Vor einigen Wochen ist das Buch «Leadership for Learning – Gemeinsam Schulen lernwirksam gestalten» erschienen. Im Buch sind verschiedenen Beiträge von den international wichtigsten Forscher:innen in diesem Themenfeld zusammen mit Beispielen aus der Praxis vereint. Niels Anderegg, einer der Herausgeber des Buches, schreibt in diesem Blogbeitrag, was die Leser:innen erwartet.
Unter der Bezeichnung «Leadership for Learning» wird ein Forschungszweig bezeichnet, der untersucht, wie Führung Einfluss auf das Lernen nehmen kann. Damit wird eigentlich eine Selbstverständlichkeit ausgedrückt, da jede Führungsperson in Schulen den Auftrag hat, zum Lernen beizutragen. Es ist jedoch aus zwei Gründen nur eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Einerseits gibt es immer wieder Führungspersonen, welche sich damit begnügen, ihre Schulen zu verwalten. Sie handeln nach dem Motto «wenn ich nichts höre, dann läuft alles rund». «Leadership for Learning» soll dazu beitragen das Professionsverständnis von Schulleiter:innen zu schärfen und darauf zu verweisen, dass das Führen einer Schule das Gestalten hin zu einer lernwirksamen Schule miteinbezieht. Andererseits stellt sich die Frage, wie die Führung einer Schule ausgestaltet werden soll, damit sie lernwirksam sein kann. Eine Schule lernwirksam führen zu wollen bedeutet noch lange nicht, dass dies auch gelingt. Führungspersonen benötigen dazu Instrumente und Modelle, welche sie in ihrem Bestreben hin zu einer lernwirksamen Schule unterstützt. Dieses Motiv nimmt das Buch auf und hat den Anspruch, Führungspersonen von und in Bildungsorganisationen zu helfen, so dass sie lernwirksam führen können.
Im Folgenden sollen kurz die verschiedenen Beiträge vorgestellt werden.
Theoretische Modelle und Konzepte
Im ersten Teil des Buches werden unterschiedliche theoretische Modelle und Konzepte von verschiedenen Wissenschaftler:innen vorgestellt. Dabei ist es den Herausgeber:innen gelungen die international wichtigsten Forscher:innen in diesem Themenfeld für einen Beitrag zu gewinnen.
Beispielsweise zeigen Michael Fullan und Santiago Rincón-Gallardo im ersten Beitrag auf, wie Leadership for Learning als Kompass für die Gestaltung der Zukunft verwendet werden kann. Dazu präsentieren sie das Change-Leadership Rahmenmodell, welches die drei Ziele Lernen, Wohlbefinden und Gerechtigkeit verfolgt. Für die beiden Autoren sind dies die drei Schlüsselthemen, auf welche Schulen in Zukunft noch stärker fokussieren sollten. Hierfür benötigen Schulen eine Einigkeit über gemeinsame Ziele, Kapazitäten zur Zusammenarbeit und kontinuierliches Lernen. Bereits in diesem ersten Beitrag zeigt sich, dass Leadership for Learning nicht nur das Lernen der Schüler:innen, sondern auch dasjenige der Lehrer:innen, der Schulleitung und der ganzen Organisation in den Blick nehmen muss. Ein Anliegen, welches Sue Swaffield und John MacBeath in ihrem Beitrag weiter ausführen. Sie stellen die fünf Prinzipien von Leadership for Learning, welche sie im «Carpe Vitam Leadership for Learning Projekt» ausgearbeitet haben, vor. Dazu gehört auch die gemeinsame Führung und Verantwortung. Die fünf Prinzipien werden heute, wie man in vielen Beiträgen sieht, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis angewendet. Sie dienen Schulleiter:innen und Teacher Leader als Orientierungshilfe, um das eigene Handeln immer wieder zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.
Ein wichtiges und für die Praxis sehr taugliches Modell stellt Tony Townsend in seinem Beitrag über den Einfluss der Schulleitung auf die Lese- und Schreibfähigkeit von Schüler:innen vor. In Folge der schlechten Pisa-Resultate hat die Australische Regierung ein Projekt zur Erhöhung der Lese- und Schreibfähigkeiten von Schüler:innen in Auftrag gegeben. Das Projekt hat jedoch nicht bei den Lehrer:innen, sondern bei den Schulleitungen angesetzt. Es wurde ein Modell – die Autor:innen sprechen von einem Blueprint – erarbeitet und umgesetzt, welches Schulleitungen ermöglicht, den Lese- und Schreibunterricht zu fördern. Dieses ganzheitliche und empirisch untersuchte Modell lässt sich aber auch auf andere Fächer und Themen des Unterrichtes übertragen und bildet eine ausgezeichnete Vorlage, um lernwirksame Schulführung an der eigenen Schule zu stärken. Im Gegensatz zu den fünf Prinzipien des Carpe Vitam Leadership for Learning Projektes ist das Modell deutlich konkreter.
Ein weiteres im internationalen Diskurs wesentliches Modell, präsentiert Viviane Robinson in ihrem Beitrag zur «Schülerinnen- und schülerzentrierten Führung». Robinson hat in einer Metastudie über die Wirksamkeit von Führung auf das Lernen verschiedene Führungsdimensionen und -kapazitäten herausgearbeitet. Gerade dieses Modell, welches sich für die Praxis effektiv nutzen lässt, war für uns an der PHZH bei der Entwicklung der neuen Schulleitungsausbildung massgebend. Im Modell werden Kapazitäten und Dimensionen benannt, welche für Führungspersonen zentral sind und zu einer hohen Qualität für das Lehren und Lernen an Schulen beitragen.
Der Vielfalt der Modelle, welche im Buch vereint sind, fügt Philipp Hallinger kein weiteres hinzu, sondern kombiniert verschiedene Führungsstile. Für ihn ist Leadership for Learning ein Zusammenspiel von Instructional Leadership, Transformational Leadership und Distributed Leadership. In seinem Beitrag geht er insbesondere auf die Entwicklung eines Führungsmodells ein, welches die Effektivität von Lernen möglichst wirksam unterstützt. Ausgehend von Instructional Leadership, der direkten Einflussnahme der Schulleitung auf den Unterricht, präsentiert er den Wandel des Verständnisses hin zu einem stärkerer gemeinsamen Verantwortung, welche die Lehrer:innen als Expert:innen miteinschliesst. Sein Beitrag kann auch als eine Geschichte über die Auseinandersetzung mit Forschung in diesem Bereich gelesen werden.
Neben vielen internationalen Beiträgen, welche zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht sind, gibt es auch drei Beiträge aus dem deutschsprachigen Raum. Michael Schratz, der auch im Carpe-Vitam-Projekt von John MacBeath mitgearbeitet hat, versteht Leadership for Learning als eine Resonanzbeziehung. Ausgehend von Untersuchungen an Schulen, welche mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurden, wird Leadership for Learning aus phänomenologischer Perspektive untersucht. Führung kann als ein Zusammenspiel unterschiedlicher Facetten verstanden werden. Ein wesentliches Element ist dabei die lernseitige Führungshaltung.
Pierre Tulowitzki, Marcus Pietsch und Sara Köferli geben in ihrem Beitrag einen Überblick über die verschiedenen Arbeiten zu Leadership for Learning – insbesondere auch im deutschsprachigen Raum – und Esther Dominique Klein und Hanna Bronnert-Härle diskutieren zum Schluss die Frage der Übertragbarkeit von Führungskonzepten aus dem englischsprachigen Raum für die Praxis in Schweizer Schulen. Sie runden damit den theoretischen Teil des Buches ab.
Gelebte Praxis und Reflexion
Im zweiten Teil des Buches werden in 12 verschiedenen Beiträgen unterschiedliche Praxen und Anwendungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz präsentiert.
In verschiedenen Beiträgen werden diverse Schulkonzepte vorgestellt. Beispielsweise beschreibt Reinhard Stähling wie die Schule «Berg Fidel» in Münster – vielen wird die Schule durch den gleichnamigen Film bereits bekannt sein – sich hin zu einer integrativen Schule entwickelt hat. Etliche in den verschiedenen Modellen beschriebene Elemente findet man – auch wenn sie nicht explizit genannt werden – im Text. Beispielsweise die Konsensbildung im Kollegium oder die konsequente Ausrichtung an den Bedürfnissen der Schüler:innen. In einem anderen Beitrag beschreibt Clemens Wilhelm wie es gelungen ist ausserschulische Lernorte einzubeziehen und den Wald zum Schulzimmer zu machen. Dabei geht es auch um Netzwerkbildung und die Auseinandersetzung mit Behörden. Eine weitere Schule, die Oberstufe Wädenswil, stellt in einem Beitrag von Paolo Castelli und Vanessa Peng die Gestaltung von Unterricht in Lernlandschaften vor. Entwicklungen von Schulen kann, wie das Beispiel zeigt, auch «bottom-up», das heisst von der Basis her, erfolgen. Dass in der heutigen Zeit Leadership for Learning nicht ohne Digitalisierung gedacht werden kann, zeigt das Beispiel von Lars Ziervogel. In seinem Beitrag zeigt er auf, wie an seiner Schule – der Freiherr von Stein-Schule in Neumünster – wie der Wandel von der analogen zur digitalen Schule gelungen ist. Dazu passt passend ist der Beitrag von Julia Gerick und Pierre Tulowitzki, welche Daten aus der ICILS-Studie mit den Konzepten von Leadership for Learning im Bereich Digitalisierung untersuchten.
Einzelne Beiträge thematisieren Elemente von Schule, die diese zu lernwirksamen Schulen werden lassen. Angelika Knies und Ulrich Gernhöfer zeigen in ihrem Beitrag auf, wie sie an der Anne-Frank Schule in Bargteheide Portfolios eingeführt und damit die Selbstwirksamkeit der Schüler:innen gestärkt haben. Grundlage für diese Entwicklung war, wie sie schreiben, eine Kultur des Ermöglichens. Ein anderes Beispiel beschreiben Björn Maurer und Philipp Zimmer mit ihrem Projekt «Making». Dadurch entstehen an Schule Ermöglichungsräume für Kreativität und das Umsetzen von eigenen Projekten im Sinne der 21st Century Skills. Fehler zu machen, gehört dabei genauso zum Programm, wie davon zu lernen und Neues zu entdecken.
Stärker auf der systemischen Ebene ist der Beitrag von Johanna E. Schwarz und Livia Jesacher-Rössler. Sie beschreiben in ihrem Beitrag wie bei der Einführung der neuen Mittelschule in Österreich das Konzept von Leadership for Learning handlungsleitend war und demnach als Referenzrahmen eingesetzt werden kann. Im Beitrag von Franziska Carl und Tim Hagener wird das Netzwerk «Blick über den Zaun» und die Zusammenarbeit unter den beteiligten Schulen vorgestellt. Am Beispiel der Max Brauer Schule (MBS) in Hamburg wird aufgezeigt, wie Schulen von anderen Schulen lernen können und so Einfluss auf das Lernen aller Beteiligten nimmt. Dass die Förderung des Lernens der Schüler:innen auch das Lernen der Erwachsenen bedingt, zeigt auch der Beitrag von Wolfgang Beywl auf. Mit datengestützter auf den Unterricht zentrierter Schulentwicklung, welche auf den Ergebnissen von John Hattie beruht, blicken Lehrer:innen und Schulleiter:innen auf die eigene Unterrichts- und Leitungspraxis mit dem Ziel, diese weiterzuentwickeln. Der Fokus auf das Lernen der Schüler:innen bedingt auch eine Lernbereitschaft der Erwachsenen. Eine Erkenntnis, welche sich durch viele der Beiträge immer wieder zeigt.
Ein wichtiges Thema, die Frage nach der Chancengerechtigkeit bzw. wie Leadership for Learning in sozialräumlich benachteiligten Schulen umgesetzt werden kann, nehmen Nina Bremm und Kathrin Racherbäumer in ihrem empirischen Beitrag auf. Leadership for Learning meint das Lernen aller Schüler:innen und aus diesem Grund ist es umso wichtiger den Blick auf die Bereiche zu wenden, bei welchen uns Pädagog:innen manchmal Stereotypen im Wege stehen.
Dass mit Leadership for Learning nicht nur auf den Unterricht gezielt werden soll, wird spätestens nach der Lektüre des Beitrages zum Lernen in Tagesschulen klar. Frank Brückel, Reto Kuster, Rachel Guerra und Regula Spirig untersuchen dabei den Lernbegriff und diskutieren, wie dieser sich auf die Gestaltung einer Tagesschule auswirkt. Dabei wird schnell klar, dass nicht nur im Unterricht, sondern während dem ganzen Tag gelernt wird und Leadership for Learning auch diese Aspekte beachten muss.
Leadership for Learning benötigt Teacher Leadership
Leadership for Learning zielt nicht nur auf das Lernen der Schüler:innen, sondern schliesst das Lernen der Erwachsenen mit ein. Schüler:innen in ihrem Lernen zu unterstützen und Schulen lernwirksam zu gestalten bedeutet, dass auch Lehrer:innen, Schulleiter:innen, die ganze Organisation und das System lernen muss.
Beim Lesen der verschiedenen Beiträge wird sehr schnell klar, dass Leadership for Learning auf Teacher Leadership angewiesen ist. Lernwirksame Führung kann nur eine gemeinschaftliche Führung sein, welche neben den formellen Führungspersonen auch informelle miteinschliesst. Die unterschiedlichen Kompetenzen und Begabungen sind nötig, um die gemeinsame Schule lernwirksam zu machen und weiter zu gestalten.
Damit schliesst der zweite Band der Reihe «Führung von und in Bildungsorganisationen» nahtlos an den ersten Band zu «Teacher Leadership – Schule gemeinschaftlich führen» an.
INFOBOX Das Buch «Leadership for Learning – gemeinsam Schule lernwirksam gestalten» wurde von Niels Anderegg, Angelika Knies, Livia Jesacher-Rößler und Johannes Breitschaft herausgegeben und ist im hep-Verlag erschienen. Das Buch ist der zweite Band der Reihe «Führung von und in Bildungsorganisationen». Es kann in jeder Buchhandlung gekauft oder als Open-Access Version frei heruntergeladen werden. Wer sich mit dem Thema «Leadership for Learning» vertiefen möchte, hat dazu die Gelegenheit in einem Modul für Führungspersonen am 6./7. September 2024.
Zum Autor
Niels Anderegg leitet das Zentrum Management und Leadership an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Pädagogische Schulführung, Teacher Leaders und Professionalisierung von Führungspersonen von und in Bildungsorganisationen.
Redaktion: Jasmin Kolb
Titelbild: Niels Anderegg mit dem Buch «Leadership for Learning – gemeinsam Schulen lernwirksam gestalten»