernen Erwachsener zu ermöglichen. Dabei meint Lernen eine Handlungsmöglichkeit in der Lebensführung von Menschen – neben z.B. Spielen, Arbeiten oder Schlafen. Man kann sich entschliessen, zu lernen und an einer Weiterbildung teilzunehmen – oder auch nicht. Es geht also auch zentral um Weiterbildungsentscheide von Menschen vor dem Hintergrund ihrer beruflichen und familiären Lebenssituation. Die Thematik wird anhand ausgewählter wissenschaftlicher Literatur erarbeitet. Inhalte des Moduls sind:

  • Die Teilnehmenden bekommen einen vertieften Einblick in wissenschaftliche Diskurse. Sie lernen wissenschaftliches Denken und Argumentieren kennen. Sie eignen sich ein reflektiertes Verständnis menschlichen Lernens an, das langfristig tragfähiger ist als Rezepte und Moden.
  • In den ausgeprägten Gruppenphasen lernen sich die Teilnehmenden untereinander und ihre Arbeitsfelder vertieft kennen und prüfen Transfermöglichkeiten in ihre Praxis.
  • Das Modul begleitet die Teilnehmenden über einen längeren Zeitraum. Im Kontakt miteinander können nach und nach neue Sichtweisen entstehen oder alte sich verändern. Gerade Theorieaneignung braucht Zeit.

In einem zweiten Modul geht es darum, eigene praktische Erfahrungen mit einem eigenen Innovationsprojekt zu sammeln. Die Teilnehmenden suchen sich eine Herausforderung oder ein Problem aus ihren jeweiligen Arbeitskontexten, das sie reflektieren und dabei verschiedene Handlungsentwürfe entwickeln:

  • Das Modul stellt das persönliche Handeln der Teilnehmenden ins Zentrum, ihre eigene Praxis und mögliche Innovationen im Sinne eines (tatsächlichen) Transfers.
  • Dabei werden sie durch Expertinnen und Experten begleitet und beraten. Zudem spielen Peer-Hospitationen eine zentrale Rolle.

Das eigene Innovationsprojekt kann ganz unterschiedlich sein, es kann z.B. aus den Bereich Weiterbildungsplanung und -organisation, Lehre/Unterricht oder Beratung kommen. Immer geht es aber darum, einen geschulten erwachsenenpädagogischen Blick zu entwickeln, der wissenschaftlich fundiert ist, und um eine entsprechende Gestaltungsfähigkeit.

INFOBOX

Der Lehrgang «CAS Erwachsenenbildung» startet zum ersten Mal am 1. September 2021. Anmeldeschluss ist der 31. Mai 2021. Alle Informationen finden Sie hier.

Am CAS interessierte Volksschullehrpersonen, die noch nicht über das «SVEB-Zertifikat Kursleiter/-in» verfügen, empfehlen wir, dieses in einer verkürzten Dauer bei unserem Kooperationspartner EB Zürich zu erwerben.

Zu den Autoren

Erik Haberzeth

Erik Haberzeth ist Professor für Höhere Berufsbildung und Weiterbildung im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich.

Gabriel Flepp

Gabriel Flepp ist als wissenschaftlicher Assistent am Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich.


Lernende drehen Erklärvideos

Beitrag von Dominic Hassler

Mediendidaktik, kooperatives Lernen und fachliche Inhalte unter einen Hut bringen

Erklär- und Lernvideos sind bei Dozierenden, Lehrpersonen und Lernenden en vogue. Sie helfen Lernenden, sich Wissen im eigenen Lerntempo anzugeignen. Eingesetzt werden sie in Flipped Classroom oder Blended Learning Settings. Vorliegender Beitrag skizziert eine Methode, in der Lernende oder Studierende solche Erklärvideos herstellen, um ihr Wissen zu vertiefen. Diese Methode ist –  im Sinne des Paradigmenwechsels vom Lehren zum Lernen – auch als Alternative zu Vorträgen oder schriftlichen Leistungsnachweisen einsetzbar.

Vom Legen zum Filmen

Dieser Beitrag fokussiert sich auf das Format Legetechnik, obschon zahlreiche Formate für Erklärvideos geeignet sind. Was ist Legetechnik? Hier wird von oben herab gefilmt, wie zwei Hände Grafiken, Objekte oder Charaktere bewegen; parallel dazu spricht eine Erzählstimme. Es empfehlt sich, Legetechnik-Videos in Gruppen von drei bis vier Lernenden zu erstellen.

Beispielbild Legetechnik

Spielformen von Low-Tech bis High-Tech 

Lernende erstellen in den überbetrieblichen Kursen der Bankenlehre (CYP) ein Erklärvideo zu einem selbstgewählten Thema in nur 80 Minuten. Wie das funktioniert, hält das Schweizer Fernsehen in einer sehenswerten Reportage fest.

Beachten Sie, wie dieses technisch einfache Beispiel dank pragmatischer Aufgabenstellung in einem Durchgang aufgenommen wird: weder digitale Nachbearbeitung noch Zusammenschneiden sind nötig. Sogar Soundeffekte haben die Lernenden mit einem zweiten Handy eingebaut. Zudem ist erkennbar, dass sich die Legetechnik eignet, wenn der fachliche Gegenstand durch eine Erzählung veranschaulicht wird (etwa die Haftpflichtversicherung bei einem Autounfall).

Wird das Video im Nachhinein digital bearbeitet, eröffnen sich neue Möglichkeiten. Lernende können das Video mit Musik unterlegen, einzelne Standbilder einfügen oder aneinanderreihen, um einen Stop-Motion-Effekt zu erzeugen (vlg.  dieses nachbearbeitete Erklärvideo von Mittelschülerinnen über die DNA-Translation).

Der Technisierungsgrad der Aufgabe erleichtert es Lehrenden, auf die individuellen Fähigkeiten der Anwesenden einzugehen. Stärkere Gruppen eignen sich selbstständig anhand von Software-Tutorials an, wie sie Videos digital bearbeiten können. Schwächere Gruppen dagegen konzentrieren sich darauf, die Inhalte zu erarbeiten und visualisieren.

Digital zeichnen: Vom Prinzip ähnlich, aber technisch aufwändiger sind digital gezeichnete und animierte Videos (www.videoscribe.co, www.powtoon.com) sowie Stop-Motion Videos. Alternativ können Bilder bzw. Zeichnungen in PowerPoint animiert und besprochen werden (dazu ein Erklärvideo von mir). 

Screencast: An der Hochschule für Technik Stuttgart erstellen Studierende Lösungsvideos zu Mathematikaufgaben. Die Dozierenden schildern ihr Vorgehen dabei in diesem Webinar.

Wie die Lehrenden begleiten, ist entscheidend  

Je weniger die Lernenden über Arbeits- und Lernstrategien verfügen, desto stärker sollte die Gruppenarbeit und der Lernprozess begleitet werden. Das Erstellen eines Erklärvideos ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Die Lehrperson unterstützt Lernende, fokussiert bei der Arbeit zu bleiben, indem sie die Aufgabe in mehrere Teilschritte mit Deadlines gliedert.  

Storyboard: Nach dem Erarbeiten der Inhalte erstellen die Lernenden ein Storyboard oder ein Drehbuch. Dies besteht z. B. aus einigen A5 Karten, welche die Szene skizzieren und einige Sätze enthalten. Jede Gruppe lässt das Drehbuch von der Lehrperson absegnen, bevor sie in die nächste Phase geht. Dies verhindert, dass eine Gruppe in eine ungünstige Richtung arbeitet oder zentrale Aspekte ausser Acht lässt. Es empfiehlt sich, eine frühe Deadline zu setzen, damit die Gruppen ausreichend Zeit haben, das Zwischen-Feedback der Lehrperson umzusetzen.

Requisiten: Im Anschluss werden die Requisiten – zum Beispiel selbst angefertigte Zeichnungen – erstellt. Es können auch Grafiken aus dem Internet ausgedruckt und ausgeschnitten werden.

Sprechtext: Der Sprechtext muss nicht immer ausformuliert und aufgeschrieben sein, obgleich dies die Qualität der Erzählstimme erhöht.

Nach dem Erstellen der Requisiten und des Sprechertexts kann die Lehrperson je eine weitere Rückmeldung geben und den Lernprozess steuern.

Aufnahme des Videos: Häufig müssen Lernende das Video mehrmals aufnehmen, bis es im Kasten ist. Das mag sie frustrieren, eröffnet jedoch eine wertvolle Lerngelegenheit. Einerseits festigt sich der Inhalt durch die Repetition, andererseits können sie ihre eigene Sprechstimme hören, reflektieren und justieren.

Prägnante Aufgabenstellung: Dazu gehören Hinweise zur Dauer des Videos (Empfehlung: maximal 5 Minuten), zu nötigen Informationen auf dem Titelbild sowie zum Abgabeformat des Videos. Zudem muss erwähnt sein, ob alle involvierten Lernenden zu hören sein sollen.

Erworbene Kompetenzen  

Abhängig von der Aufgabenstellung können Lernende diese Kompetenzen erwerben:

  • innerhalb der vorgegebenen Zeit Arbeitsweise und Inhalte priorisieren
  • sich als Gruppe auf eine Vorgehensweise einigen
  • fachlichen Inhalt, den das Erklärvideo behandelt
  • Inhalte recherchieren, filtern und zusammenfassen
  • Inhalte visualisieren
  • Storytelling
  • reflektieren und steuern der eigenen Sprechstimme
  • berücksichtigen von Urheberrechten und Datenschutz
  • ggf. mit einer Videobearbeitungssoftware umgehen

Mitdenken erbeten: Evaluation und Benotung sinnvoll? 

Das Ergebnis dieser Methode kann evaluiert und benotet werden. Damit lässt sich ein Vortrag oder eine schriftliche Arbeit ersetzen. Setzt man diese Methode zum ersten Mal ein, kann die Benotung eine Herausforderung sein. Als Starthilfe können Sie dieses Bewertungsraster verwenden. Wählen Sie drei bis fünf der Kriterien aus und gewichten Sie diese nach Ihren Bedürfnissen.

Diskutieren Sie mit uns in der Kommentarspalte darüber, inwiefern welche Kriterien (nicht) sinnvoll sind, welche Sie verwenden würden und welche Ihnen fehlen.

INFOBOX
Haben Sie generell Interesse an Videos in der Lehre? Gerne verweisen wir Sie auf folgende Angebote:

- Video als FeedbackmethodeWie man Feedback persönlicher gestaltet und dabei Zeit spart
- Inhalte und Kompetenzen mit Erklärvideos vermitteln – Lernförderliche Videos erstellen und didaktisch sinnvoll in den Unterricht einbetten

Zum Autor

Dominic Hassler ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der PH Zürich und leitet den Themenbereich «Digitales Lernen» im Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung.

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr?

Didaktische Herausforderungen auf unterschiedlichen Bildungsstufen im Bereich der beruflichen Bildung  

Beitrag von Arlette Haase

Wer sowohl in der beruflichen Grundbildung wie auch in der höheren Berufsbildung oder Weiterbildung unterrichtet, kennt den Spagat zwischen den zumeist jugendlichen Berufslernenden und den erfahreneren Berufsleuten im Unterricht. Während die Jugendlichen in der beruflichen Grundbildung oft direkt von der Volksschule in die Lehre eintreten, sich mitten in der Adoleszenz befinden und wenig bis keine Berufserfahrung aufweisen können, stehen die Teilnehmenden von Angeboten der höheren Berufs- und Weiterbildung mitten im (Berufs-) Leben und möchten sich gezielt weiterbilden. Es versteht sich von selbst, dass das didaktische Arrangement an die jeweilige Zielgruppe angepasst werden muss.  

Im Unterricht mit Jugendlichen spielt die Förderung ihrer überfachlichen Kompetenzen eine wichtige Rolle.

So lernen Jugendliche in der beruflichen Grundbildung 

Jugendliche in der beruflichen Grundbildung benötigen neben den fachlichen und allgemeinbildenden Inhalten, welche durch die Bildungspläne vorgegeben werden, häufig Unterstützung auf dem Weg des Erwachsenwerdens und bei der Ausbildung ihrer Identität. Im Unterricht wird viel Wert auf die so genannten überfachlichen Kompetenzen gelegt, indem Lernende beispielsweise auch bei der Planung ihres Lernens unterstützt werden. Lehrpersonen sind nebst Fachpersonen für den jeweiligen Beruf oder den allgemeinbildenden Unterricht häufig Bezugspersonen für ganz unterschiedliche Anliegen der Berufslernenden, sei es bei Problemen im Betrieb oder bei persönlichen Themen.  

So lernen Studierende in der höheren Berufs- und Weiterbildung 

Studierende in der höheren Berufs- und Weiterbildung hingegen bringen bereits einen Strauss an beruflichem Wissen und Erfahrungen mit. Diese gilt es im Unterricht gezielt aufzugreifen und daran anknüpfend die Fachkompetenz zu erweitern. Damit dies gelingt, müssen Lehrpersonen Möglichkeiten bieten, die bestehenden Erfahrungen mit dem neuen Wissen in Verbindung zu bringen und dabei berücksichtigen, dass eine Auseinandersetzung mit Gewohnheiten, Einstellungen und Weltanschauungen die an sich gefestigte Identität von «erwachsenen» Studierenden ins Wanken bringen kann (vgl. Siebert, 2017, 28). Hier gilt es zu respektieren, dass Studierende gezielt entscheiden, mit welchen Inhalten sie sich tiefergehend befassen und welche Inhalte für sie wenig Relevanz haben. Ebenso verfügen Studierende zumeist über stabile Lernstile (Siebert, 2017, 72) und wissen genau, wie sie lernen, während Jugendliche in der beruflichen Grundbildung häufig erst an dieses Thema herangeführt werden müssen. Dabei steht der Beziehungsaspekt weniger im Vordergrund als der fachliche Austausch. 

Erwachsene lernen basierend auf ihren Gewohnheiten, Einstellungen und Weltanschauungen.

Eine klare Trennung nach Stufe greift zu kurz 

Doch eine schlichte Reduktion auf die jeweilige Stufe (berufliche Grundbildung/höhere Berufsbildung) bei der Planung von Unterricht greift zu kurz. In der beruflichen Grundbildung finden wir ebenfalls Lernende, die beispielsweise eine verkürzte Lehre absolvieren oder in der ergänzenden Bildung ihren Berufsabschluss nachholen und somit bereits über einige Jahre Berufserfahrung verfügen. Und auch im Bereich der höheren Berufs- und Weiterbildung finden wir eine Spannbreite vom jungen Erwachsenen, der direkt aus der beruflichen Grundbildung kommt bis hin zur langjährigen Berufsperson, die sich nach einer längeren Phase beruflicher Tätigkeit aus unterschiedlichen Gründen für eine Weiterbildung entschieden hat.  

Konzept der Adressatenanalyse  

Lehrpersonen im berufsbildenden Bereich sind also angehalten, auch bei gleichen oder ähnlichen Unterrichtsinhalten immer wieder zu analysieren, wer genau ihre Zielgruppe ist und welche Bedürfnisse diese hat, aber auch welche Schwierigkeiten sich jeweils ergeben könnten. Erst aufgrund dieser Adressatenanalyse kann ein passender Unterricht entwickelt werden. Dabei gelten folgende Prinzipien: Je jünger die Lernenden, desto mehr Führung und pädagogische Unterweisung brauchen sie; je älter die Lernenden, desto mehr steht Anschlusslernen, also das Lernen aus den eigenen (beruflichen) Erfahrungen, im Vordergrund und nicht die Belehrung.  

Konzept der Bedeutsamkeit  

Entscheidend für einen gelingenden Lernprozess ist die Frage, inwieweit es im Unterricht gelingt, die (vorgegebenen) Unterrichtsinhalte individuell bedeutsam zu machen, so dass die Lernenden und Studierenden einen unmittelbaren Bezug zu ihrer Lebenswelt herstellen können. Mikula (2009, 6) beschreibt, passend dazu, die subjektive Bedeutsamkeit als ausschlaggebend dafür, «ob sich Lernen als Veränderung von Handlungen, als Wissenserweiterung oder als Beitrag zur Lebensbewältigung vollzieht». Nur wenn dieser Brückenschlag zwischen Lehrangebot und den individuellen Anschluss- sowie Verarbeitungsmöglichkeiten gelingt, kann Lernen im Sinne einer Reinterpretation oder Reorganisation von bereits vorhandenen Strukturen stattfinden. Damit subjektive Bedeutsamkeit entstehen kann, gilt es Gefässe zu schaffen, in denen die wirklichen Lerninteressen von Lernenden zum Vorschein kommen können, die Gründe für das jeweilige Lernangebot offenzulegen und den Lernenden die mögliche Bedeutsamkeit für ihre Lebenswelt aufzuzeigen (vgl. Holzkamp, 2004, 32).  

Lehrende sind angehalten, sich bei der Planung und Durchführung von Unterricht intensiv mit den Voraussetzungen und Bedürfnissen ihrer Zielgruppe auseinanderzusetzen. Wo möglich sollten sie diese Bedürfnisse aktiv aufgreifen sowie verschiedene Zugänge zu einem Lernangebot schaffen. Dies immer mit dem Wissen, dass Lernen ein aktiver und selbstgesteuerter Prozess ist und Lehrende vor allem in der Funktion eines kognitiven, aber auch emotionalen Resonanzkörpers fungieren (Mikula, 2009, 6). 

INFOBOX
Das Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung bietet Beratungen zu verschiedensten Themen an, auch spezifisch zum Unterschied zwischen Jugendlichen und Erwachsenen beim Unterrichten. Zudem befasst sich der neu konzipierte CAS Erwachsenenbildung mit Start im Herbst 2021 mit dieser Frage.

Zur Autorin

Arlette Haase ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Themenbereich «Digitales Lernen» des Zentrums Berufs- und Erwachsenenbildung der PH Zürich.

Managing the unexpected – Aspekte organisationaler Resilienz

Beitrag von Geri Thomann

Das Unerwartete

Während des Covid 19-Lockdowns im Frühling dieses Jahres war es laut diversen Berichten aus Hochschulen und anderen Bildungsorganisationen Aufgabe von allen Beteiligten, einerseits im Distance-Betrieb gewohnte Strukturen und Bildungsangebote aufrechtzuerhalten und andererseits ebenso im Distance-Modus – z.B. durch «digitale» Kaffeepausen – interne Interaktion zu ermöglichen, um Wahrnehmungen auszutauschen und Zweifel sowie Ängste zu formulieren. Erst daraus liessen sich schliesslich Modifikationen von tradierten Arbeitsweisen und Aufgaben ableiten. Die grosse Gefahr bestand darin, mental die Krise lediglich «auszusitzen», alle Aktivitäten auf das «Danach» zu verschieben und sich die alte Normalität herbeizusehnen. Schnelle Feedback-Systeme für die Kalibrierung der gegenwärtigen «anderen» Normalität wurden unumgänglich. 

Das sind sie nach wie vor – die andere Gegenwart scheint zu einer neuen Zukunft zu werden. 

Defensive Routinen und Single Loop-Lernen

Wir wissen es alle: Trotz bisherigem Erfolg kann der Mensch jederzeit scheitern; dies vor allem dann, wenn er neuen Herausforderungen mit altbekannten Reaktionen begegnet, dadurch «unpassendes» Wissen nicht verlernt und so sein Handeln nicht adaptieren kann. Das ist bei Organisationen nicht anders: Der wohl bekannteste Autor, welcher sich aus dieser Perspektive mit organisationalem Lernen beschäftigt hat, ist Chris Argyris. Er begründete das Konzept der «defensiven Routinen» (Argyris 2004).

Gelernte und fixierte Grundmuster im Umgang mit schwierigen oder neuartigen Situationen funktionieren nach Argyris häufig linear als «single loop-learning», einem steten Kreislauf von Aktion und Reaktion. Dies geschieht, ohne die etablierte Vorgehensweise (Routine) grundsätzlich und reflexiv auf einer Metaebene in Frage zu stellen («double loop-learning»). Dabei entwickeln sich organisationale defensive Musterschlaufen, die eigentliches Lernen – als aktive Anpassung an veränderte Verhältnisse – verhindern.

Quelle: Wikipedia Schema Schleifenlernen

Defensive Routinen sind Handlungen, die Menschen und Organisationen vor negativen Überraschungen, Gesichtsverlust oder Bedrohungen bewahren und gleichzeitig die Organisation daran hindern, die Ursachen für mögliche Pannen und Fehler zu reduzieren. Organisationales Lernen findet laut Argyris und Schön (2002, S. 31f und S. 47) erst und ausschliesslich dann statt, wenn frühere Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg analysiert und interpretiert werden, wenn auf Überraschungen – bei Nichtübereinstimmung von erwarteten und erfolgten Ergebnissen – mit Reflexion und veränderter Aktion geantwortet wird (double loop).

«Ist jemals eine Organisation deshalb am Überleben gescheitert, weil sie etwas Wichtiges vergessen hat? Es ist wahrscheinlicher, dass Organisationen deshalb scheitern, weil sie zu vieles zu lange im Gedächtnis behalten und fortfahren so zu tun, wie sie es schon immer getan haben» (Weick 1995, S. 320).

Gespeicherte Informationen sind heilig

Der Organisationswissenschaftler Karl Weick (1995, S. 321) führt aus, dass in den meisten Organisationen die gespeicherten Informationen als «heilig» betrachtet werden, so dass überliefertes Wissen nicht diskreditiert wird. Eine solche Risikovermeidung führt nicht selten zu einem Absicherungsaufwand, welcher Sicherheit suggeriert. Parallel dazu wissen aber alle Organisationsmitglieder insgeheim, dass sie gerade bei allgegenwärtigem Produktionsdruck oder Leistungsdruck gewisse Regeln missachten müssen, um gute Ergebnisse zu erzielen. Innovationen entstehen in der Regel nicht über die tradierten Kaskaden von Linienentscheiden, sondern über das frische Wagnis der Erprobung. Die verbindliche Regelung von (Qualitäts-)Standards stellt in einer Welt sich beschleunigender Entwicklung plötzlich ein Innovationshemmnis dar, weil der Veränderungsbedarf den Standpunkt der Verbindlichkeit immer wieder überholt.

Die formale Rhetorik der «Sicherheit» widerspricht hier der informellen Realität. Hinter ersterem steckt die fatale Überzeugung, Risiken liessen sich verhindern, wenn professionell geplant und nicht situativ improvisierend vorgegangen wird. Dabei könnte die sichtbar gemachte Spannung kurzfristig die Anpassung und langfristig das Überleben garantieren sowie die Resilienz der Organisationen stärken (Weick 1995, S. 346). Etablierte Routinen dagegen stärken Organisationen und Mitarbeitende in der Annahme, sie hätten alles unter Kontrolle. Die dazu gehörenden Pläne verleiten dazu, das Unerwartete auszublenden. Für Weick und Sutcliffe (2016, S. 72ff) geht es jedoch gerade in schwierigen Situationen und Krisen nicht darum, das Unerwartete mit Routinen und Plänen einzudämmen, sondern situativ-reflexiv damit umzugehen. Voraussetzung hierfür ist es, resilient zu sein.

Organisationale Resilienz

In Krisensituationen – wie der jetzigen – lässt sich grundsätzlich schlecht planen und antizipieren, jeder Moment kann noch so optional gedachte Pläne (so genannte Szenarien) umstossen. Situativ-reflexives Handeln und das Aushalten von Nichtplanbarkeit sind gefragt. Werden Krisensituationen jedoch, spätestens nachdem sie bewältigt wurden, systematisch ausgewertet, entwickeln sich nicht nur bei den beteiligten Individuen Widerstandskräfte. Resilienz entsteht ebenso auf der Ebene von Teams und Organisationen. Handlungscharakteristika von hoher organisationaler Resilienz haben Weick und Sutcliffe (2016) vor allem bei so genannten «high reliability»-Organisationen herausgearbeitet. Kennzeichen von resilienten Handlungsmuster der Bewältigung in Organisationen sind für sie:

  • Eine (neue) Situation versuchen einzuschätzen, während wir gleichzeitig weiterhandeln und diese Situation (mit)gestalten.
  • Unser Handlungsrepertoire ausdehnen und Improvisationsfähigkeit entwickeln.
  • Wiederkehrende Handlungsmuster beibehalten und wo notwendig modifizieren, Alternativen entwickeln und dadurch «die Ereignisse zusammenhalten».
  • Unsere eigenen Wahrnehmungen respektieren, den Berichten anderer vertrauen und Präsenz zeigen sowie ansprechbar sein.
  • Gemeinsam Konzepte mit (neuen) Wahrnehmungen verknüpfen und modifizieren.
  • Erwartungen (bezogen auf die aktuelle Situation) klarstellen, begrenzen und aktualisieren.
  • Lieber «kurierend» sorgen als antizipierend planen und vorsorgen.
  • Zweifelndes Denken in der Öffentlichkeit erlauben und nutzen.
  • Die Konzentration auf Fehler und Pannen als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung zuverlässiger Leistung akzeptieren.

Fazit

Organisationale Resilienz ist damit eine Mischung aus Erfahrungen, fortlaufendem Handeln und intuitiver Neukombination – immer jedoch auf der Basis einer minimalen Grundstruktur und dem Boden einer verlässlichen Kultur. Für die Führung in Organisationen bedeutet dies Zurverfügungstellen von Struktur und von (informellen und formalen) Gefässen der Reflexion, Zulassen von Zweifel, Klären von Erwartungen sowie Pflegen einer sorgenden Haltung – dies alles in einer verantwortungsvollen und entscheidungsfreudigen Moderation.

INFOBOX
Das Kaminfeuergespräch zum Thema «Managing the unexpected – Umgang mit Ungewissheiten und Unvorhersehbarem» findet am Dienstag, 1. Dezember 2020 im Tagungszentrum Schloss Au statt. Im Zentrum stehen Erzählungen von Persönlichkeiten über prägende Erlebnisse in ihrer Führungstätigkeit während der Coronavirus-Zeit.

Haben Sie generell Interesse an Führungsthemen? Gerne verweisen wir Sie auf folgende Angebote:

Hochschulen: CAS Führen in Projekten und Studiengängen an Hochschulen

Volksschulen: Blog Schulführung

Zum Autor

Geri Thomann ist Leiter der Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich. Als Inhaber einer ZFH-Professur forscht und publiziert er regelmässig über Aspekte der Hochschulentwicklung und Führungsfragen.

Erwachsenenbildung auf Expansionskurs

Beitrag von René Schneebeli

Als Teil des Bildungswesens hat die Erwachsenenbildung bzw. Weiterbildung in den letzten Jahrzehnten enorm expandiert. Kein anderer Bildungsbereich erreicht so viele Menschen und begleitet sie so lange. Die Kompensation von früheren Bildungsdefiziten, die Entwertung des Wissens sowie der technologische und wirtschaftliche Wandel treiben diese Entwicklung weiter voran. 2016 beteiligten sich in der Schweiz 62 Prozent der Bevölkerung an einer Weiterbildung (BfS, 2018). Die etwa 100’000 Weiterbildungen, die von mehr als 2’500 staatlichen und privaten Organisationen (Schläfli & Sgier, 2014) angeboten werden, generieren ein Marktvolumen von ungefähr 5,3 Milliarden Franken (BfS, 2018) und machen die Weiterbildung damit auch zu einem veritablen Wirtschaftsfaktor.

Berufsbildung
Weiterbildung bzw. Erwachsenenbildung ist ein heterogenes Feld.

Weiterbildung ist ein sehr heterogenes Feld: Sie erfolgt über die ganze Lebensspanne, in den verschiedensten Lernwelten und Lernarten (informell, formal und non-formal ) und in den unterschiedlichsten Formaten (Kurse, Seminare, Tagungen etc.). Auch die Motive für die Teilnahme streuen breit: Die Teilnehmenden wollen Wissen erwerben, Karrierechancen erhöhen oder etwas Nützliches lernen. Sie tun es schlicht zum Vergnügen oder weil sie ein persönliches Interesse haben (BfS, 2018).

Weiterbildung zwischen Staat und Markt

Diese Heterogenität spiegelt die Vielfalt der gesellschaftlichen Bedürfnisse, die an die Weiterbildung gestellt werden. Die Dynamik in Gesellschaft und Arbeitswelt verlangt dafür schnelle, flexible und passgenaue Angebote, die keine formale Qualifikationen brauchen. Das führt zu einer marktnahen Ausgestaltung des Weiterbildungsmarkts, die sich weitgehend der staatlichen Steuerung und Kontrolle entzieht.

Umso bemerkenswerter ist in diesem Zusammenhang die Einführung des Weiterbildungsgesetzes. Zwar nennt das Gesetz in den Grundsätzen die Verantwortung des Einzelnen sich weiterzubilden. Gleichzeitig anerkennen Bund und Kantone damit die volkswirtschaftliche Bedeutung der Weiterbildung und machen sie zu einem vollwertigen Bildungsbereich. Trotzdem spiegelt sich das Paradigma vom lebenslangen Lernen nur halbherzig im politischen Handeln. Das Gesetz beinhaltet nur wenige, punktuelle Fördertatbestände und ist mit verhältnismässig bescheidenen finanziellen Mitteln ausgestattet. Dies, obwohl Bildungsdisparitäten, Angebotslücken, Intransparenz und Qualitätsdefizite Grund genug für staatliche Interventionen wären, um Funktionalität und Effektivität des unterdessen grössten Bildungsbereichs sicherzustellen.

Professionalisierung in der Weiterbildung

Diese ambivalenten Entwicklungen in der Politik und der noch immer fehlende Sukkurs der Gesellschaft prägen letztlich das Selbstverständnis des Weiterbildungspersonals. Beides sind jedoch Voraussetzungen um dieser Berufsgruppe als Kollektiv Autonomie und Selbstverpflichtung in ihrem Tätigkeitsbereich zuzubilligen und individuelle Professionalität zu ermöglichen (Nittel & Seltbrecht, 2008). Eine eigentliche Professionalisierung hat deshalb auch noch nicht stattfinden können. Davon zeugen die noch immer prekären Arbeitsverhältnisse, eine fehlende Lobby und eine nicht existierende Gewerkschaft. Kein Wunder also, gelingt es bis heute nur wenigen in der Branche, ihre Tätigkeit zum Kern ihrer Erwerbsarbeit zu machen.

Wenn der Weiterbildung aber die Aufgabe der Scharnierfunktion zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und die Förderung der Chancengerechtigkeit zufällt, dann bestehen sowohl betriebs- als auch volkswirtschaftliche Interessen, diese Lernprozesse professionell zu gestalten. Damit verbunden sind allerdings auch Ansprüche an die Kompetenzen und Qualifikationen des Weiterbildungspersonals, die aufgrund des sehr heterogenen Berufsfelds wohl nicht einfach umzusetzen sein dürften.

Erwachsenenbildung
Weiterbildung bildet das Scharnier zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt.

Die Rolle der Hochschulen in der Erwachsenenbildung

Professionalisierung hat auf der individuellen Ebene massgeblich mit Kompetenzentwicklung zu tun. Die Akteure in der Weiterbildung müssen sich dafür mit Theorien zum Lernen Erwachsener in den unterschiedlichsten Lebenskontexten auseinandersetzen und daraus wirksame Lehr- und Lernarrangements entwickeln.

Die Basis dafür bildet die etablierte wissenschaftliche Disziplin der Erwachsenenbildung. Sie generiert wissenschaftliches Wissen zum Lernen Erwachsener, zu Wissen und Kompetenz, zu professionellem Handeln, zur Institutionalisierung sowie zu System und Politik. Durch das Weiterbildungsgesetz wurde die Weiterbildungsforschung nicht tangiert. Die Beantwortung theoretischer Fragen wurde lange Zeit nur punktuell von den unterschiedlichsten Bezugsdisziplinen vorgenommen. Mit den ersten Professuren zur Erwachsenenbildung an der Fachhochschule der Nordwestschweiz und der PH Zürich begann sich das zu ändern. Die Professur in Zürich trägt neben der Erwachsenenbildung auch die höhere Berufsbildung im Titel. Das scheint nicht ohne Wirkung geblieben zu sein. Insbesondere durch die Digitalisierung und den Strategieprozess «Berufsbildung 2030» fehlen aktuell an vielen Orten in der Erwachsenenbildung – und insbesondere in der höheren Berufsbildung – wissenschaftsbasierte Grundlagen für die Neugestaltung von Bildungsangeboten und dazugehörige Regularien. Entsprechend haben sich an der PH Zürich die Anfragen zu den Dienstleistungen und Weiterbildungsangeboten in diesem Bereich erhöht.

Die PH Zürich hat sich aufgrund dieser Entwicklungen entschieden, das neue Zielpublikum der höheren Berufsbildung sowie der Erwachsenenbildung mit einem dezidiert forschungsorientierten Angebot anzusprechen. Es soll praxisorientierte Angebote nicht konkurrenzieren, sondern um die Perspektive der Wissenschaft ergänzen. Angesiedelt wird das Angebot bei der Einheit, die bisher für die Weiterbildung der Berufsfachschulen zuständig war und das auch bleiben wird. Die Erweiterung um die neuen Zielpublika wird auch zu einer Anpassung des Einheitsnamens führen: Ab dem 1. Mai 2020 heisst dieses Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung.

INFOBOX

Willkommen zum Startanlass!

Der Angebotsstart erfolgt mit der Abendveranstaltung vom 24. September 2020. Thema sind Prozesse der Digitalisierung in Bildungsgängen und Angeboten der höheren Berufsbildung und Erwachsenenbildung.  Erik Haberzeth stellt Forschungsbefunde vor und Dominic Hassler wird diese Befunde exemplarisch für didaktische Fragen nutzbar machen. Es folgt ein Panel-Gespräch mit den Referierenden sowie mit Brigitte Steinmann vom MBA, zuständig für die höhere Berufsbildung im Kanton Zürich und Reto Wegmüller, Prorektor des KV Zug. Wir schliessen den Abend mit einem kleinen Apéro. Anmelden können Sie sich hier.

Zum Autor

Rene_Schneebeli_swRené Schneebeli ist Leiter des Zentrums Weiterbildung Berufsfachschulen der PH Zürich

 

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Von Lernherausforderungen zu Lerngelegenheiten

Beitrag von Petra Weiss

Decoding the Disciplines
Das eigene Fach muss von Lehrenden für Lernende entschlüsselt werden.

«Meine Studierenden können keine Texte lesen.» – «Die Studierenden haben ja überhaupt keine Mathe-Kenntnisse.» Solche und ähnliche Aussagen äussern Lehrende immer wieder, z.B. im Rahmen hochschuldidaktischer Fortbildungen. Was steckt dahinter? Woran machen Lehrende ihre Einschätzungen fest? Und wie gehen sie weiter damit um? Nehmen sie ihre Eindrücke resigniert zur Kenntnis und fahren ratlos und eher unlustig mit «ihrem Stoff» fort, in der Hoffnung, dass sich das schon irgendwie geben wird? Oder aber: Können sie genau diese Knackpunkte in Lehrveranstaltungen für das Lernen «fruchtbar» machen und dazu nutzen, echte Lerngelegenheiten zu schaffen?

Denk- und Arbeitsweisen vermitteln

Mit dieser Grundidee arbeitet der Decoding-the-Disciplines-Ansatz, den David Pace und seine Kollegin Joan Middendorf bereits 2004 an der Indiana University entwickelt haben.

Implizites explizit machen! Der Decoding-Ansatz basiert auf dieser fast schon trivialen Forderung. Doch gerade in der Hochschullehre kommt es nicht selten vor, dass Lehrende Inhalte oder Vorgehensweisen, die für sie vollkommen selbstverständlich geworden sind, nicht (mehr) zum Gegenstand der Lehre machen. Aber genau solche automatisierten und selbstverständlichen fachlichen Denk- und Arbeitsweisen sollen «bewusst» vermittelt werden. (Mehr dazu erfahren Sie im Workshop «Denken im Fach vermitteln – Lernhindernisse überwinden».)

Decoding the Disciplines in sieben Schritten

Wie finden Lehrende nun aber heraus, was sie tatsächlich tun, wenn sie (wissenschaftlich) arbeiten? Hier kommt die Reflexion ins Spiel. Durch das Nachdenken über eigene Erfahrungen, über das eigene wissenschaftliche Denken und Handeln können sie identifizieren, was sie genau tun, welche Denk- und Arbeitsschritte sie verfolgen, um fachliche Fragestellungen zu bearbeiten. Im Folgenden wird anhand von sieben Schritten erklärt, wie der Decoding-Ansatz konkret funktioniert:

Decoding the Disciplines
Decoding: sieben Schritte zur Identifikation disziplinärer Denk- und Arbeitsweisen (Abbildung nach: Kaduk und Lahm 2018, 84)
  • Schritt 1: Lehrende identifizieren (disziplinäre) Lern- oder Erkenntnishindernisse von Studierenden, z.B: Studierende können keine Texte interpretieren. Sie bilden zu wenige Hypothesen und kommen zu schnell zu Schlussfolgerungen oder wissen nicht, wie sie wissenschaftliche Literatur lesen (sollen).
  • Schritt 2: Das Problem wird genauer gefasst. Lehrende springen also nicht direkt zur Lösungssuche, sondern reflektieren zunächst, wie sie selbst als Fachexpert/innen vorgehen, wenn sie das tun, woran ihre Studierenden scheitern: Was macht eine Literaturwissenschaftlerin, wenn sie einen Text interpretiert? Wie kommt ein Biologe zu Thesen?
  • Schritt 3: Lehrende überlegen, wie das eigene Vorgehen für Lernende modelliert, d.h. nachvollziehbar und anschaulich gemacht werden kann. Wie liest z.B. eine Historikerin einen Text?
  • Schritt 4: Lehrende entwickeln Ideen für Aufgabenstellungen, mit denen sie Lernende fachliche Vorgehensweisen üben lassen können.
  • Schritt 5: Hier werden motivationale und affektive Aspekte in den Blick genommen, z.B: Wie bringen Lehrende Studierende dazu, wissenschaftliche Texte anders zu lesen als Romane?
  • Schritt 6: Lehrende überlegen, wie sie Rückmeldung einholen und das Gelernte prüfen können.
  • Schritt 7: Ein wichtiger Aspekt des Modells ist schliesslich die Frage, wie die eigenen Überlegungen und Lösungsmöglichkeiten mit anderen Lehrenden geteilt werden können.

Was sind Bottlenecks?

Decoding the Disciplines Bottlenecks
Der Decoding-Prozess startet mit der Identifikation von Bottlenecks.

Ausgangspunkt des Decoding-Ansatzes sind Lernhindernisse oder Lernengpässe, sogenannte Bottlenecks. Bottlenecks können essenzielle Konzepte oder zentrale Fähigkeiten eines Fachs sein, die den Studierenden beim Verstehen und Erlernen Schwierigkeiten bereiten oder sie gar scheitern lassen. Die Studierenden kommen im jeweiligen Fach jedoch nur weiter, wenn sie diese grundlegenden Konzepte erworben oder verstanden haben.

Auf die Identifikation und exakte Analyse der Lernhindernisse legt der Decoding-Ansatz mit den Schritten 1-3 also besonders grossen Wert, während es sich bei den Schritten 4-6 letztlich um die üblichen didaktischen Schritte bei der Planung einer Lehrveranstaltung handelt. Schritt 7 geht über die übliche Konzeption einer Lehrveranstaltung hinaus: Während der Austausch über Forschung selbstverständlich ist, ist dies beim Thema Lehre nicht unbedingt der Fall. Der Decoding-Ansatz enthält diesen Aspekt als inhärenten Bestandteil, sei es informell im Kolleg/innenkreis bis hin zur Idee des Beforschens der eigenen Lehre und einer Publikation der Ergebnisse (vgl. Scholarship of Teaching and Learning SoTL).

Wie erkennt man Bottlenecks?

Und wie geht man Bottlenecks auf den Grund? Die klassische Methode sind die sogenannten Decoding-Interviews: Entweder stellen sich Kolleg/innen (z.B. in Workshops) gegenseitig Fragen, um Lernhindernisse zu identifizieren oder (geschulte) Hochschuldidaktiker/innen führen (z.B. im Rahmen von Beratungen) ein entsprechendes Interview. Die Befragung kann auch schriftlich erfolgen. Besonders gut funktioniert der Ansatz im Austausch mit fachfremden Kolleg/innen, da dann besonders viel Explizitheit gefordert ist. Auch die direkte Rückmeldung von Studierenden kann dabei helfen herauszufinden, an welchen Stellen im Lernprozess sich Bottlenecks befinden.

Warum Decoding the Disciplines? – Ein Fazit

  • Mit dem Decoding-Ansatz können Lehrende eine Sprache für ihr fachliches Handeln entwickeln. Dies ist eine Voraussetzung, um Lernende im jeweiligen Fach zu disziplinärem Vorgehen anzuleiten.
  • Der Ansatz konzentriert sich auf fachliche Denk- und Arbeitsweisen, nicht primär auf fachliche Inhalte. Er zielt somit auf nachhaltiges Lernen und Verstehen ab.
  • Der Ansatz kann als grundlegendes Modell zur Konzeption und Planung von Lehrveranstaltungen herangezogen werden. Die konkrete Ausgestaltung von Aufgabenstellungen bzw. Feedback- und Prüfungsformen erfolgt fachlich bzw. disziplinär.
  • Der Ansatz kann über Lehrveranstaltungen hinaus auch zur Entwicklung eines Curriculums herangezogen werden.
  • Nicht zuletzt kann der Ansatz auch der kritischen Selbstreflexion in der Hochschuldidaktik dienen und so vielleicht die Fachsensibilität fördern.
INFOBOX

Petra Weiss gehört seit Februar 2020 zum Team des ZHE und bringt eine reiche Erfahrung als Hochschuldidaktikerin mit.
In ihrem Workshop vom 2. April 2020 «Denken im Fach vermitteln – Lernhindernisse überwinden» gibt sie eine Einführung in den Decoding-Ansatz und regt die Teilnehmenden dazu an, über ihr eigenes fachliches Tun nachzudenken.

Zur Autorin

Petra Weiss Blog

Petra Weiss ist Dozentin für Hochschuldidaktik am ZHE Zentrum für Hochschuldidaktik und -entwicklung der PH Zürich. Sie leitet den CAS Hochschuldidaktik «Sommerstart» sowie weitere hochschuldidaktische Lehrgänge und Kurse und berät bei der (Weiter-)entwicklung von Curricula.

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