Beitrag von Maik Philipp
Über das Lernen sind viele Behauptungen im Umlauf, auch an Hochschulen. Manche davon stimmen, andere nicht – und meistens ist die Realität komplexer. Gestaltet man Unterricht aufgrund falscher Annahmen über das Lernen, untergräbt man seine Wirkung. Deshalb nehmen wir in der Serie «Urban Legends» verbreitete, aber problematische Annahmen über Lehren und Lernen an Hochschulen unter die Lupe.
E-Reader, Smartphones und Laptops sind längst zu einer Alternative für das Lesen gedruckter, analoger Texte geworden – sollte man meinen. Aber ist das wirklich so? Eine Befragung von mehr als 10‘000 Studierenden, denen man eine gewisse Affinität zum digitalen Lesen unterstellen sollte, lässt Zweifel aufkommen. Der Grundtenor der internationalen Befragung lautet nämlich: Im Zweifelsfall tendiert die deutliche Mehrheit dazu, Texte in Lernsituationen lieber analog zu lesen statt digital.
Die Gründe dafür können die Befragten klar benennen: Sie bevorzugen es, die Texte zu annotieren, mit Unterstreichungen zu versehen und sind der Überzeugung, sich gerade bei längeren Texten besser an die Inhalte zu erinnern. Diese Antworten deuten darauf hin, dass das Lesen analoger Texte aufgrund der Tiefenverarbeitung einen grösseren Nutzen zu entfalten scheint.
Analoge Texte sind verständlicher
Neuere Ergebnisse der Leseverstehensforschung erklären, dass es für die Vorliebe analoger Texte gute Gründe gibt. Die Forschung beginnt sich nämlich dafür zu interessieren, ob das Lesemedium systematisch mit Leseverstehensleistungen zusammenhängt. Ob Menschen digitale Texte am Bildschirm oder auf Papier gedruckte besser verstehen, ist auch deshalb eine wichtige Frage, weil grosse Schulleistungsstudien wie PISA dazu übergegangen sind, Leistungen am Computer zu erfassen.
Gleich zwei aktuelle Metaanalysen, eine über 17 Studien, eine andere über 54 Studien, prüften den Effekt des Lesemediums. Beide Metaanalysen kommen zu vergleichbaren Ergebnissen: Wer analoge Texte liest, versteht sie besser als die digitale Version. Der Vorsprung beträgt umgerechnet 21-PISA-Punkte, was je nach Alter der Personen dem Zuwachs eines Schuljahres entspricht. Dieser Effekt des Lesemediums hängt ausserdem, gemäss der umfassenderen Metaanalyse, systematisch mit anderen Faktoren zusammen:
- Die Differenzen zugunsten des analogen Lesens wurden mit dem Veröffentlichungsdatum der Studien immer grösser. Das heisst: Je aktueller die Studie war, desto markanter waren die Unterschiede.
- Sobald Sachtexte das Lesematerial bildeten, gab es Mediumseffekte. Bei literarischen Texten war das nicht der Fall. Ausgerechnet also bei Texten, die für das Lernen so wichtig sind, sind gedruckte Varianten besser.
- Als ungünstig erwies sich beim Lesen digitaler Texte ausserdem ein Zeitlimit. Unter klar definierten zeitlichen Vorgaben sind Verstehensleistungen vermindert.
- Die grössten Nachteile bei verschiedenen digitalen Lesemedien hatten Personen, die an einem stationären Computer lasen, während Leserinnen und Leser mit mobilen digitalen Geräten (Smartphones, E-Reader) dichter an den Leseleistungen der Personen mit analogem Lesemedium lagen.
- Wer nun allerdings glaubt, mobile Geräte wären grundsätzlich überlegen, wird eines Besseren belehrt: Die Notwendigkeit, bei Texten zu scrollen, ging ebenfalls mit schlechteren Leistungen einher.
Fazit
Die Ergebnisse aus den beiden Metaanalysen sind für die Erwachsenenbildung relevant. Wenn beim Lesen digitaler Sachtexte systematische Nachteile bestehen, spricht einiges dafür, wichtige Texte auszudrucken. Insofern hatten die Tausenden Studierenden Recht.
Weiter gedacht, heisst das: Bei zentralen (linearen) Texten gilt immer noch das Recht der alten Lesewelt. Print schlägt Screen aufgrund einer (noch) besser glückenden Tiefendurchdringung der Textinhalte. Statt altes und neues Lesen gegeneinander auszuspielen, wird es wohl auf einen klugen Mix des digitalen und analogen Lesens ankommen.
Zum Autor
Maik Philipp ist Professor für Deutschdidaktik an der PH Zürich. Seine Schwerpunkte sind Lese- und Schreibförderung mit Fokus auf Evidenzbasierung. Neuere Publikationen: «Lesekompetenz bei multiplen Texten» (2018), «Lesestrategien» (2015) und «Grundlagen der effektiven Schreibdidaktik» (2018).
Redaktion: Martina Meienberg
(Crosspost von Facebook)
Das kann man durchaus auch differenziert sehen (z.B. https://www.scientificamerican.com/article/reading-paper-screens/). Im Moment werden solche Studien in erster Linie mit LeserInnen durchgeführt, die auf Papier lesen gelernt haben. Qualitativ vergleichbare hochauflösende Bildschirme auf Tablets gibt es noch gar nicht so lange, dass eine Anpassung daran bez. Lesestrategien stattfinden konnte. Ich bin gespannt auf solche Vergleichsstudien in 10-15 Jahren, mit einer Generation von Studierenden, die ihr Leben lang mehrheitlich digital gelesen haben.
Zu beachten ist auch, dass das digitale Lesen auch bez. interface design noch nicht fertig entwickelt ist. Scrollen ist schlechter als Blättern für das Erinnern? Wieso nicht das e-Book im Blättermodus lesen? Die Übersicht fehlt? Verbesserte UI-Konzepte gibt es, sie sind aber technisch noch nicht umgesetzt (oder umsetzbar). Wie in obigem Artikel erwähnt gibt es ausserdem zu beachten, dass das digitale Lesen medieninhärente Vorteile bietet, die aber von einer analog geprägten Buchindustrie noch viel zu wenig genutzt werden. Schon nur was die Typografie angeht, besteht noch enorm viel Verbesserungspotential. Z.B. kann am Computer oder Tablet jeder Text in einer Schrift wie Sans Forgetica gelesen werden, die speziell dafür entwickelt wurde, den Lerneffekt beim Lesen zu erhöhen, Schriftgrösse und -Kontrast können individuell eingestellt werden, etc.
Meine Vermutung: für Vergleichsstudien zu diesem Thema ist es noch zu früh. iPads kamen vor gerade einmal 8 Jahren auf den Markt und bieten seit 6 Jahren Retina Displays. Kinder, die damit aufgewachsen sind fangen erst jetzt an, lesen zu lernen.
Vielen Dank für diese Zusammenfassung! Das Ergebnis deckt sich absolut mit meinen Erfahrungen. Zudem beobachte ich gerade, wie in der Schule meiner Kinder die Digitalisierung des Lesens fortschreitet. Jetzt werde ich noch genauer auf einen sinnvollen Mix schauen. Meine Kinder (9 und 11) jedenfalls ziehen die analoge Variante der digitalen bei weitem vor – deshalb müssen immer zwei fette Bücherkisten mit ins Auto ansteller zweier E-Reader. Mir gefällt das ;-).
Zu diesem Artikel liesse sich noch manches sagen. Leider fehlen uns die Umfrageergebnisse aus der Zeit der Umstellung von Schriftrollen auf Bücher für einen evidenzbasierten Vergleich zur Gegenwart…