In einer einzigartigen Initiative haben die Schüler:innen der Oberstufe Hedingen eine lebendige und aufschlussreiche Erfahrung mit der Demokratie gemacht. Durch die Durchführung eigener Wahlen, bei der sie Parteien gründeten und Wahlkampf betrieben, lernten sie nicht nur die Bedeutung von Wahlen kennen, sondern erfuhren auch die Herausforderungen des demokratischen Prozesses. Dieser Artikel beleuchtet ihre Erfahrung aus verschiedenen Blickwinkeln und zeigt auf, wie solche Projekte zur Bildung von Demokratiekompetenzen beitragen können und welche Rolle die Schulleitung dabei spielt.
Zielsetzung
Das Demokratieprojekt zielte darauf ab, Schüler:innen ein realistisches Verständnis demokratischer Prozesse zu vermitteln. Dabei schlüpften sie in die Rollen von Wähler:innen und Parteimitgliedern, um die Abläufe bei Wähler:innen und Politiker:innen zu verstehen. Das Projekt, das sechs Lektionen über zwei Wochen umfasste, wurde parallel zu den Parlamentswahlen 2023 durchgeführt. Die Idee hierfür entstand bei Franziska Schmid, Initiatorin des Programms, ein Jahr zuvor und wurde schliesslich im Fach RZG (Räume, Zeiten und Gesellschaften) in vier altersdurchmischten Klassen klassenübergreifend realisiert.
Das Projekt steht im Einklang mit dem Lehrplan 21 und der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Es fördert die politische Bildung, indem es den Schüler:innen ermöglicht, politische Konzepte zu verstehen, eigene Meinungen zu formulieren und sich an der Lösung von Problemen zu beteiligen.
Parteienbildung und Wahlkampf
Das Projekt beinhaltete die Gründung eigener Parteien in Gruppen von drei bis acht Personen und das Entwickeln eines Parteiprogramms. Jede Gruppe erstellte ein Poster mit Parteinamen, Slogan, Mitglieder:innen und möglicherweise einem Logo oder Bildern. Grössere Gruppen erstellten zusätzlich einen Werbefilm und eine Wahlkampfrede. Die Wahlen wurden vom Schülerparlament organisiert und durchgeführt, wobei alle, inklusive Lehrpersonen, eine Stimme hatten.
Politisches Interesse der Jugendlichen geweckt
Der Unterricht startete direkt mit einer Konfrontationsphase zum Thema Parlamentswahlen. «Ich hängte Wahlplakate und das Parteiprogramm der sechs grössten Parteien der Schweiz auf. Die Schüler:innen sollten sich zunächst überlegen, welcher Partei sie ihre Stimme geben würden und bei der Erstellung ihrer eigenen Plakate dienten die realen Parteien als Vorbild. Sie beschäftigten sich mit den Inhalten der Parteien, die auf Slogans reduziert waren, und lernten, ihre eigenen Ansichten in prägnante Wahlslogans zu übersetzen, um sich aktiv in den politischen Prozess einzubringen», erläutert Schmid.
In drei Interviews mit den Vertreter:innen der verschiedenen Parteien zeigen sich die konkreten Erfahrungen mit der Politik. Anjuan und Diego, Vertreter der Siegerpartei, anfangs uninteressiert an Politik, reflektieren: «Durch das Projekt hat es mich schon ein bisschen mehr interessiert.» Ihre Partei setzte sich für weniger Aufdringlichkeit in der LGBTQ-Bewegung ein, ein Thema, das kontrovers diskutiert wurde. Dominik und Dario, der Partei WMF – Weg mit Französisch, auch zuerst uninteressiert an Politik, äusserten «das mit dem Plakat hat uns schon etwas gepusht und Interesse geweckt. Unser Thema hat viele interessiert, aber wir waren noch nicht so beliebt bei den 3. Seklern.»
Yaren und Erina sind Vertreterinnen der Partei UFB – Unterstützung für Benachteiligte. Yaren: «Ich interessiere mich für Kurdistan. Ich habe viel darüber gelesen. Meine Grosseltern sind sehr politische Personen. Allgemein, wenn es um Rechte geht, so interessierte ich mich auch für die Wahlen in der Türkei. Mit dem Ausgang der Wahlen war ich nicht zufrieden.» Erina: «Bis jetzt habe ich mich nicht mit Politik befasst, aber weil wir es in der Schule durchgenommen haben, habe ich begonnen, mich dafür zu interessieren. Wir haben auch Videos geschaut von mehreren Politikern, mit verschiedenen Parteien, wie sie diskutiert haben, es hat mich wundergenommen, wie es abläuft. Mich hat die SP am meisten angesprochen. Sie setzen sich für die Natur und Flüchtlinge ein.»
Freiraum und Gruppendynamik
Die Schüler:innen erlebten den demokratischen Prozess aktiv und kreativ. Sie wählten Themen und formten Gruppen, was reale Parteienbildungen widerspiegelte und intensive Lernprozesse anregte. Franziska Schmid, Klassenlehrerin und Projektleiterin, hebt die Gruppendynamik hervor: «Eine Gruppe tat sich schwer, eine Führung zu finden. Es fehlte anfänglich die natürliche Übernahme der Leitungsrolle, was die Bedeutung von Führung und Zusammenarbeit im politischen Prozess unterstreicht.»
Anjuan, Mitglied der Siegerpartei, beschreibt den gruppeninternen Prozess: «Zu Beginn jeder Stunde sammelten wir Aufgaben, die wir erledigen wollten. Jeder brachte Ideen ein und setzte diese um. Den Gruppenchef haben wir nicht gewählt, es wollte nur jemand Gruppenchef sein, für viele wäre die Aufgabe zu komplex gewesen.» Diego ergänzt: «Wir haben über Vorschläge abgestimmt. Wenn es zu einem Gleichstand gekommen wäre, hätte die Gruppenleitung entschieden.»
Die Bedeutung individueller Persönlichkeiten im Wahlprozess betonen Yaren und Erina: «Die Person sollte schon auch wichtig sein und beachtet werden. Aber bei uns war es so, dass die Person wichtiger war als der Inhalt.» Erina schlägt vor, die Abstimmung online zu gestalten, um den Fokus auf Inhalte zu lenken: «Man könnte die Abstimmung online machen und man müsste die Programme durchlesen und Ja oder Nein drücken. Dann ist es ruhig, jeder ist für sich.» Dominik meint dazu: «Auch wenn man eine gute Idee hat, besser als die anderen, kann man nicht gewinnen, wenn man unbeliebt ist.» Zum Thema Plakate sagt Anjuan: «Wir wussten nicht, wie viele wir aufhängen durften, so haben wir einfach viele aufgehängt.» Diego fügt hinzu: «Die anderen haben es uns nachgemacht.» Anjuan berichtet weiter: «Einige haben auch Plakate runtergerissen, über was wir nicht erfreut waren.»
Diese Erfahrungen zeigen, dass sowohl politische Inhalte als auch Persönlichkeiten der Kandidat:innen eine wesentliche Rolle im Wahlprozess spielten und unterstreichen die Bedeutung des persönlichen Einflusses in der Politik. Ungeregelte Freiräume werden ausgenutzt und stellen neue Herausforderungen, die für den Prozess wichtig sind, ihn aber auch, wenn nicht sensibel damit umgegangen wird, blockieren.
Engagement und Lernerfolge
Die hohe Motivation und das Engagement der Jugendlichen waren bemerkenswert.
«Ein Highlight war die beispiellose Motivation und Dynamik im Klassenzimmer – eine solche Energie habe ich noch nie gespürt. Einfach beeindruckend!»
Franziska Schmid, Initiatorin des Programms
Das Projekt ermöglichte es den Schüler:innen, Demokratie nicht nur als theoretisches Konzept zu verstehen, sondern sie als lebendigen und dynamischen Prozess zu erleben. «Es hat mich richtig mitgezogen. Früher interessierte ich mich nicht für Politik, aber jetzt sehe ich deren Bedeutung für die Menschheit», so Erina.
«Jeder steht für etwas anderes. Es wurde deutlich, dass sehr verschiedene Meinungen da sind und wer sich für was einsetzen will. Das war zum Teil überraschend. Wir haben uns besser kennengelernt.»
Erina, Vertreterin der Partei UFB – Unterstützung für Benachteiligte
Einige wenige Schüler:innen kamen mit dem Diskriminierungsgesetz in Konflikt, als sie mit ihren Flyern diskriminierende Botschaften verbreiteten. Andere hängten unerlaubt Plakate im öffentlichen Raum auf, ohne zu klären, ob dies für ihre politische Aktion gestattet ist. Eine Gruppe, die sich mit dem Thema korrupte Hauswarte befasste, erkannte, dass ihre Aussagen potenziell verletzend sein könnten.
Herausforderungen für die Schulleitung und Lehrpersonen
«Für die Lehrpersonen als Team und auch für mich im Hintergrund stellte sich der Prozess plötzlich als eine erhebliche Herausforderung dar», äussert Rita Sauter, Schulleiterin der Schule Hedingen. Eine grosse Anzahl unerwartet auftauchender diskriminierender Flyer löste ungewollte Dynamiken aus. Nicht nur auf dem Areal der Oberstufe, sondern auch in der Primarschule und im Kindergarten und auch am Wegrand des Geländes hingen Flyer mit sensiblen Themen und erforderten ein schnelles und bedachtes Handeln. «Wir wussten, dass die Schulleitung voll hinter uns stand», berichtet Schmid. Die Schulleitung musste sicherstellen, dass das Projekt im Rahmen der schulischen und gesetzlichen Grenzen blieb, ohne die kreative und politische Ausdrucksfreiheit der Schüler:innen zu unterdrücken.
«Andere Schulleitungen hätten wahrscheinlich gesagt, nehmt alles runter. Sie hatte das Vertrauen, dass wir es gemeinsam gut machen und lösen. Sie war präsent und gab uns mit dem Hinweis zum Diskriminierungsgesetz im Chat wichtige Unterstützung bei der Lösungsfindung. Das war sehr hilfreich.» Die Schulleitung unterstützte die Entscheidung, die Flyer für einen Tag hängen zu lassen und die Jugendlichen selbst die Plakate nach der Auseinandersetzung mit dem Diskriminierungsgesetz entfernen zu lassen. «Aus meiner Sicht», so Sauter, «haben die Lehrpersonen genial reagiert, so gekonnt! Ich habe lediglich die Information über das Diskriminierungsgesetz in den Chat getan. Mein Impuls wäre eher gewesen: Du hast das Plakat aufgehängt, du nimmst es auch wieder herunter.» Telefonanrufe aus der Nachbarschaft oder auch von Eltern an die Schulleitung konnten geklärt werden.
Umgang mit anderen Meinungen
Wie soll mit Meinungen von Schüler:innen umgegangen werden, auch wenn sie problematisch und gegen die eigene Meinung der Lehrpersonen oder der Schulleitung ist? Fragt sich Rita Sauter zurecht. «Klar gab es die Auseinandersetzung mit dem Thema, aber wirklich dann auch ein Plakat hängen zu lassen, ist nochmals was anderes. Herausfordernd wäre auch gewesen, wenn bei der Antrittsrede der Siegerpartei Aussagen gemacht würden, die nicht gehen. Dazu kam es aber nicht, weil der Führer der Partei nicht anwesend war», meint Rita Sauter.
Auch der Beutelsbacher Konsens, ein grundlegendes Prinzip in der politischen Bildung, befürwortet die Einbeziehung verschiedener Meinungen als Teil des demokratischen Lernprozesses, solange diese nicht gegen gesetzliche Grenzen verstossen. Es geht darum, die Schüler:innen zu kritischen Denkern zu erziehen, so dass sie in der Lage sind, verschiedene Perspektiven zu verstehen und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.
Die Rolle der Schulleitung innerhalb des Projekts
Die Schulleitung spielte eine subtile, aber wichtige Rolle im Demokratieprojekt. Ein Schüler beschrieb ihre Beteiligung mit den Worten: «Frau Sauter hat nicht viel gemacht, wir haben vor allem gearbeitet.» Dies zeigt, dass die Schulleitung hauptsächlich dafür sorgte, dass die Schüler:innen ihre Arbeit eigenständig erledigen konnten.
Franziska Schmid äusserte sich zur Rolle der Schulleitung: «Es herrscht ein Grundvertrauen. Ich arbeite jetzt seit zwei Jahren hier und hatte nie Zweifel, dass die Schulleitung hinter mir steht. Als ich am Morgen aufs Schulareal kam und die teils diskriminierenden Flyer gesehen habe, habe ich für einen ganz kleinen Moment gedacht, was habe ich hier angefangen, aber dann wusste ich, dass ich mir keine Sorgen machen musste. Ich wusste, die Schulleitung steht hinter mir, es geht immer um die Lösung.» Diese Aussage unterstreicht das Vertrauen in die Schulleitung und die Unterstützung, die von ihr ausgeht.
Wie das Beispiel zeigt, spielt die Führung eine wichtige Rolle. Sie setzt dazu den Rahmen und schafft durch das Vertrauen mit der grossen Komplexität in Bezug auf Ereignisse zu leben und handlungsfähig zu bleiben. Vertrauen als riskante Vorleistung reduziert die unbestimmte Komplexität einer mehr oder weniger unbekannten Zukunft (Brückel 2022, S.142). So wie die Schüler:innen als ein wesentlicher Teil der Schulpolis angesehen werden müssen, kann Führung sowohl aus theoretischer Sicht als auch in der Praxis nicht ohne die geführten Personen gefasst werden. Versuche der Forschung Führung auf die Führungspersonen zu reduzieren mögen Führung in ihrer Komplexität nicht erklären. Generell muss Führung als ein sozialer Prozess zwischen Führenden, Geführten und Situationen verstanden werden.
James Spillane spricht von Führung als eine Praxis, welche sich in der Interaktion zwischen führenden und geführten Personen in Situationen zeigt. Die Aussage der Lehrperson zeigt, dass in den vergangenen zwei Jahren offensichtlich verschiedene vertrauensbildende Momente gegeben hat, sowohl bei der Lehrperson als auch bei der Führungsperson. Systemtheoretisch, und das zeigt sich auch in der Führungsforschung, haben Führungspersonen keinen direkten Zugriff auf die geführten Personen. Wenn sich jemand nicht führen lassen will, dann kann diese Person nicht geführt werden. Es sind die beteiligten Personen, welche autoritäre oder hierarchische Führung demokratisieren und entsprechende Situationen ermöglichen (Kamm, Kamm, und Anderegg 2023, S.332-333).
Reflexion und Ausblick
Um demokratiepädagogische Kompetenzen zu entwickeln, benötigen Jugendliche geschützte Bildungsbereiche und Beteiligungsoptionen, in denen das Fehlen von Wissen und unterschiedliche Meinungen auch von Autoritätsfiguren wie Lehrpersonen anerkannt werden. In solchen Umgebungen können sie Erfahrungen sammeln, was ihre Selbstwirksamkeit und damit die Bereitschaft, sich weiterhin einzubringen, fördert (Das Bundesamt für Sozialversicherungen 2022). Dieses Projekt ist ein herausragendes Beispiel dafür.
Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus diesem Projekt sind vielfältig. Sie reichen von der Stärkung des politischen Bewusstseins und der Handlungskompetenz der Jugendlichen bis hin zur Verbesserung der Lehrmethoden im Bereich der politischen Bildung.
Franziska Schmid denkt aufgrund der positiven Erfahrung daran, das Projekt wieder durchzuführen und dabei die eigenen Erfahrungen, die Rückmeldungen der Schüler:innen und Kolleg:innen miteinzubeziehen. «Ich kann mir gut vorstellen. In vier Jahren haben wir wieder Wahlen in Hedingen», schmunzelt Rita Sauter.
INFOBOX Die Parlamentswahlen 2023 an der Oberstufe Hedingen waren mehr als nur ein Schülerprojekt; sie waren eine lebensnahe Erfahrung, die den Jugendlichen ermöglichte, die Wichtigkeit und Komplexität demokratischer Prozesse zu verstehen. Durch diese Initiative haben sie nicht nur Wissen und Kompetenzen erworben, sondern auch gelernt, wie wichtig es ist, sich aktiv an der Gestaltung unserer Gesellschaft zu beteiligen.
Zur Autorin
Franziska Kamm hat demokratiepädagogische Schulentwicklung und soziale Kompetenzen an der FU Berlin studiert. Sie ist im Zentrum für Management & Leadership als Lehrgangsleiterin im CAS Quereinstieg Schulleitung tätig und berät Lehrpersonen, Schulleitungen, Behörden sowie Schulen. Sie beschäftigt sich mit der Frage, welchen Beitrag Führung zur Gestaltung, Entwicklung und Realisierung von demokratischen Schulen leisten kann. Sie hat jahrelang ein Ideenbüro geleitet und war in zahlreichen demokratiepädagogischen Projekten aktiv. Die wichtige pädagogische ‘Arbeit’ besteht für sie darin, Gelegenheiten für einen ‘Realitätscheck’ zu schaffen.
Redaktion: Jasmin Kolb
Titelbild: Oberstufe Hedingen
Literaturnachweis
Brückel, F., Guerra, R., Kuster, R., Larcher, S., Spirig, R. & Beuschlein, H. (2023). Schulentwicklung – gemeinsam unterwegs Veränderungsprozesse analysieren, planen und reflektieren (1. Auflage.). Bern: hep verlag. Verfügbar unter: https://www.hep-verlag.ch/schulentwicklung-gemeinsam-unterwegs
Das Bundesamt für Sozialversicherungen, Hrsg. 2022. «Politische Partizipationsformen und Motivation von Jugendlichen sich zu engagieren.», Forschungsbericht Nr. 15/22, www.bundespublikationen.admin.ch.
Kamm, Ivo, Franziska Kamm, und Niels Anderegg. 2023 (im Erscheinen). «Raum für Demokratie und die Rolle der Führung». In Demokratiepädagogik, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion, herausgegeben von Oliver Bokelmann. Wiesbaden: Springer Nature. https://doi.org/10.1007/978-3-658-42649-1.
Wehling, Hans-Georg. 1977. «Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch.» In Das Konsensproblem in der politischen Bildung, herausgegeben von Siegfried Schiele und Herbert Schneider, 173-184. Stuttgart.